Die PVE-Giganten

Mit 300 PVEs sollten 2,5 bis 3 millionen Österreicher versorgt werden. Das verkündete Andreas Huss in der Pressestunde vom 27.10. 2024.

Wenn solche Zahlen genannt werden, ist es schwer diese einzuordnen, und damit Zeit ein paar versorgungswissenschaftlich Daten einzubringen.

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Beginnen wir mit Überlegungen zum Einzugsgebiet. Das ergibt sich durch schlichte Division und beträgt daher zwischen 8.000 und 10.000 Einwohnern.

Einzugsgebiete in Einwohner anzugeben ist eigentlich keine moderne Herangehensweise, aber es ist aktuell die einzige, die wir haben. In Ländern mit gutem Primary Health Care, gibt es Einschreibeverfahren und Listen. Hier wird die Listengröße pro Vollzeit-Hausarzt vorgegeben – und zwar i.d.R. als Maximalwert. Wir haben keine Listen, daher eben Einzugsgebiete mit den Maßzahlen Einwohner und seit 2024 (ÖSG_2023_-_Textband,_Stand_15.12.2023; 2.2 Planungsgrundlagen und Richtwerte; S 36 ) auch Erreichbarkeit; erstere muss 2.000 überschreiten zweitere soll 10 Minuten im Straßen-Individualverkehr unterschreiten,.

Eingehalten werde diese „Empfehlungen“ eher nicht, wie die Verteilung zeigt. Im Durchschnitt gibt es pro 2.250 EW einen Kassen-AM, die Schwankung reicht von 1.700 im Burgenland zu 2.700 in Wien und regional sogar von 1.600 bis 3.000 EW. All das kann man aus den verschiedenen ÖSG-Tabellen (mühsam) ausrechnen.

Nun, bezogen auf die PVE-Aussage ist es also nicht klar, wieviele Hausärzte hier pro PVE angesetzt werden. Den Vorgaben entsprechend, dürften nicht mehr als 4 bis 5, dem Durchschnitt entsprechend 3,6 bis 4,4 Stellen dort bestehen. Das ist sehr verwunderlich. Denn, bis dato galt, dass sich mindestens 3 Kassen-Hausärzte finden müssen, um ein PVE zu gründen. Weil das nicht so funktioniert hat, dürfen hinkünftig auch 2 ein PVE gründen. Dass es also in den angedachten plötzlich 4+ geben soll, ist jedenfalls nicht einfach nachzuvollziehen.

Wieviele Ärzte aktuell in den bestehenden PVEs  tätig sind, weiß vermutlich niemand, weil über Vertretungsregeln und Turnusärzte die Zahl der Vollzeithausärzte pro Einrichtung vermutlich stark verzerrt ist, und genaueres niemand wissen will.

Wichtiger als die Listengröße, oder das theoretische Einzugsgebiet ist in der Literatur jedoch die Panelgröße. Das ist im Grunde die Zahl der behandelten Individuen, die aus dem Einzugsgebiet oder der Liste entstanden sind – unabhängig der Zahl der Kontakte. Die Panelgröße zeigt also, wieviel Patienten ein Hausarzt pro Jahr behandelt oder behandeln soll. Die Zahl wird international diskutiert, und wird irgendwo zwischen 1.200 und 1.900 liegen. Hintergrund der Diskussion ist die Inhomogenität bezüglich Morbidität und Sozioökomie in den Listen, bzw. Einzugsgebieten. Wo Menschen kränker sind, muss das Panel kleiner werden, wo sie gesünder sind kann es größer werden. Um dafür sinnvolle Berechnungsmethoden zu entwickeln werden verschieden Bewertungskriterien erprobt.

In Österreich gehen etwa 80% der Einwohner wenigstens einmal zum Hausarzt (Bundeszielsteuerungsvertrag  S.49), womit das Panel im Durchschnitt 1.800 beträgt (80% von 2.250). Im Burgenland ist zwar der Anteil der Menschen der einen Hausarzt aufsucht höher, die Panelgröße aber wegen der hohen Hausarztdichte nur 1.450. Anders in Wien, dort beträgt die Panelgröße 2.160, ist also 50% größer. Demnach müssten, wenn hinter diesen Zahlen Planung steckte, Wiener deutlich gesünder sein als Burgenländer. Anderenfalls ist es eben Willkür. Anhand der Zahlen  sieht man aber bereits das wir eher an der oberen Grenze der Empfehlungen agieren, oder dieses sogar überschreiten.

Damit eine Panelgröße zwischen 1.200 und 1.900 qualitativ gut abgearbeitet werden kann, geht man von 3 bis 4 Arztkontakten pro Patienten und Jahr aus.

Gerechnet wird da aber von der anderen Seite – und zwar vom Arzt weg. Pro Arbeitstag und Vollzeithausarzt sollten zwischen 20 und 25 Patientenkontakte stattfinden. Denn die besten Ergebnisse werden erzielt, wenn der Kontakt zwischen 10 und 15 Minuten dauert, und der Arzt nicht länger als 50 Stunden pro Woche arbeitet. Die Hälfte der Arbeitszeit wird durch Administration, Fortbildung etc. verbraucht, die andere durch direkten Patientenkontakt. Werden mehr als 25 Stunden mit direktem Patientenkontakt pro Woche verbracht, werden beide Seiten, also sowohl Arzt als auch Patient, unzufrieden und damit sinkt die Qualität. Sinkt die Qualität, werden Patienten häufiger zu Fachärzten überwiesen, die Compliance bei chronisch Kranken sinkt und erzeugt Folgeprobleme, wie etwa vermeidbare Krankhausaufenthalte, etc. Das ist alles sehr gut untersucht.

Und hier kommt dann „unser“ Modell ins Spiel.

Pro Patient hatten wir 2021 (so kann man aus dem Bundeszielsteuerungsvertrag errechnen) im Schnitt 11 Hausarztkontakt pro Jahr. Im Burgenland waren es 12,5. Und weil dort die Panelgröße 1450 beträgt, hat ein Hausarzt jährlich 18.000 Patientenkontakte. Auf 250 Arbeitstage runtergebrochen sind das 72 täglich. Also das dreifache von dem was als Obergrenze empfohlen ist. Wien liegt mit 10 Arztkontakten pro Patienten deutlich niedriger. Aber bei einer Panelgröße von 2.160 steigt die Zahl der jährlichen Patientenkontakte auf 21.100 oder 85 Patienten pro Tag. Mit dem Patientenbedarf hat das alles nichts zu tun

Entsprechend der internationalen Studienlage müssten wir bei solchen Zahlen erwarten, dass es eben zu einer erhöhten Inanspruchnahme der Sekundärversorgungsstufe, sprich ambulante fachärztliche Versorgung, und in weiterer Folge eine hohe Hospitalisierungsrate kommt. 52 mio Kassen-Facharztbesuche ,18 mio in der Spitalsambulanz, und die höchste Krankenhaushäufigkeit Europas beweisen das. Und um in Wien zu bleiben – dort sind die Facharztkontakte häufiger als die Hausarztkontakte – ein absolutes und weltweites Unikum, vermute ich.

Wenn also von 300 PVEs für 2,5 bis 3 mio Einwohner gesprochen wird, die zur Stärkung des niedergelassenen Bereichs und der Entlastung der Ambulanzen dienen sollen, dann wäre es sehr spannend, ob diese PVEs auf einen für diese Ziele vernünftigen Workload kommen – also irgendwo bei 20 bis 25 Patientenkontakte pro Arzt und Arbeitstag. Dann allerdings sind nach aktuellem Stand entweder 50 Arztkontakte pro Tag durch andere Berufsgruppen zu ersetzen (was mit unserem Arztvorbehalt kaum denkbar ist) oder aber ein PVE, braucht 15 Ärzte – und das wären eben echte PHC-Giganten

Wenn dem Bio-Psycho-Sozialen das Psycho-Soziale fehlt

Primary Health Care ist mehr als Allgemeinmedizin oder Primärversorgungseinheiten

Eine 75 jährige, seit 6 Monaten verwitwet, kommt ein bis zwei Mal pro Woche zum Hausarzt. Was könnte das Problem sein? Selbst Laien antworten schnell mit „Einsamkeit“ oder „Trauer“. Und das ist es wohl in der Regel auch.

An dem Punkt stellen sich zwei Fragen: 1. Warum Hausarzt? 2: Was kann der tun?

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Die erste Frage ist leicht beantwortet. Traurig und einsam zu sein, fühlt sich ungesund an. Der Mensch fokussiert sich dann auf alle möglichen Symptome – und geht damit zum Arzt.

Die zweite Frage ist schon schwerer zu beantworten. Therapie gibt es eigentlich keine, es sei denn, die Trauer ist derart stark, dass sie einen therapierbaren Krankheitswert hat und so einen sozialversicherungsrechtlichen Fall auslöst. Dann könnte eine Verschreibung eines Antidepressivums oder eine Überweisung zu einem Psychiater erfolgen. Aber in der Regel ist das nicht nötig. Andere Leistungen sind jedoch im Katalog des Hausarztes nicht enthalten, können nicht enthalten sein, weil die Krankenkassen für Krankheiten zuständig sind. Trauer und Einsamkeit sind meist keine Krankheit -und dann eigentlich kein Fall für den Arzt. Der Patient sitzt allerdings bei ihm?

Ein weiteres Beispiel

Wer Durst hat, der geht zur Wasserleitung und trinkt. Doch was, wenn er nicht gehen kann? Sollen wir Durst, ein gesundheitliches Problem, nicht adressieren und warten bis daraus eine Dehydration entstanden ist, um sicher zu stellen, dass der Patient nun sicher krank und damit Leistungen an ihm versichert sind? Wer aber übernimmt Organisation und Kosten für die pflegerische Betreuungsleistung, damit die Dehydration NICHT eintritt?

Und genau an solchen Punkten scheitert in Österreich die Idee des Primary Health Care (PHC), bzw. die Umsetzung der Idee mit stark regulierten PVEs.

PHC arbeitet mit dem sogenannten bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell der WHO das gesundheitlichen Probleme (also nicht nur Krankheiten) der Bevölkerung in einem definierten Einzugsgebiet adressiert.

Hier geht es um mehr als nur die Behandlung einer biologischen Fehlfunktion, also einer Krankheit, sondern auch um deren Bedeutung und Querverbindung in und mit der Umgebung und der Psyche.

PHC ist also ein Prozess, der nicht zwischen Sozial- und Gesundheitssystem unterschiedet. Die Trennung zwischen gesundheitlichen Problemen, die tendenziell dem Sozialsystem zugerechnet werden und Krankheiten, die ins Gesundheitssystem fallen, muss aufgehoben werden. An dieser Grenze, die jährlich millionenfach berührt ist, dreht sich, demographiebedingt, im Grunde alles. Wer an der Grenze versucht, durch zentrale Regularien, Mirkomanagement zu betreiben, etwa durch das Honorarsystem der Krankenkassen oder strikten Personalvorgaben des Bundes für PVE, wird scheitern. Zu vielfältig ist die Welt des PHC.

Statt Mikromanagement Flexibilität, statt zentral dezentral – Im Grunde geht es darum, rund um definierte Einzugsgebiete (rund um einen Hausarzt, der nicht mehr als 1.500 EW versorgen sollte) auf Gemeindeebene Koalitionen der Willigen zu bilden und einfach anzufangen. Ärzte, Pflegekräfte, Apotheker, Therapeuten, Betreuungsdienste sollen sich zusammentun, und tun was das sie für das Beste halten. Idealerweise unter der Moderation der Bürgermeister. Denn, was wo wie funktioniert ist kaum und schon gar nicht zentral planbar. Und es gibt auch keine Garantie, dass eine Maßnahme zum Erfolg führt. Try and Error, und die Hoffnung, dass irgendwer daraus lernen will, sind so ziemlich die einzige Option. Kluge Gesundheitspolitik würde daher die PHC-Ebene deregulieren, und dafür Ergebnisse messen und fordern.

First Published im PERIskop

Totgeburt des PHC-Gesetzes? Ein Erfolg für wen?

(Lesezeit 14 Minuten) Einigermassen verwirrend sind die Aussagen der Ärztekammer, bzw. dessen Kurienobmann Dr. Steinhart, zum nun in Begutachtung gegangenen Primärversorgungsgesetz (PVG) . Angeblich wurde es wesentlich verbessert und ein Verhandlungserfolg erzielt, weil „Patienten nicht plötzlich ihren Vertrauensarzt verlieren und Ärzten die Standort- und Planungssicherheit erhalten bleibt.

Ganz so aber kann das nicht sein, denn die als Erfolg verkauften Tatsachen, wie der Erhalt des Gesamtvertrags oder die Bevorzugung von Kassenärzten vor Ambulatorien waren bereits im ursprünglichen Entwurf.

Warum also eine Verbesserung?

Wirklich geändert haben sich drei Dinge – und die sind in Kombination meines Erachtens als Misserfolg zu werten, wenn es darum geht eine Stärkung der Hausärzte erreichen zu wollen. Wenn es darum geht, aus dem Entwurf eine Totgeburt zu machen, dann allerdings war es ein Erfolg.

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Das PHC-Gesetz und seine Feinde

(Lesezeit 4 Min) Obwohl niemand den Entwurf zum Primärversorgungsgesetz 2017 (PVG) gekannt hat, war klar, er ist böse. Deswegen mobilisiert die Niedergelassenen-Kurie gleich und ruft einen Krisengipfel ein!

Und da wird auch nicht mit Drohgebärden gespart:

„So könnte z.B. Ihr bestehender Kassenvertrag sehr einfach gekündigt werden, wenn etwa in Ihrer Region eine PVE gegründet wird.“

Oder es „würde außerdem die Tür für private Investoren, staatliche Institutionen oder auch Krankenkassen, sich an Primärversorgungseinrichtungen zu beteiligen, weit aufgestoßen.“

„Die dort bezahlten Honorare sollen zukünftig auch nicht mehr Bestandteil des Gesamtvertrages sein. Die Folge wäre wohl massives Tarif-Dumping“

Überhaupt würden Ärzte „zu abhängigen Gesundheitsdienstleistern“ und reinen „Normunterworfenen“ degradiert

Dass alles „ist ein Mix aus ehemaliger DDR und US-amerikanischer Profitprivatisierung. Dieses US-DDR-Modell ist eine von privaten Konzernen und/oder der öffentlichen Hand geführte Miniambulanz, anonym und nicht unbedingt mit den engagiertesten oder mit gut bezahlten MitarbeiterInnen besetzt.“

Jedes irgendwie populistische und angstmachende Klischee wird bemüht, egal wie absurd oder gelogen!

Denn was steht wirklich im Entwurf?

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„Krisengipfel der Ärztinnen und Ärzte zur Gesundheitsreform“

Da die Bundeskurie der niedergelassenen Ärzte zu einem Krisengipfel aufruft, weil das PHC-Gesetz für Patientinnen und Patienten, aber auch für Ärztinnen und Ärzte spürbare Verschlechterungen mit sich bringen soll, obwohl kaum jemand diesesn Entwurf gesehen hat, hier ist der Entwurf – es soll sich jeder ein Bild machen.

Ich finde, dass der Entwurf zwar noch einige Fallstricke hat (v.a. dort, wo er auf RSGs reflektiert, deren Qualität in der Vergangenheit mäßig waren) aber in Summe eine echte Aufwertung aller Hausärzte, die ihren Job ernst nehmen, mit sich bringen kann.

M.M.n wurden sowohl die Gefahren eines „Ausverkaufs“ an Investoren, als auch die der Übernahme der Primärversorgung durch unpersönliche Kassenambulatorien adressiert. Zudem ist ein vernünftiger Übergang vom derzeitigen System zu einem echten PHC angedacht. Ein neues Honorarsystem wird die Arbeit deutlich erleichtern und alle, die wollen werden die Möglichkeit haben, richtige Hausarztmedizin zu leben.

Die einzige Frage für mich ist, werden Ärztekammerfunktionäre in Brachialopposition verharren, oder im Sinne der Kassen-Hausärzte den Prozess gestalten

Hier der PHC-Entwurf_9_2_2017 als PDF

 

Sollten Fragen dazu auftauchen, die ich beantworten kann, werde ich gerne auf Facebook darüber diskutieren.

 

PS: Und nein, ich habe weder an der Entwicklung dieses Entwurfs mitgearbeitet noch bin ich sonst irgendwie damit verbunden – ich beurteile den Entwurf nach dem, was die Literatur über PHC sagt und in wiefern das im Entwurf berücksichtigt ist

 

Kassen, Kammern, Ambulatorien, der Gesamtvertrag und die PHC-Zentren

(Lesezeit 4 Min) Ärztekammern, Krankenkassen und Ambulatorien; ein Streit der praktisch so alt ist wie die zweite Republik und in der PHC-Diskussion gerade wieder aufflammt

 

Herbst 1955 – Seit kurzem gibt es den Staatsvertrag, die Besatzungsmächte sind noch nicht vollständig abgezogen, da wird das ASVG, zur Abstimmung gebracht. Und fast typisch, trotz zehn Jahren Verhandlung, kommt eine, wie ein Stenographisches  Protokoll zeigt, schnell zusammengezimmerte „Zwischenlösung“ zur Verlesung, weil wenige Tage davor ein Aufstand der Wiener Ärztekammer zu Änderungen zwang.

Um was es ging? Um Ambulatorien und Kassenplanstellen.

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Primary Health Care – wieder einmal

Obwohl die Idee 100 Jahre alt ist und seit fast 40 Jahren zum Standard gehört, können wir nicht einmal richtig über Erstversorgungszentren reden.

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   Egal wer in der Gesundheitspolitik das Wort Primary Health Care (PHC) in den Mund nimmt, verwendet es so, dass sich tunlichst die eigene Klientel in den Aussagen wiederfindet; Inhalt ist egal. Es ist diese faktenfreie und populistische Art, die unser durchpolitisiertes Gesundheitswesen endlos lähmt.

   Eines der am öftesten vorgebrachten Argumente in der PHC-Diskussion ist, dass man nicht viel ändern, gar nichts Neues erfinden und schon gar nicht PHC-Zentren errichten muss – denn wir haben ja seit eh und je eine Primärversorgung und eine sehr gute dazu.

   Solche Aussagen stimmen, überlegt man, wie PHC international konzipiert ist, so gar nicht. Aber natürlich findet in Österreich Primärversorgung statt. Das geht gar nicht anders, weil Menschen, die sich mit einem gesundheitlichen (das ist mehr als nur medizinisch) Problem an professionelle Hilfe wenden, dies immer bei irgendwem als Erstes, also primär, machen müssen. Es ist unmöglich, sein Problem beim ersten Mal gleich zum zweiten Mal zu erzählen.

   Die Frage ist jedoch, wer ist der Erste? Und wie geht der mit dem Problem um? Gibt es so etwas wie eine Struktur oder eine Idee, wie „Erstansprechpartner“ miteinander zusammenarbeiten? Wenn es die gibt, dann spricht man international von PHC, wenn es die nicht gibt, dann ist das eben eine andere Form der Erstversorgung, aber kein PHC.

   Wenn nun die Ärztekammer, als Monopolwächterin ärztlicher Tätigkeit, laut und immer wieder verkündet, dass Kassen-Hausärzte (ob nun alleine oder in einer Gruppenpraxis) PHC anbieten, dann ist das falsch, soll aber nur der eigenen Klientel sagen – wir brauchen keine Änderungen, denn so wie es ist, ist es gut.

   In der Folge halten Hausärzte überzeugt fest, sie machen seit eh und je PHC (in der Regel ist so eine Aussage verbunden mit der Einladung, sich doch mal in die Ordination zu setzen, um zu sehen, wie es wirklich ist).

    Aber das ist falsch. Was Hausärzte machen, ist meist Erst-Behandlung. In vielen, vielleicht den meisten, Fällen ist der Primärversorger jemand anderer, denn oft werden Patienten von anderen Berufsgruppen, die die wirklich ersten Ansprechpartner waren (Apotheker, Pflegekräfte) zum Hausarzt „überwiesen“. In so einem F all wäre der Hausarzt der Zweitversorger, selbst wenn er weiter Primär-Behandler bleibt, sofern es um eine (Be-)Handlung geht, die unter ärztlichem Vorbehalt steht.

   Gute Behandlung heißt, die richtige Handlung vorzunehmen. Gute Versorgung heißt, den richtigen Patienten zur richtigen Zeit zum richtigen Arzt (international wird vom richtigen Gesundheits-Professionisten gesprochen) zu bringen. PHC ist eben kein Behandlungs-, sondern ein Versorgungskonzept, das versucht, die Behandlung so wohnortnah wie möglich zu organisieren.

    Wenn wir nicht endlich beginnen, den Unterschied zwischen Versorgung und Behandlung in die Diskussion aufzunehmen, wenn wir nicht endlich beginnen, gesundheitliche Probleme nicht mit medizinischen gleichzusetzen, dann ist diese ganze PHC-Diskussion völlig sinnlos.

„Wiener Zeitung“ Nr. 111 vom 09.06.2016     

75.390 Unterschriften gegen Dumpingmedizin

Faktenfreies Diskutieren ist gesundheitspolitischer Sport. Die faktenfreie Mobilisierung der Ärztekammer gegen das PHC-Gesetz ist aber bedenklich.

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   „Die Gesundheitspolitik schafft mit dem PHC-Gesetz eine gefährliche Parallelstruktur, welche Schritt für Schritt die Hausärzte ersetzen soll und eine Dumpingmedizin erschafft – der billigste Preis und nicht die beste Patientenversorgung stehen hier im Vordergrund“, „75.390 Unterschriften sind für uns ein klarer Auftrag, den Hausarzt zu stärken und dieses PHC-Gesetz mit allen Mitteln zu verhindern.“

   Erstaunlich, aktuell gibt es noch nicht einmal einen Gesetzesentwurf. Was es gibt, ist ein Verhandlungsentwurf, und der ist Gerüchten zu Folge dermaßen geheim, dass er nur in Papierform mit persönlicher Kennzeichnung übergeben wurde, und auch von der Ärztekammer nicht veröffentlicht wird.

   Das ändert nichts daran, dass der Vizepräsident der Ärztekammer Johannes Steinhart, eine Kampagne fährt. Die Ärzte wurden per Rundschreiben über das Gesetz, das „alle Befürchtungen der Ärztevertretung bestätigt“, informiert. Die wiederum dürften Patienten informiert haben, was zur Folge hatte, dass 75.390 Menschen gegen etwas unterschrieben, das sie nicht kennen; das praktisch niemand kennt, von dem aber sicher sei, dass es zum Untergang der besten Patientenversorgung und dem Aussterben der Hausärzte führen könnte.

   Was will die Ärztekammer retten? Die Hausärzte? Die Patientenversorgung? Was sagen die Fakten?

   Laut Gesundheitsbefragungen 2007 und 2014 (dazwischen gab es keine) ist die Quote der Bevölkerung über 60, die wenigstens einmal einen Hausarzt aufsuchte, von etwa 90 auf auf 80 Prozent gesunken – man meint das ist nicht schlimm, aber das ist falsch: Menschen dieser Altersgruppe brauchen Ärzte. Weil ich gerne mit Dänemark vergleiche: Dort gehen 95Prozent zu ihrem Hausarzt. Wo gehen die österreichischen Patienten hin? Genau, zum Facharzt. Haben 2007 etwa 42 Prozent der Österreicher über 60 einen (Wahl-)Facharzt aufgesucht, sind es 2014 sagenhafte 67 Prozent (Ausdruck der zunehmenden Beliebtheit der Wahlärzte, die in öffentlichen Statistiken verleugnet wird). Zum Vergleich, in Dänemark waren nur 46 Prozent der Bevölkerung über 60 bei einem Facharzt. Bei den unter 60-Jährigen ist es noch deutlicher: Dänemark: 25 Prozent, Österreich 61 Prozent.

   Hätten wir das dänische Versorgungssystem, das ein gut ausgebautes PHC hat, wären 762.000 Österreicher (über 15) 2014 zusätzlich zum Hausarzt gegangen, dafür aber 2,4 Millionen nicht zum Facharzt.

   Bedenkt man, dass Dänen ungefähr gleich viel Geld ausgeben, aber deutlich seltener zum Arzt gehen, weiß man, warum dort Ärzte zufrieden sind. Sie haben pro Patient mehr Zeit. Und weil Dänen über 65 noch 13 gesunde Lebensjahre vor sich haben, Österreicher aber nur 9, sind auch Patienten zufrieden.

   Wenn nun erklärt wird, dass mit allen Mittel das PHC-Gesetz verhindert werden muss: Ist es, um den Hausarzt zu stärken und die beste Patientenversorgung zu retten?    PS: Wenn die Zahl der Facharztbesuche angestiegen ist, sind die Spitalsambulanzen entlastet worden? Nein, auch hier gibt es 50 Prozent Steigerung: 2014 sind 32 Prozent der Österreicher über 15 wenigstens einmal in einer Ambulanz gewesen, in Dänemark nur 22 Prozent

„Wiener Zeitung“ Nr. 074 vom 15.04.2016    

Die Schlacht um Primary Health Care

Um Primary Health Care einzuführen, müssten Ärztekammern, Länder und Krankenkassen eine gemeinsame Idee haben.

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    Primary Health Care (PHC) ist keine österreichische und auch keine neue Idee. 1920 wurde bereits festgehalten, dass eine sinnvolle und gerechte Gesundheitsversorgung nur funktioniert, wenn möglichst viele gesundheitlichen Probleme (das ist mehr als Krankenbehandlung) möglichst dezentral gelöst werden. Die abgestufte Versorgung war geboren und damit die Primärversorgung als Stufe eins vor Sekundär- (ambulant tätige Fachärzte) und Tertiärversorgung (Spitäler). Und um möglichst viele gesundheitlichen Probleme zu lösen, versteht die Welt unter PHC die koordinierte und strukturierte Primärversorgung mit Leistungen der Prävention, Behandlung und Pflege – also mehr als Ärzte alleine leisten können und die derzeitige Gesetzeslage erlaubt. Doch vor allem die Ärztekammer will an dieser Lage nichts ändern, wie die letzten Entwicklungen zeigen.

   23. Februar: Die Kurie der niedergelassenen Ärzte, Machthaberin innerhalb der Ärztekammer in allem, was Kassenärzte betrifft, stellt ihre „Primärversorgung 2020“ vor. Ob es tatsächlich ein Konzept ist oder nur Presseunterlagen existieren, ist unklar. Was vorgestellt wurde, ist eine Art „Kassen-Hausärztliche Krankenbehandlungsorganisations-Phantasie“, weit weg von dem, was die Welt außerhalb der Ärztekammer als PHC versteht – aber eben das, was möglich wäre, ohne eigenes PHC-Gesetz.

   2. März: In Wien soll nach mehr als einem Jahr politischen Hickhacks ein zweites PHC-Zentrum, das „PHC SMZ-Ost“, kommen. Ein Fortschritt, meint man, wenn da nicht mit der Jubelmeldung auch mitgeteilt worden wäre, dass das erste PHC-Zentrum „Maria Hilf“ angeblich 0,83 Prozent der Wiener versorgt, man also dem Gesundheitsreformziel „ein Prozent der Bevölkerung in PHCs zu behandeln“ nahe ist. 0,83 Prozent sind 14.500 Menschen. Im ärztekämmerlich geduldeten „Maria Hilf“ arbeiten drei Hausärzte, macht pro Arzt 4800 Einwohner. Wenn dort PHC passiert, dann mit weltweit einzigartiger Effizienz; international schaffen ein Arzt und sein Team (das größer ist als das in Maria Hilf) gerade 1500 bis 1800 Einwohner. Geht es wirklich um PHC oder nur darum, ein Scheitern der Reform zu verbergen?

   8. März: Überraschend wird gemeinsam von Ärztekammer, Wiener Gebietskrankenkasse und Stadt das „Wiener Modell“ präsentiert. Ein gewaltiger Sprung, möchte man meinen. Die „Drei“ wollten ganz ohne ominöses PHC-Gesetz zeigen, dass man kann, wenn man will. In Hinblick auf das kommende wohl nur ein politischer Schachzug, denn:   

13. März (ein Sonntag): Die Kurie der niedergelassenen Ärzte hat den für alle anderen streng geheimen Entwurf zum PHC-Gesetz öffentlich kommentiert, mit brachialen Worten: Das Ende der Hausärzte sei eingeläutet, mit Dumping-Preisen, Dumping-Gehältern und letztlich der systematischen Übernahme des Gesundheitsmarktes durch internationale Konzerne und Bauunternehmen sei zu rechnen. Alles in allem eine „Zumutung der Ministerin hinsichtlich einer bestmöglichen Patientenbetreuung“. Ist das wirklich so? Oder geht es nur um Macht und persönliche Eitelkeiten? Jedenfalls ist die Diskussion weiter inferior – und echtes PHC sehr weit weg

„Wiener Zeitung“ Nr. 053 vom 17.03.2016