Missverständnisse: Versorgung≠ Behandlung – Anekdote ≠ Statistik

(Le­se­zeit 2 Min) Grund­los füh­len sich Ärzte oft be­lei­digt: ein wei­te­rer Ver­such Miss­ver­ständ­nis­se rund um Sys­tem-, Ver­sor­gungs- und Be­hand­lungs­eben (Ma­kro- Meso- Mir­ko­ebe­ne) auf­zu­klä­ren.

Ver­sor­gung be­schäf­tigt sich nicht mit ein­zel­nen Pa­ti­en­ten, das tut die Be­hand­lung. Ver­sor­gung be­schäf­tigt sich mit Pa­ti­en­ten- oder Be­völ­ke­rungs­grup­pen. Ers­te­re sind da­durch cha­rak­te­ri­siert, dass die Pa­ti­en­ten eine glei­che Krank­heit oder das glei­che Ri­si­ko­pro­fil haben, zwei­te­re da­durch, dass sie Ein­woh­ner einer de­fi­nier­ten Re­gi­on, der Ver­sor­gungs­re­gi­on, sind. Die Sys­te­me­be­ne schwebt noch höher, und be­schäf­tigt sich mit der Si­tua­ti­on aller ihr zu­ge­rech­ne­ten Ver­sor­gungs­re­gio­nen.

Damit ist klar, Ärzte be­schäf­ti­gen sich mit Pa­ti­en­ten, Ver­sor­gungs­wis­sen­schaf­ter mit Zah­len – und ein Sys­tem­wis­sen­schaf­ter über­haupt nur mehr mit der Be­schrei­bung der Phä­no­me­nen, die das kom­ple­xe Zu­sam­men­spiel in der Ver­sor­gung her­vor­bringt.

Wenn Ärzte, an­hand der Er­fah­rung mit den ihnen be­kann­ten Pa­ti­en­ten (die immer nur eine win­zi­ge Menge aller Pa­ti­en­ten sein kön­nen), über Ver­sor­gung spre­chen, nennt man das, ohne de­spek­tier­lich zu sein, an­ek­do­ti­sche Evi­denz, wenn Ver­sor­gungs­wis­sen­schaf­ter an­hand von Kenn­zah­len über Ver­sor­gung spre­chen, nennt man das de­skrip­ti­ve Sta­tis­tik. Und die Be­schrei­bun­gen, die Sys­tem­wis­sen­schaf­ter an­fer­ti­gen Sys­tem­ana­ly­se.

Wei­ter­le­sen „Miss­ver­ständ­nis­se: Ver­sor­gung≠ Be­hand­lung – An­ek­do­te ≠ Sta­tis­tik“

Eine wieder nicht-stattfindende Reform

Der Wahn­sinn rei­tet wie­der. Eine Ge­sund­heits­re­form wird es nicht geben, dafür hö­he­re Schul­den. Hurra!

Wenn Ge­füh­le mit der Ver­nunft nicht in Ein­klang zu brin­gen sind, dann re­agie­ren Men­schen merk­wür­dig.

Stel­len Sie sich vor, sie schlie­ßen die Tür hin­ter sich und wis­sen, sie ist ins Schloss ge­fal­len. Sie haben das Kli­cken ge­hört und wis­sen: „Ja, das Schloss ist zu“. Doch Ihr Ge­fühl sagt: „Nein, die Türe ist offen“. Sie dre­hen sich um, rüt­teln an der Tür. Sie ist zu. Sie wis­sen nun si­cher, die Türe ist zu und wol­len gehen. Doch Ihr Ge­fühl, dass die Türe offen ist, bleibt be­ste­hen. Sie wis­sen, die Türe ist zu, gehen ein paar Schrit­te, doch das Ge­fühl, die Tür ist offen lässt sich nicht ab­stel­len. Sie dre­hen um, gehen zu­rück, rüt­teln an der Tür und stel­len fest, die Türe ist zu. Wie­der ver­su­chen sie zu gehen, doch be­reits nach we­ni­gen Me­tern ist es wie­der da, das Ge­fühl „die Türe ist offen“. Mit jedem Meter wird das Ge­fühl stär­ker, bis es sie über­mannt und sie zu­rück­ge­hen um wie­der an einer ge­schlos­se­nen Türe zu rüt­teln.

In der Me­di­zin wird so ein Ver­hal­ten Zwangs­neu­ro­se ge­nannt. Es sind arme Men­schen, die daran lei­den. Hin und her­ge­ris­sen, zwi­schen ihrer Ver­nunft und sinn­lo­sen Hand­lun­gen.

Ich frage mich, wie man die Heer­scha­ren an Ex­per­ten und Wis­sen­schaf­ter, die seit Jahr­zehn­ten pro­bie­ren, die Po­li­tik zu einer pa­ti­en­ten­ori­en­tier­ten und nach­hal­ti­gen Ge­sund­heits­re­for­men zu be­we­gen, ein­zu­tei­len sind? Zwangs­neu­ro­ti­ker, die immer und immer wie­der sinn­lo­se Hand­lun­gen set­zen, ob­wohl sie doch wis­sen müss­ten, dass diese sinn­los sind?

Ir­gend so etwas muss es wohl sein. Denn ob­wohl nun seit 40 Jah­ren die Pro­ble­me des Ge­sund­heits­sys­tems be­kannt sind, wird uns wie­der keine Re­form er­war­ten. Die Grund­la­ge aller Pro­ble­me, die man zwar leug­nen kann, aber des­we­gen nicht weg sind, ist die zer­split­ter­te Kom­pe­tenz­la­ge. Hier sind so der­ma­ßen viele recht­li­che Wahn­sin­nig­kei­ten ent­hal­ten, dass man für eine ernst­haf­te Re­form eine Ver­wal­tungs­re­form braucht. 4.000 Fi­nanz­strö­me, die eine pa­ti­en­ten­ori­en­tier­te Ver­sor­gung immer un­mög­li­cher ma­chen und die of­fen­bar nur dazu da sind, mög­lichst in­trans­pa­rent alle Pfrün­de – der Län­der oder So­zi­al­part­ner, wer kann das noch un­ter­schei­den – zu schüt­zen, müss­ten be­rei­nigt wer­den. Das sagen alle, die sich aus­ken­nen. Doch was kommt zum Thema Ver­wal­tungs­re­form? Ir­gend­wel­che Schul­rats­kom­pe­ten­zen wer­den neu ge­re­gelt! Das war’s. Aber was soll man auch er­war­ten, wenn Lan­des­haupt­leu­te, die Pro­fi­teu­re der Weih­nachts­mann-Po­li­tik (das Land schenkt, der Bund zahlt), bit­tet, die­ses Thema zu ver­han­deln.

Fast pro­phe­tisch war auch, als vor zwei Mo­na­ten an die­ser Stel­le stand, dass die Ent­schul­dung der Kas­sen wohl der nächs­te Schritt sein wird. Dass diese 450 Mil­lio­nen Euro ein Steu­er­ge­schenk sind und wir die­ses Geld wirk­lich be­zahlt haben – es sich also nicht um Mo­no­po­ly­geld han­delt – scheint nie­man­den zu in­ter­es­sie­ren. Der Ver­gleich mit der Fi­nanz­welt, in der es haupt­säch­lich um Mo­no­po­ly­geld geht, ist nicht zu­läs­sig und wird trotz­dem stän­dig be­müht. Trau­rig! Noch trau­ri­ger ist, dass damit jede „An­ti-Schul­den-Po­li­tik“ als Lip­pen­be­kennt­nis ent­larvt wurde. Un­se­re Kin­der wer­den die­sen Wahn­sinn be­zah­len – oder wie Hayek es vor­aus­sagt, an­de­re Wege fin­den, die Kos­ten zu re­du­zie­ren.

Wie es mit einem Neu­ro­ti­ker halt so ist, werde ich das Wis­sen nicht los, dass es nie eine Re­form geben wird, auch wenn mir das Ge­fühl sagt, das es ohne nicht gehen wird. Oder ist es das Wis­sen, dass es ohne Re­form nicht geht und das Ge­fühl, dass es keine geben kann? Was soll`s!

Die­ser Ar­ti­kel wurde im No­vem­ber 2008 in ähn­li­cher Form in der Wie­ner Zei­tung ver­öf­fent­licht.