Soll der Hausarzt eigentlich das „Haus“ behalten?

Der „Best Point of Service“ soll gefunden werden. In etwa 95% bis 99% aller Krankheitsfälle, die ja anfangs der Patient und nicht ein Arzt definiert, ist und bleibt es der Hausarzt – wenigstens theoretisch – Eine launig-traurige Betrachtung!

Wird die Rolle richtig definiert, gehört es, neben der Unterscheidung zwischen Harmlosem und potentiell Gefährlichem und der Motivierung des Patienten, Therapien einzuhalten, zu den wichtigen Aufgaben des Hausarztes, die beunruhigenden Wehwehchen zu erklären und zu beruhigen, dass alles wieder wird. Die wichtigsten therapeutischen Maßnahmen sind dabei gutes Zureden, das Abwarten und das Beobachten.

Die meisten Sonderleistungen die in den 14 Honorarkatalogen der Krankenkassen (viele davon sind online abrufbar) zu finden sind, sind dabei eher unpraktisch, ja unbrauchbar. Diese Kataloge sind etwas für Fachärzte. Es kommt also nicht von ungefähr, dass 2010 der durchschnittliche Umsatz pro E-Card-Konsultation beim Hausarzt 14,23 Euro beträgt, während der Facharzt 44,20 Euro erreicht (errechnet von der ÖÄK, in den Unterlagen zum Ambulanzmodell – bei mir bestellbar).

Will ein Hausarzt von seiner Tätigkeit leben (und zwar ohne das Zusatzeinkommen einer Hausapotheke, über das ja nur ein Viertel der Kassenhausärzte verfügt), wird er auf Masse spielen müssen  -was echt schlecht für ein Hausarztsystem ist.

Aber weil es so ist wie es ist, ist es logisch, dass ein durchschnittlicher Hausarzt 16.000 E–Card-Konsultationen pro Jahr abarbeitet. Da nehmen sich die 8.700 E-Card-Konsultationen beim Facharzt richtig bescheiden aus.

Umgerechnet auf ein Arbeitsjahr mit 212 Arbeitstagen (das entspricht der Arbeitszeit eines normalen Angestellten) hat ein Hausarzt täglich 75 Patienten zu betreuen. Gut, dass wohl ein großer Teil der Patienten den Arzt nicht sieht, sondern die Rezepte von der Sprechstundenhilfe verlängert werden. Anders ist so eine Arbeitsbelastung nicht zu bewältigen.

Eine durchschnittliche Ordination muss, damit ein Hausarzt ohne Hausapotheke etwa 3.000 bis 3.500 Euro netto pro Monat, 14mal pro Jahr bei 5 Wochen Urlaub und zwei Wochen Krankenstand und einer 40 Stunden-Woche, verdient, 150 Euro Umsatz pro Stunde machen. Solange das Wartezimmer gut gefüllt ist, es also zwischen den Patienten keine Leerläufe gibt und die Ordination 8 Stunden täglich geöffnet hat, ist das machbar – natürlich nur, wenn man pro Patient nur wenige Minuten Zeit benötigt, um ihn wieder los zu werden.

Ist das unser Bild des Hausarztes? Ist das die gewünschte Realität? Und, ist es nicht logisch, dass die Ambulanzen voll von Selbstzuweisern sind?

Ein wesentlicher und immer wichtiger werdender Teil der ambulanten Primärversorgung ist die mobile medizinische Versorgung – also Hausbesuche.

Dieses Wissen ist alles andere als neu. Ein funktionierendes Primary Health Care – das ja vom Gesetzgeber jetzt aufgebaut werden soll –  arbeitet nicht nur nach dem biologischen Krankheitsbegriff, es hat viel mehr das bio-psycho-soziale Krankheitsbild zu berücksichtigen. Anders ausgedrückt, der Patienten muss in seiner Lebenswirklichkeit erfasst werden – und die ist nun einmal nicht das Wartezimmer.

Wie fördert nun das aktuelle System diese mobile Versorgung?

Um Hausbesuche zu machen, muss man Wege zurücklegen – und glücklicherweise wird das auch bezahlt: im Schnitt mit  90 Cent pro Auto-km. Zieht man das amtliche Kilometergeld, das für die Erhaltung der Fahrzeugs gebraucht wird, ab, kennt man den Umsatz des Arztes durch Sitzen im Auto – und das sind dann je nach Krankenkasse, zwischen 20 und 70 Cent pro gefahrenem Kilometer.

Weil gerade Fasching war, rechnen wir das mal um.

Will man die 150 Euro Umsatz pro Stunde erreichen (in der Ordination ist das ja machbar, Hausbesuche sind wirtschaftlich also nur interessant, wenn sie ähnlich Umsatzstark sein können, es also nicht zu Opportunitätskosten kommt), dann sollte man schon ordentlich Gas geben.

Tagsüber wäre in der Steiermark eine Geschwindigkeit von 732 km/h nötig, das ist sicher ein Ausreißer – oder doch nicht? In Oberösterreich wären 613 km/h und  in Niederösterreich 423 km/h angebracht. Tirol ist mit 319 km/h richtig moderat – wohl wegen der kurvigen Bergstraßen.

Nächtens dürfen die Ärzte dann ein bisschen bummeln – in der Steiermark reichen 288 km/h in Tirol gar nur 161 km/h.

Dafür muss man in Tirol gut zu Fuß sein. Dort wo man nicht mit dem Auto hinkommt, kann man Gehzeiten verrechnen – und wenn man es schafft mit 84 km/h mutig durch die Bergwelt zu stapfen, dann erreicht man seinen Zielumsatz. In anderen Bundesländern geht es schon fast menschlich zu, aber unter 40 km/h (das sind die 100m in 9 Sekunden) sollte man trotzdem nirgends fallen, sonst wird der Hausbesuch ein Verlustgeschäft.

Zum Patienten zu kommen und trotzdem davon leben zu können, ist mit den heutigen Transportmitteln und unter den gegebenen Strassenbedingungen schon sehr sehr schwer – vielleicht ist ja dann der Hausbesuch lukrativ und kompensiert die Verluste durch An- und Abfahrt.

Und ja, das geht, allerdings nur, wenn Besuche (Umsatz etwa 28 Euro) schnell erledigt sind – also Fieber- und  Blutdruck messen geht sich aus, Abhören muss man schnell, reden sollte man nicht zu lange. Dauert ein Hausbesuch länger als 8 Minuten wird er zum Verlustgeschäft. Rechnet man jetzt die Zeitverluste durch An- und Abfahrt ab, wird wohl nur ein superschneller Kurzauftritt möglich sein. Und unter uns –  Sooooo wichtig kann Blutdruckmessen auch wieder nicht sein, Abhören wird sowieso allgemein überschätzt, und dass das Reden mit Patienten was nützt, dafür gibt es keinerlei Evidenz (Sarkasmusfalle!).

Am Wochenende und an Feiertagen liegt der Umsatz mit knapp über 30 Euro pro Hausbesuch etwas höher – das ist gut, dann kann man sich ein paar Sekunden länger mit dem Patienten beschäftigen, oder hat Zeit seinem Ehepartner zu erklären, dass man jetzt leider nicht mit den Kindern weiter spielen kann. Und wenn man nachts ausrückt, dann hat man, dank des durchschnittlichen Honorars von 50 Euro auch noch Zeit sich anzuziehen, ohne gleich Verluste zu machen.

Recht eindeutige Belege dafür, dass Hausärzte angehalten werden, ihre Rolle als Primärversorger wahrzunehmen – also darauf zu schauen, dass Patienten so selten wie möglich durch das Gesundheitssystem wandern und wenn dann nur in die Hausarztordination – sind heutzutage nicht zu finden. Sieht man von der intrinsischen Motivation der Hausärzte ab (und Gott sein Dank ist die enorm groß), fördern die externen Bedingungen eher das rasche Versenden der Patienten zu Fachärzten und Spitalsambulanzen, und geben dem Patienten soviel Anreize wie möglich, diese selbst aufzusuchen – ohne den Hausarzt vorher zu belästigen.

Will man also den theoretischen „Best Point of Service“ (wieder) haben, wird man sich einiges einfallen lassen müssen: die Zahl der behandelten Patienten pro Tag und Arzt muss auf 30 sinken, Hausbesuche zu allen Tages und Nachtzeiten müssen lukrativer sein, als in der Ordination auf Patienten zu warten – und dort sollte der finanzielle Anreiz so sein, dass Patienten Termine kriegen, statt Wartezeiten in kauf zu nehmen.

All das wären Forderungen, die für die Versorgung sinnvoll wären, aber aktuell nicht gehört werden. Stattdessen besteht die Forderung nach 1000 neuen KassenFACHärzten – Faschingsscherz?

 

Primary Health Care – eine kleines Lehrstück

Von offizieller Seite wird verbreitet, der Ruf nach der Aufwertung der Hausärzte ist nur dazu da, dass diese mehr Geld verdienen – ein Hinweis auf mangelndes Verständnis.

Primary Health Care (PHC) ist, obwohl schon dreißig Jahre alt und das wohl erfolgreichste Versorgungskonzept moderner Gesundheitssysteme, hierzulande fast unbekannt, und wenn überhaupt, dann gerade mal als Hausarztmodelle im Gespräch.

Die Idee war so einfach wie genial: Um ein vernünftiges Gesundheitssystem errichten zu können, sollte man möglichst viele Gesundheitsprobleme – was sehr viel mehr ist, als nur Krankheitsprobleme – wohnortnah zu lösen versuchen; wohnortnah beginnt übrigens in den vier Wänden des Patienten, eine Spitalsambulanz ist nie wohnortnah, egal wie viele Spitäler auch herumstehen.

Es war von Anfang an klar, dass Heilbehandlung nur ein Teil des PHC ist. Daher war es immer schon ein interdisziplinärer Ansatz. Es ging um ambulante, wohnortnahe medizinische, pflegerische und therapeutische Betreuung der Bevölkerung durch ein PHC-Team. In diesem Team sollten neben dem Hausarzt (der die wichtigste Rolle spielen sollte) Physiotherapeuten genau so arbeiten wie Pflegefachkräfte, Sozialarbeiter und Psychologen. Und das Spektrum der rein ambulanten Versorgung sollte von der Prävention über Rehabilitation (auch für alte Menschen!) bis zu Pflege reichen.

Es ist verblüffend, was mit solchen Teams erreicht werden kann. Die Zahl der Spitalsaufenthalte sinkt genau so, wie die der Überweisungen zum Facharzt. Die Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen werden seltener. Die Patienten, vor allem wenn sie chronisch krank sind, leben länger und bei besserer Gesundheit, und jene Krebsformen, die man bei Früherkennung gut behandeln kann (z.B.: Brust-, Dickdarmkrebs aber auch den schwarzen Hautkrebs und andere) bringen weniger Menschen um. Und als ob das nicht genug wäre, sinken mit der Einführung auch die Gesamtkosten der Gesundheitsversorgung.

Nun, es gibt einige Eckpunkte, die, will PHC funktionieren, nicht wegdiskutiert werden können.

Da wäre beispielsweise die Sache mit der Bedarfsprüfung. Wenn es eine solche nicht gibt, oder diese, à la Österreich ein politisches Gemauschel ist, dann wird die Verteilung der Hausärzte – wie ja zu sehen ist – inhomogen und der Zugang zu Versorgung diskriminierend sein; beides doch eher schlecht!

Auch muss es spezifische, auf den Bedarf ausgerichtete Ausbildung geben, sowohl für Hausärzte als auch alle anderen Berufsgruppen, die im PHC arbeiten sollen. Nun, es reicht bereits ein kleiner Blick in die Turnusarztdiskussion, um zu sehen, dass die Ausbildung unserer Hausärzte auf alles, nur nicht auf Ihre eigentliche Rolle ausgerichtet ist. Und fehlt der Hausarzt, kann es auch kein PHC-Team geben.

Übrigens müssen für ein funktionierendes PHC Hausärzte mehr verdienen als Fachärzte. Hierzulande verdienen sie aber nur 60 Prozent ihrer Fachkollegen. Was für ein Anreizsystem!

Für Patienten sollten alle Leistungen unentgeltlich – also öffentlich finanzierte Sachleistungen – sein. Hierzulande, sehen wir vom Arzt ab, sind alle anderen Leistungen direkt zu bezahlen – die pflegerischen genau so wie die sozialarbeiterischen und die psychologischen sowieso. Außer man geht ins Spital, da sind die Leistungen dann „gratis(?)“.

Und warum gibt es bei uns kein funktionierendes PHC? Warum sind unsere Hausärzte so „abgewertet“? Nun, um das alles umzusetzen braucht man echte und am Gesamtsystem interessierte Entscheidungsstrukturen – und darin mangelt es hierzulande wohl am meisten.

Dieser Artikel wurde im September 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Hausarztmodelle – schön und gut!

Hausarztmodelle können nur funktionieren, wenn die Kompetenzen dort, wo sie wirken sollen, bereinigt werden – dazu braucht es Gemeinden, Länder, verschiedene Ministerien, Kassen – und mutige Politiker.

Als ich für „Die Zeit“ einen Artikel zum Thema SVA schreiben sollte, verwendete ich das Wort: „Hausarzt-Modelle“. Der Redakteur teilte mit, das müsse erklärt werden, weil das niemand verstehe. Wenigstens das dürfte sich anlässlich der jetzigen Diskussion ändern. Mit etwas Glück schafft es das Thema zu einer gewissen Breitenakzeptanz.

Es ist an der Zeit zu fragen, warum es die nicht hat und warum hierzulande erst etwas diskutiert werden muss, das anderswo bereits seit Jahrzehnten gute Praxis ist.

Schauen wird einfach in die Realität. Unser „Bild“ vom Hausarzt stammt aus den Nachkriegsjahren. Damals herrschte Ärztemangel, vor allem bei Fachärzten. Um die Versorgung aufrechtzuerhalten, durften Praktiker quasi alles. Und selbst in den 1980er Jahren gab es noch Landärzte, die Geburten machten. Unser Hausarzt war also sehr breit aufgestellt – und das lange Zeit zu recht.

Aber seit wenigstens zwanzig Jahren ist das anders. Die Ärztedichte ist international am höchsten, und Spitalsambulanzen liefern eine Spezialversorgungsbreite, wie sonst nirgendwo. Es ist nicht mehr nötig, dass Hausärzte „alles“ können und dürfen. Zudem hat sich die Bevölkerungsstruktur geändert. Solange die Bevölkerung „jung und gesund“ war, musste der Hausarzt anderes leisten als heute, wo zunehmend alte, und immobile Patienten zu versorgen sind.

Kurz, das „alte“ Bild vom Hausarzt hat ausgedient. Und hier kommen wir zum Kernproblem. Die Politiker wissen einfach nicht, was sie mit dem Hausarzt noch anfangen sollen. Genau genommen, braucht man keine mehr (glaubt man!). Und aufbauend auf einem Gesetz (ASVG), dass niemand mehr versteht, und von Einzelinteressen zur Fratze verzerrt wurde, ist die Entwicklung eines „neuen“ Bildes kaum möglich.

International will man von Hausarztmodellen, dass möglichst viele gesundheitlichen Probleme vor Ort adressiert werden. Das Stichwort ist gesundheitlich – kein Wort von medizinisch, denn das wäre eine Einschränkung, die nicht funktioniert. Hausärzte (mit ihren Ordinationen) sollten niedrigschwellige Leistungen aus allen Bereichen der Gesundheitsversorgung, von Prävention bis zur Pflege, anbieten (nicht bloß koordinieren!) können, nicht nur Heilbehandlung, wie es das ASVG vorsieht.

Prävention für alte Menschen (z.B.: Heimhilfen, damit Patienten nicht wegen häuslicher Verwahrlosung krank oder zum Pflegefall werden), die eben die wichtigste Patientengruppe heute darstellen, hat mit Heilbehandlung wenig zu tun, ja selbst Rehabilitation, wenn sie darauf abzielt, alte Menschen möglichst lange in ihrer Selbstständigkeit zu unterstützen (z.B. aktivierende Pflege) ist ihr nicht zuzurechnen. Und trotzdem gehören all diese Dinge zum „Hausarzt“, wie er sein sollte. Aber genau dort besteht ein Kompetenzwirrwarr zwischen Gemeinden, Länder, verschiedenen Ministerien, Kassen und wer weiß wem sonst noch. Dass hier ein Hausarzt wirklich steuernd eingreifen kann, setzte eine Strukturreform voraus.

Der Erfolg eines Hausarztmodells wird u.a. daran gemessen, ob unnötige Spitalsaufenthalte und Facharztüberweisungen weniger werden. Damit werden die Interessen der Länder und Fachärzte direkt betroffen – Einsparungen könnten zu ihren Lasten gehen. Es ist schwer vorstellbar, dass das dem Hausarzt in der Realität „erlaubt“ würde – ohne Strukturreform.

Will man also wirklich Hausarztmodelle, muss man das System umbauen – alles andere wäre eine „österreichische“ Lösung!

Dieser Artikel wurde im Juli 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.