Das Sommerloch ist da: Zeit für eine (sehr komplizierte) philosophische Hintergrundanalyse – über das MAN, den Verfall und das Ende.
Vielfach wird behauptet, Gesetze sind Ausdruck praktischer Moral, also so etwas wie eine in Worten geronnene, gelebte Moral. Ob nun aufgeschrieben oder nicht, am Ende bleibt Moral schlicht die Konstitution des Wertegerüsts einer, wie auch immer definierten, Gesellschaft, die, wenigstens theoretisch, aus Individuen besteht. Doch stimmt das noch? Wird die Gesellschaft noch von Individuen gestellt? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Gesellschaft nur mehr daraus besteht, dass man etwas macht, weil MAN es macht?
Wenn MAN Geld für Banken hat, dann muss es auch für die Gesundheit vorhanden sein! MAN hat den Kassen Geld weggenommen und muss es jetzt zurückgeben! Wenn MAN ein Hochleistungs[Gesundheits]system will, kann MAN es nicht kaputtsparen! MAN muss, MAN kann, MAN darf, MAN soll … .
Doch wer oder was ist denn dieses MAN, das offenbar genau weiß, was für jeden von uns das Beste ist, das nie echte Geldprobleme hat, das stets richtig liegt? Nun, genau genommen ist es niemand und jeder gleichzeitig! Auch ist es ein beliebtes Versteck für jene, die zwar zuständig, aber nicht verantwortlich sein wollen. Und, es hat das Ich und das Wir ersetzt.
Nicht, dass es nicht eine abstrakte Ebene geben dürfte, in der MAN Dinge festlegen kann; aber MAN kann nie von sich aus aktiv werden. Das kann in erster Linie nur ich selbst. Mehrere „Ich“ können freiwillig ein „Wir“ gründen. Funktionierende Solidargemeinschaften sind stets Ausdruck wohlgeordneter demokratischer Verhältnisse, die aus mehreren Ich aktiv ein Wir gestalten. Solidarität, wenn sie denn wirklich eine solche sein soll, ist so nur durch unsere demokratischen Entscheidungen gerechtfertigt. Jedes Sozialsystem, dessen Zukunft nicht in der Tyrannei einer selbstherrlichen Elite ersticken will, braucht das Wir, braucht uns.
Doch wie schaut es aus? Die Diskussion über die Finanzierbarkeit der Sozialsysteme ist nahezu beweisend, dass wir das, was MAN uns vorsetzt, nicht mehr wollen. Würden wir es wirklich wollen, würden wir uns darum sorgen, dass es finanziert wird. Keine Diskussion würde entstehen, woher das Geld kommt, weil wir es freiwillig geben würden. Aber offenbar wollen wir etwas anderes. MAN dürfte das aber geflissentlich ignorieren und so weiter wursteln wie bisher, weil MAN halt nichts ändern kann. Die Distanz zwischen uns und dem MAN ist groß geworden und entfaltet seine destruierende Kraft.
Ja, das MAN hat uns bereits fest im Griff. Moralische Vorstellungen, also jene Werte, die wir eigentlich – ob nun von uns selbst oder von Gott abgeleitet – aufstellen sollten, werden weniger und weniger. Und wenn MAN diese Werte quasi ohne uns festlegt, darf es nicht verwundern, dass ich mich und wir uns zunehmend nicht daran gebunden fühlen.
Und in weiterer Folge ist niemand mehr für sich oder andere verantwortlich, Populismus (sei er von links oder rechts) lenkt die Politik, Paternalismus pervertiert zur Diktatur und übrig bleibt ein Haufen Asche. Vielleicht müssen wir uns abfinden, dass demokratische Staatsformen genau so wenig geeignet sind, den moralischen Verfall zu verhindern, wie undemokratische. Wenn diese Entwicklung anhält – und nichts spricht dagegen – dann wird es sehr bald dunkel für unsere Sozialsysteme. Während Pensions- und Arbeitslosensysteme mit Härte aber überlebbar einbrechen, werden solidarische Gesundheitssysteme, wenn sie denn kollabieren, mit sehr viel unabwendbarem Leid einhergehen.
Dieser Artikel wurde im August 2009 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.