Österreich – das weltbeste Gesundheitssystem?! (ein Blick ins Jahr 2006, als dieser Artikel erschien!)

Das welt­bes­te Ge­sund­heits­sys­tem ist ein ge­lieb­ter und heiß ver­tei­dig­ter My­thos

(Vor fast 20 Jah­ren habe ich das ge­schrie­ben und brin­ge es ohne Ak­tua­li­sie­rung wie­der an die Öf­fent­lich­keit, auch wenn die eine oder an­de­re Zahl sich ver­än­dert haben könn­te – es ist ein­fach Irr­sinn)

Le­se­zeit 6 Min

In Ös­ter­reich wird sei­tens der Po­li­tik gerne davon ge­spro­chen, das welt­bes­te Ge­sund­heits­sys­tem zu haben. Vor gar nicht lan­ger Zeit hat­ten wir noch das sechst­bes­te. Und ohne spür­ba­re Maß­nah­men wurde es bei­nah über Nacht (ei­gent­lich über einen Re­gie­rungs- und Mi­nis­ter­wech­sel) das „beste“. Das Spre­chen in sol­chen Su­per­la­ti­ven ge­hört mitt­ler­wei­le zur Rou­ti­ne der Po­li­tik. Da ist je­doch nicht un­ge­fähr­lich, im Ge­sund­heits­we­sen sogar fahr­läs­sig.

Wei­ter­le­sen: Ös­ter­reich – das welt­bes­te Ge­sund­heits­sys­tem?! (ein Blick ins Jahr 2006, als die­ser Ar­ti­kel er­schien!)

Was be­deu­tet der Su­per­la­tiv „das welt­bes­te“ für das Ge­sund­heits­we­sen? Für viele po­li­ti­sche Ent­schei­dungs­trä­ger in den Län­dern, Kam­mern und den So­zi­al­ver­si­che­run­gen be­deu­tet es, dass es kei­nen ech­ten Re­form­be­darf gibt, ja nicht ein­mal Hand­lungs­be­darf; nur mehr Geld, wenn es denn nötig ist, um „das welt­bes­te“ Sys­tem auf­recht­zu­er­hal­ten. Für die Leis­tungs­er­brin­ger im welt­bes­ten Ge­sund­heits­sys­tem, also vor­nehm­lich Ärzte, kann es nichts an­de­res be­deu­ten, als dass ihre Qua­li­tät auf höchs­tem, al­ler­höchs­tem Ni­veau ist, ihre Leis­tun­gen nicht über­treff­ba­re Re­sul­ta­te er­zie­len und daher – auch wenn we­ni­ge ein­zel­ne viel­leicht we­ni­ge ver­nach­läs­sig­ba­re Feh­ler ma­chen – keine we­sent­li­chen Ver­bes­se­run­gen mög­lich sind. Es be­steht also ein Mi­lieu, in dem es keine Feh­ler gibt und keine Feh­ler zu­ge­ge­ben wer­den brau­chen. Für die Pa­ti­en­ten be­deu­tet es, dass das, was sie in Ös­ter­reich er­hal­ten, nir­gend­wo in der Welt bes­ser er­bracht wer­den kann, und das noch dazu „gra­tis“ („There is free lunch in Aus­tria?!“). Egal wo auf die­ser Welt man hin­gin­ge, es würde nicht bes­ser sein, aber ganz si­cher teu­rer. In die­sem Glau­ben wer­den Pa­ti­en­ten zu un­kri­ti­schen Kon­su­men­ten. Und die In­for­ma­ti­ons­asym­me­trie zwi­schen Arzt und Pa­ti­ent, die so oft als Be­grün­dung für das Bei­be­hal­ten des Pflicht­ver­si­che­rungs­sys­tems an­ge­führt wird und als Basis der so­ge­nann­ten Selbst­ver­wal­tung dient, wird immer grö­ßer statt klei­ner. Und alle zu­sam­men wie­gen sich in der trü­ge­ri­schen „feh­ler­lo­sen“ Si­cher­heit des an­geb­lich bes­ten Sys­tems der Welt.

In den letz­ten Wo­chen wurde be­kannt, dass wie­der ein Kind an den Kom­pli­ka­tio­nen einer Man­del­ope­ra­ti­on starb, und wenn man den Me­di­en glau­ben schen­ken will, dann war es in­ner­halb eines Jah­res das sechs­te Kind – das ist sehr viel. Wenn man be­denkt, dass es in die­sem Zeit­raum in etwa 9.000 Man­del­ope­ra­tio­nen gab, dann be­deu­tet das, dass die Sterb­lich­keit an Kom­pli­ka­tio­nen we­nigs­tens in die­sem Jahr bei eins zu 1.500 lag. In der Li­te­ra­tur fin­det man eine Sterb­lich­keits­ra­te von 1/16.000 bis 1/35.000 (Clin Oto­la­ryn­gol 2000; 25 : 110-7). In Ita­li­en, das, wenn Ös­ter­reich wirk­lich das beste Ge­sund­heits­sys­tem der Welt hat, ein schlech­te­res haben muss, stirbt gar nur ein Pa­ti­ent pro 95.000 Ope­ra­tio­nen (Pe­d­iatr Med Chir. 2004 May-Jun;26(3):179-86). Im bes­ten Sys­tem der Welt soll­te man daher höchs­tens einen To­des­fall in vier bis zehn Jah­ren zu be­kla­gen haben; sechs Tote in einem Jahr sind nicht ein­mal dann zu er­klä­ren, wenn das letz­te Jahr ein sta­tis­ti­scher Aus­rei­ßer wäre.

Die wich­tigs­te Kom­pli­ka­ti­on und damit auch To­des­ur­sa­che Num­mer eins bei Man­del­ope­ra­tio­nen ist die Nach­blu­tung. Sie tritt bei 3% bis 4% aller Pa­ti­en­ten auf. An den Nach­blu­tun­gen ent­brennt ak­tu­ell auch die Dis­kus­si­on, ob man die Kin­der län­ger im Spi­tal las­sen soll­te, um die Sterb­lich­keit zu re­du­zie­ren. Eine ei­gen­ar­ti­ge Maß­nah­me, denn mehr als 80% aller Nach­blu­tun­gen tre­ten in­ner­halb der ers­ten 4 Stun­den nach der Ope­ra­ti­on auf. Ein Ver­gleich der Be­hand­lungs­er­geb­nis­se und Kom­pli­ka­ti­ons­ra­ten in an­de­ren Ge­sund­heits­sys­te­men zeigt, dass so­wohl die ta­ges­kli­ni­sche als auch die sta­tio­nä­re Be­hand­lung die glei­chen Re­sul­ta­te er­bringt. (Jour­nal of Pe­d­iatric Otor­hi­no­la­ryn­go­lo­gy, Vo­lu­me 68, Issue 11, Pages 1367-1373 (No­vem­ber 2004)). Wenn man aber an das Kind denkt und die psy­chi­sche Be­las­tung, die jede sta­tio­nä­re Be­hand­lung nach sich zieht, dann ist die Ent­schei­dung für die ta­ges­kli­ni­sche Be­hand­lung ei­gent­lich lo­gisch – we­nigs­tens in an­de­ren Ge­sund­heits­sys­te­men ist das so.

Wenn man ge­fähr­li­che Nach­blu­tun­gen ver­mei­den will, dann soll­te man an­de­re Maß­nah­men set­zen, als den sta­tio­nä­ren Auf­ent­halt zu ver­län­gern. In Ita­li­en, das mit einem To­des­fall pro 95.000 Ope­ra­tio­nen wahr­schein­lich die beste Ver­sor­gung für seine Be­völ­ke­rung be­reit­stellt, wer­den bei­spiels­wei­se nur 11 Ope­ra­tio­nen pro 10.000 Ein­woh­ner durch­ge­führt. In Ös­ter­reich sind es 67. Kann es sein, dass die Ös­ter­rei­cher wirk­lich fast 7mal öfter ope­riert wer­den müs­sen; oder wird in Ös­ter­reich zu schnell zum Mes­ser ge­grif­fen? Als Ar­gu­ment für den schnel­len Griff zum Mes­ser wird gerne an­ge­führt, dass eine ge­plan­te Ope­ra­ti­on viel we­ni­ger Kom­pli­ka­tio­nen hat, als wenn man in eine ver­ei­ter­te Man­del hin­ein­ope­rie­ren muss. Das stimmt lei­der nicht (Acta Oto­la­ryn­gol. 2005 Dec;125(12):1312-7). Ge­nau­so in das Reich der Mär­chen ist die Aus­sa­ge zu ver­ban­nen, dass mit der Man­del­ope­ra­ti­on häu­fi­ge Hals­ent­zün­dun­gen oder Mit­tel­ohr­ent­zün­dun­gen ver­mie­den wer­den kön­nen (La­ryn­go­scope. 115(4):731-734, April 2005; Arch Dis Child.2005; 90: 19-25). Ge­nau­ge­nom­men, gibt es bei einer so hohen Sterb­lich­keits­ra­te, wie sie in Ös­ter­reich be­ob­ach­tet wird, gar keine Be­grün­dung für eine Man­del­ope­ra­ti­on. Will man also Nach­blu­tun­gen wirk­lich ver­hin­dern, dann müs­sen die Ope­ra­tio­nen auf das me­di­zi­nisch not­wen­di­ge Maß re­du­ziert wer­den, nicht die sta­tio­nä­ren Auf­ent­hal­te ver­län­gert!

Aber auch eine zu­sätz­li­che Maß­nah­me könn­te hel­fen, die Sterb­lich­keit zu re­du­zie­ren. Dafür ist je­doch ein re­al­po­li­ti­sches Un­wort zu ver­wen­den: Zen­tra­li­sie­rung. Es ist in an­de­ren Ge­sund­heits­sys­te­men nach­ge­wie­sen wor­den, dass es eine Er­fah­rungs­wert­kur­ve für die Man­del­ope­ra­ti­on gibt. Und noch mehr. Die Nach­blu­tungs­ra­te bei Pa­ti­en­ten, die durch einen ge­üb­ten Kran­ken­haus­arzt be­han­delt wur­den, ist halb so hoch, wie die bei Kon­si­li­ar­ärz­ten oder As­sis­tenz­ärz­ten (Acta Oto­la­ryn­gol. 2005 Dec;125(12):1312-7). In Ös­ter­reich wer­den Man­del­ope­ra­tio­nen in so gut wie jedem Spi­tal an­ge­bo­ten, un­ab­hän­gig ob es dort eine HNO-Ab­tei­lung gibt oder nicht. In der Regel sind es Kon­si­li­ar­ärz­te die in den „klei­nen“ Spi­tä­lern die Ope­ra­ti­on durch­füh­ren. Das Spi­tal und in der Regel auch die Po­li­tik be­trach­tet das als so­ge­nann­te wohn­ort­na­he Be­hand­lung. Sie zie­hen so den zen­tra­len HNO-Ab­tei­lun­gen die Fälle ab. Doch selbst wenn die Fälle in HNO-Ab­tei­lun­gen be­han­delt wür­den, ge­hört die Man­del­ope­ra­ti­on bei HNO-Spi­tals­ärz­ten nicht ge­ra­de zu den be­lieb­tes­ten und wird er­fah­rungs­ge­mäß gerne von den Ober­ärz­ten an die As­sis­tenz­ärz­te ab­ge­tre­ten.

Aber weder eine OP-Re­duk­ti­on noch eine Zen­tra­li­sie­rung sind Maß­nah­men, die in un­se­rem Ge­sund­heits­sys­tem dis­ku­tiert wer­den. Müs­sen Sie ja auch nicht, weil man ja davon aus­ge­hen kann, dass die ös­ter­rei­chi­schen Daten, die des bes­ten Ge­sund­heits­sys­tems der Welt sind und einem Ver­gleich mit an­de­ren nicht be­dür­fen.

Lei­der ist zu sagen, dass es nicht nur die Man­del­ope­ra­tio­nen sind, an denen man, wenn man ge­nau­er schau­te, man­ches fest­stel­len könn­te. Ein an­de­res Bei­spiel ist etwa die Blind­darm­ope­ra­ti­on. Es gilt als ge­si­chert, dass pro 100.000 Ein­woh­nern etwa 85 Blind­darm­ent­zün­dun­gen auf­tre­ten (Dig Surg 2001;18:61–66). Da man im Falle eines Ver­dachts auf Blind­darm­ent­zün­dung be­reits ope­rie­ren soll­te, ist es in­ter­na­tio­na­ler Stan­dard, dass etwa 20% der ent­fern­ten Blind­där­me keine Ent­zün­dung ge­habt haben dür­fen – nicht mehr. Die Dia­gno­se­mög­lich­kei­ten sind heute so­weit aus­ge­reift, dass, legt man es dar­auf an, die­ser Wert sogar auf 10% ge­senkt wer­den kann (Ra­dio­lo­gy 2003;226:101-104). Damit würde man er­war­ten, dass in einem guten Ge­sund­heits­sys­tem nicht mehr als 95 – 100 Blind­darm­ope­ra­tio­nen pro 100.000 Ein­woh­ner durch­ge­führt wer­den. In Ös­ter­reich, dem Land in dem sehr, sehr viele „klei­ne“ Kran­ken­häu­ser um ihre Recht­fer­ti­gung kämp­fen, wer­den 175 Ope­ra­tio­nen pro 100.000 Ein­woh­ner durch­ge­führt. Viel­leicht liegt es ja an einem un­be­kann­ten, ös­ter­reichspe­zi­fi­schen epi­de­mio­lo­gi­schen Pro­blem, dass in Ös­ter­reich so viele Ope­ra­tio­nen nötig wer­den. Ob dann je­doch die Ope­ra­ti­on die rich­ti­ge Maß­nah­me wäre, um die­sem Pro­blem zu be­geg­nen? Soll­te es die­ses un­be­kann­te Pro­blem al­ler­dings nicht geben, liegt der Ver­dacht nahe, dass auch im Fall der Blind­darm­ope­ra­tio­nen das Mes­ser zu schnell ein­ge­setzt wird. Zwar lie­gen aus Ös­ter­reich keine Daten über die Sterb­lich­keit im Rah­men einer Blind­darm­ope­ra­ti­on vor, aber aus an­de­ren Ge­sund­heits­sys­te­men weiß man, dass bei einer von 400 Ope­ra­tio­nen etwas so dras­tisch schief geht, dass der Pa­ti­ent stirbt (An­nals of Sur­ge­ry. 233(4):455-460, April 2001). In Ös­ter­reich wer­den etwa 14.000 Blind­darm­ope­ra­tio­nen pro Jahr unter dem Titel Blind­darm­ent­zün­dung durch­ge­führt. Das sind ver­gli­chen mit an­de­ren Ge­sund­heits­sys­te­men jähr­lich 6.000 Ope­ra­tio­nen mehr als er­war­tet. Und 6.000 durch 400 sind 15!

Ähn­li­ches ließe sich auch für Herz­ka­the­ter-Un­ter­su­chung, eine Be­hand­lung mit einer Sterb­lich­keit von einem Pro­zent, sagen, die in Ös­ter­reich ein­ein­halb mal so oft durch­ge­führt wird, als die Krank­heits­häu­fig­keit er­war­ten ließe – viel­leicht des­we­gen, weil wir auch dop­pelt so viele Un­ter­su­chungs­plät­ze haben als wir bräuch­ten? Oder die Kom­pli­ka­ti­ons­ra­ten und die Kran­ken­haus­ver­weil­dau­er bei en­do­sko­pi­schen Gal­len­bla­sen­ope­ra­tio­nen, die höher lie­gen als in allen an­de­ren Ge­sund­heits­sys­te­men – viel­leicht des­we­gen, weil es halt auch zu viele, zu klei­ne chir­ur­gi­sche Ab­tei­lun­gen gibt?

Kann es viel­leicht doch sein, dass das „welt­bes­te“ Ge­sund­heits­sys­tem struk­tu­rel­le Pro­ble­me hat? Und genau diese Frage ist es, die man in Ös­ter­reich nicht stellt, ja nicht stel­len darf, weil man ja das beste Ge­sund­heits­sys­tem der Welt hat. Soll­ten sol­che Fra­gen trotz­dem auf­tau­chen, dann muss man das Do­ku­men­ta­ti­ons­we­sen so um­stel­len, dass die In­trans­pa­renz steigt und man sich so leich­ter hin­ter der Aus­re­de „die Zah­len stim­men doch alle nicht“ ver­ber­gen kann. In­trans­pa­renz ist ein her­vor­ra­gen­des In­stru­ment zur Her­stel­lung und Be­wah­rung von Il­lu­sio­nen. Sei­tens aller Teil­neh­mer, vom Pa­ti­en­ten bis zur Ge­sund­heits­mi­nis­te­rin, ist es un­er­wünscht, das am My­thos „wir haben das welt­bes­te Ge­sund­heits­sys­tem, und das sogar gra­tis“ ge­rüt­telt wird. Dabei täte es dem ös­ter­rei­chi­schen Ge­sund­heits­sys­tem gut, ein biss­chen wis­sen­schaft­lich fun­dier­te Selbst­kri­tik zu üben. Würde eine sol­che Kri­tik mög­lich sein, könn­te es nicht nur einen Quan­ten­sprung in der Qua­li­tät und Pa­ti­en­ten­si­cher­heit be­deu­ten, son­dern pa­ra­do­xer­wei­se sogar güns­ti­ger wer­den. Und nur dann und auch nur viel­leicht be­steht die Mög­lich­keit das beste Ge­sund­heits­sys­tem zu wer­den. Sein tut es das be­stimmt nicht, und gra­tis ist es eben­so wenig!

Es dauert alles viel zu lange

   Po­li­ti­ker den­ken nicht dar­über nach, was die Zö­ger­lich­keit bei ge­sund­heits­po­li­ti­schen Ent­schei­dun­gen für Le­bens­pla­nun­gen be­deu­tet.

Wei­ter­le­sen: Es dau­ert alles viel zu lange

   1986 woll­te ich nach der Ma­tu­ra ein Jahr frei­wil­lig zum Bun­des­heer – wenn schon, denn schon. Aber, da­mals kam die Dis­kus­si­on auf, dass die Wehr­pflicht ab­ge­schafft wer­den soll­te, die wegen Pe­res­troi­ka und Glas­nost nicht mehr nötig sei. Dar­auf­hin ent­schied ich, zu­erst zu stu­die­ren und ab­zu­war­ten. Ich habe also eine weit­rei­chen­de Ent­schei­dung ge­trof­fen, da die Po­li­tik mir miss­ver­ständ­li­che Si­gna­le gab. Denn, die Wehr­pflicht wurde nicht ab­ge­schafft, aber es wurde wei­ter­dis­ku­tiert. Eine end­gül­ti­ge Ent­schei­dung gab es erst 2013 – und zwar ir­gend­wie ab­surd, denn die Ab­schaf­fung ginge des­we­gen nicht, weil das So­zi­al­sys­tem mitt­ler­wei­le auf die quasi Zwangs­ar­beit von Zi­vil­die­nern an­ge­wie­sen sei. Ich denke, kei­nem Po­li­ti­ker war klar, dass Le­bens­pla­nun­gen an Ihrer Un­ent­schlos­sen­heit aus­ge­rich­tet wer­den muss­ten, aber nicht konn­ten!

   Und in der Ge­sund­heits­po­li­tik?

   Be­trach­ten wir die Ju­bel­mel­dung, dass die E-Me­di­ka­ti­on 2022 ein­ge­führt sein soll. Die Dis­kus­si­on dar­über hat An­fang des 21. Jahr­hun­derts be­gon­nen. 2012 wurde per Ge­setz die Ein­füh­rung der E-Me­di­ka­ti­on bis zum 31.12.2014 be­schlos­sen – und das Ge­setz dann ein­fach igno­riert. Was für ein Si­gnal? Un­ter­neh­men, die sich mit damit be­schäf­tig­ten, tra­fen Ent­schei­dun­gen, in­ves­tier­ten und stan­den am Ende vor der Tat­sa­che, dass nichts wei­ter geht. Und jetzt, wird es wirk­lich 2022 so­weit sein?

   Oder die Lehr­pra­xis für an­ge­hen­de Haus­ärz­te? Die dis­ku­tie­ren wir seit den 1970ern (!). Seit da­mals ist klar, dass die spi­tals­las­ti­ge Aus­bil­dung nicht gut ist, will man Haus­ärz­te aus­bil­den und mo­ti­vie­ren, Haus­ärz­te zu wer­den. Seit da­mals wird auch über die Auf­wer­tung der Haus­arzt­me­di­zin ge­re­det, etwa in dem diese als Spe­zi­al­aus­bil­dung (Fach­arzt) aus­ge­baut wird – 2018 (!) wurde die Fi­nan­zie­rung der Lehr­pra­xis ge­ra­de ein­mal für die nächs­ten zwei Jahre be­schlos­sen, die An­er­ken­nung als Fach­ärz­te ist wei­ter weit weg, das Thema wei­ter­hin offen. Was soll sich ein jun­ger Arzt den­ken? Dass Haus­arzt wer­den Zu­kunft hat?

   Ein an­de­res Bei­spiel ist die Kin­der-Re­ha. Die mas­si­ve Un­ter­ver­sor­gung wurde 1999 fest­ge­stellt, dann end­los dis­ku­tiert, und erst 2019 wer­den Re­ha­zen­tren in Be­trieb gehen – wie viele Ärzte haben sich wohl in den ver­gan­ge­nen 20 Jah­ren spe­zia­li­siert und dann was an­de­res ma­chen müs­sen, weil es keine Be­rufs­aus­sich­ten gab? Von den Kin­dern, die wir be­hin­dert ins Er­wach­se­nen­le­ben ent­las­sen haben ganz ab­ge­se­hen.

   Oder Pal­lia­tiv­ver­sor­gung? Um 2000 be­gann das Thema auf­zu­tau­chen und bald waren alle ob der Zu­stän­dig­kei­ten zer­strit­ten – um die­sen (un­wür­di­gen) Streit zu lösen, wurde eine ge­mein­sa­me Stra­te­gie zur ab­ge­stuf­ten Pal­lia­tiv­ver­sor­gung be­schlos­sen – das war 2005. Und heute?

   Die Re­gel­ver­sor­gung für Kin­der exis­tiert wei­ter­hin nicht, son­dern hängt von Pri­vat­in­itia­ti­ven und Spen­den ab, 14 Jahre nach einer „vor­ge­spiel­ten“ Ei­ni­gung. Wie viele In­itia­ti­ven wur­den da wohl ein­ge­stellt, weil eine po­li­ti­sche Ei­ni­gung nie in der Wirk­lich­keit an­kom­men muss.

   Ich denke, po­li­ti­sche Eli­ten den­ken gar nicht mehr dar­über nach, was ihre In­ef­fek­ti­vi­tät be­deu­tet, wie viel Le­bens­pla­nun­gen sie ver­un­mög­licht und wie viel Frust dar­aus er­wächst.

„Wie­ner Zei­tung“ vom 14.02.2019  

Fehlsteuerung und Fehlbelegung

Ob­wohl wir viele Kran­ken­häu­ser haben, wer­den echte Not­fäl­le immer schwie­ri­ger ver­sorgt wer­den kön­nen – dank der Fehl­steue­rung und der Re­form­ver­wei­ge­rung.

Es ist unter der Woche, vor­mit­tags, als ein sicht­lich kran­ker Mitt-Fünf­zi­ger mit blas­sem Ge­sicht und ste­chen­den Schmer­zen vom Hals bis zum Kreuz die Am­bu­lanz eines gro­ßen Wie­ner Spi­tals be­tritt. Rasch er­ken­nen die Ärzte die Si­tua­ti­on: Der Mann hat ein Aor­ten­a­neu­rys­ma. So eine Dia­gno­se ist ein Alp­traum, denn in der In­nen­schicht der Haupt­schlag­ader hat sich ein Riss ge­bil­det, durch den sich nun das Blut in die Wand der Ader wühlt und sie so spal­tet. Der hohe Druck führt dazu, dass die so ver­dünn­te Wand sich immer stär­ker dehnt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie platzt. Pas­siert das, dann ver­blu­tet der Pa­ti­ent in­ner­halb kür­zes­ter Zeit. Die ein­zi­ge Chan­ce ist eine Not-Ope­ra­ti­on, die so groß und schwer ist, dass man, wenn man über­lebt, pos­tope­ra­tiv auf eine In­ten­siv­ab­tei­lung muss.

Wie­wohl ein gro­ßes Spi­tal, ist es für so eine Ope­ra­ti­on nicht aus­ge­rüs­tet, also be­gin­nen die Ärzte zu te­le­fo­nie­ren. Doch in ganz Wien will den Pa­ti­en­ten nie­mand haben. Die OPs seien alle be­legt oder es sei kein In­ten­siv­bett frei! Man be­ginnt au­ßer­halb zu su­chen – und wird fün­dig in St. Pöl­ten. Jetzt noch rasch einen Hub­schrau­ber be­stellt und alles wird gut! Falsch! Denn bei der Flug­ret­tung er­fährt man, dass alle Hub­schrau­ber be­setzt sind, frü­hes­tens in 70 Mi­nu­ten wird einer frei! So­viel Zeit ist nicht, also legt man den Mann in eine Ret­tung und fährt mit Blau­licht nach Nie­der­ös­ter­reich.

Was aus dem Mann ge­wor­den ist, weiß ich nicht. Aber ver­wun­dert hat mich das alles schon. Wie wahr­schein­lich ist es, dass in ganz Wien kein OP oder In­ten­siv­bett für sol­che Not­fäl­le frei ist? Rech­ne­risch ge­ring. Wir sind gut aus­ge­stat­tet mit OPs und ver­gli­chen mit an­de­ren Län­dern haben wir viele In­ten­siv­bet­ten. Gut, es war Vor­mit­tag, und nach­dem un­se­re OPs nur vor­mit­tags be­nützt wer­den, ist klar, dass dann alle im Voll­be­trieb sind – haupt­säch­lich mit ge­plan­ten Rou­ti­ne­e­in­grif­fen. Aber warum war kein Hub­schrau­ber frei?

Was ist pas­siert? Es kom­men ei­gent­lich nur zwei Er­klä­run­gen in Frage. Die erste ist zy­nisch. Sie würde be­deu­ten, dass so schwe­re Pa­ti­en­ten, wenn mög­lich, ab­ge­lehnt wer­den. Das will ich aus­schlie­ßen. Die zwei­te Er­klä­rung ist aber nicht viel bes­ser.

Durch das Fi­nan­zie­rungs­sys­tem ge­ra­ten die Häu­ser immer mehr unter Druck. Statt Ka­pa­zi­tä­ten für Not­fäl­le frei zu hal­ten, müs­sen sie da­nach trach­ten, mög­lichst voll zu sein. Leere Bet­ten, vor allem auf In­ten­siv­ab­tei­lun­gen, kos­ten nur und brin­gen nichts. Also „stopft“ man rein, was geht – ob nötig oder nicht.

Und wie ist das mit der Ret­tung? Ähn­lich! Auch hier wird es für die Be­trei­ber immer schwie­ri­ger, Hub­schrau­ber her­um­ste­hen zu las­sen. Da fliegt man dann schon lie­ber jede Ba­ga­tel­le. Wenn dann wirk­lich ein Not­fall auf­taucht, braucht es nie­man­den wun­dern, wenn kein Hub­schrau­ber frei ist.

Und so er­klärt sich alles. Ob­wohl ei­gent­lich genug Ka­pa­zi­tä­ten da wären, sind diese für Not­fäl­le immer schwie­ri­ger zu er­hal­ten. Skur­ri­ler­wei­se würde eine Er­hö­hung gar nichts brin­gen. Mehr In­ten­siv­bet­ten oder Hub­schrau­ber wür­den nur dazu füh­ren, dass die „Fehl­be­le­gung“ zu­nimmt, weil die Prei­se sin­ken und so die Be­trei­ber zwin­gen, die Aus­las­tung wei­ter zu er­hö­hen; das geht aber nur mit plan­ba­ren Pa­ti­en­ten, nicht mit Not­fäl­len.

Hel­fen würde eine Än­de­rung der Fi­nan­zie­rung und das wie­der­um geht nur, wenn die Kom­pe­ten­zen end­lich kla­rer struk­tu­riert wer­den – weil das aber nicht pas­siert, sind die ers­ten „Opfer“ der Re­form­ver­wei­ge­rung echte Not­fäl­le.

Die­ser Ar­ti­kel wurde im Juli 2009 in ähn­li­cher Form in der Wie­ner Zei­tung ver­öf­fent­licht.