Kassen, Kammern, Ambulatorien, der Gesamtvertrag und die PHC-Zentren

(Lesezeit 4 Min) Ärztekammern, Krankenkassen und Ambulatorien; ein Streit der praktisch so alt ist wie die zweite Republik und in der PHC-Diskussion gerade wieder aufflammt

 

Herbst 1955 – Seit kurzem gibt es den Staatsvertrag, die Besatzungsmächte sind noch nicht vollständig abgezogen, da wird das ASVG, zur Abstimmung gebracht. Und fast typisch, trotz zehn Jahren Verhandlung, kommt eine, wie ein Stenographisches  Protokoll zeigt, schnell zusammengezimmerte „Zwischenlösung“ zur Verlesung, weil wenige Tage davor ein Aufstand der Wiener Ärztekammer zu Änderungen zwang.

Um was es ging? Um Ambulatorien und Kassenplanstellen.

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Solidarität – eine Reflexion

Politiker und Sozialpartner tun so, als ob in der Bevölkerung eine tragfähige Solidarität besteht. Sie dürfte aber eher aufgezwungen, als freiwillig sein – und das ist etwas anderes.

Herr M. ist 62 und in Invaliditätspension, weil er, so sagen Gutachter, nicht mehr arbeiten kann. Grund wäre sein Rücken und seine Knie, alles erheblich abgenützt. 40 Jahre hat er als Maurer gearbeitet, die letzten 15 davon als Polier und sein Job könnte durchaus als körperlich anstrengend bezeichnet werden.

Der wahre, oder wenigstens sehr wesentliche Grund, für seine Invalidität ist aber woanders zu suchen. Herr M. bringt auf seine knapp 1,75 Meter Körpergröße über 100 Kilo. Er ist also fett. Zudem trinkt er täglich etwa fünf Liter Bier, liebt es, üppig zu essen und viel zu rauchen. Dass er Diabetiker ist und unter Bluthochdruck leidet, muss kaum extra erwähnt werden.

Wissenschaftlich betrachtet ist Herr M. für seinen Gesundheitszustand über weite Teile selbst verantwortlich. Das weiß er auch. Schließlich erzählt ihm seit Jahren jeder, vom Hausarzt bis zu seinen Kindern, dass er sich noch „umbringen“ werde.

Solche Warnungen wurden leichtfertig abgetan. Wenn man krank ist, geht man zum Arzt, der macht einen wieder gesund.

Vor zwei Jahren hat er sein Ziel, die Frühpension, erreicht. Die ist zwar mager, kann aber durch Pfusch leicht aufgefettet werden. Und weil er chronisch krank, aber unbelehrbar ist, geht er oft zum Arzt, ein bis zwei mal pro Jahr ins Spital und schluckt haufenweise, dafür unregelmäßig, Medikamente.

Dass das viel kostet, ist ihm egal. Er hat ja ein Leben lang einbezahlt und jetzt ein Recht darauf. Da allerdings täuscht er sich gewaltig.

Denn, bezahlt wird alles nach dem Solidaritätsprinzip, was konkret bedeutet, dass Herr M. sich darauf verlassen muss, dass irgendwer sich mit ihm solidarisch erklärt und die anfallenden Kosten freiwillig übernimmt. Aber warum sollte das jemand tun? Er selbst stellt sich die Frage übrigens nicht – für ihn ist wichtig, dass alles bezahlt wird. Woher das Geld kommt ist ihm herzlich egal.

Und das ist traurig. Denn wenn Solidarität fehlt, wird das Geld nur durch Zwang aufgebracht werden können – und das wäre etwas ganz anderes.

Menschen haben sich schon seit langem zu Gemeinschaften zusammengeschlossen, um sich gegenseitig zu helfen. Mit der Gründung solcher Solidargemeinschaften konnten sich ihre Mitglieder sowohl gegen wirtschaftliche als auch politische Unbilden „absichern“. Basis dieser freiwilligen und selbstverwalteten Zusammenschlüsse war stets das Bekenntnis zu etwas Gemeinsamen, zu dem jeder seinen Beitrag liefern muss; darin liegt der Solidaritätsgedanke; der theoretisch auch unserem Sozialversicherungssystem unterlegt ist.

In wie weit es diesen Gedanken nach 1955 (dem Jahr der Einführung des ASVG) gab, ist ohnehin zu hinterfragen. Hier herrschte immer ein „unfreies“ Pflichtsystem. Ja selbst die Mitbestimmung der Mitglieder ist fragwürdig, da sie über weite Strecken nur über Kammerwahlen möglich ist. Wer die Wahlbeteiligung in diesen Organisationen mit Pflichtmitgliedschaft kennt, kann schnell erkennen, dass Mitbestimmung kaum stattfindet.

In unserem System steckt also bereits sehr viel Zwang, und das ist der Förderung des Solidaritätsgedanken nicht dienlich. Nichtsdestotrotz wird seitens der Politik (inklusive der Kammern) daran festgehalten und so getan, als ob er unverbrüchlich besteht.

Nun, man kann hoffen, dass die gepredigte Solidarität nie in der Realität geprüft wird. So gefühlt, besteht sie längst nicht mehr. Weder von denen, die von ihr leben, noch von denen die dafür aufkommen.

Dieser Artikel wurde im August 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Hausarztmodelle – schön und gut!

Hausarztmodelle können nur funktionieren, wenn die Kompetenzen dort, wo sie wirken sollen, bereinigt werden – dazu braucht es Gemeinden, Länder, verschiedene Ministerien, Kassen – und mutige Politiker.

Als ich für „Die Zeit“ einen Artikel zum Thema SVA schreiben sollte, verwendete ich das Wort: „Hausarzt-Modelle“. Der Redakteur teilte mit, das müsse erklärt werden, weil das niemand verstehe. Wenigstens das dürfte sich anlässlich der jetzigen Diskussion ändern. Mit etwas Glück schafft es das Thema zu einer gewissen Breitenakzeptanz.

Es ist an der Zeit zu fragen, warum es die nicht hat und warum hierzulande erst etwas diskutiert werden muss, das anderswo bereits seit Jahrzehnten gute Praxis ist.

Schauen wird einfach in die Realität. Unser „Bild“ vom Hausarzt stammt aus den Nachkriegsjahren. Damals herrschte Ärztemangel, vor allem bei Fachärzten. Um die Versorgung aufrechtzuerhalten, durften Praktiker quasi alles. Und selbst in den 1980er Jahren gab es noch Landärzte, die Geburten machten. Unser Hausarzt war also sehr breit aufgestellt – und das lange Zeit zu recht.

Aber seit wenigstens zwanzig Jahren ist das anders. Die Ärztedichte ist international am höchsten, und Spitalsambulanzen liefern eine Spezialversorgungsbreite, wie sonst nirgendwo. Es ist nicht mehr nötig, dass Hausärzte „alles“ können und dürfen. Zudem hat sich die Bevölkerungsstruktur geändert. Solange die Bevölkerung „jung und gesund“ war, musste der Hausarzt anderes leisten als heute, wo zunehmend alte, und immobile Patienten zu versorgen sind.

Kurz, das „alte“ Bild vom Hausarzt hat ausgedient. Und hier kommen wir zum Kernproblem. Die Politiker wissen einfach nicht, was sie mit dem Hausarzt noch anfangen sollen. Genau genommen, braucht man keine mehr (glaubt man!). Und aufbauend auf einem Gesetz (ASVG), dass niemand mehr versteht, und von Einzelinteressen zur Fratze verzerrt wurde, ist die Entwicklung eines „neuen“ Bildes kaum möglich.

International will man von Hausarztmodellen, dass möglichst viele gesundheitlichen Probleme vor Ort adressiert werden. Das Stichwort ist gesundheitlich – kein Wort von medizinisch, denn das wäre eine Einschränkung, die nicht funktioniert. Hausärzte (mit ihren Ordinationen) sollten niedrigschwellige Leistungen aus allen Bereichen der Gesundheitsversorgung, von Prävention bis zur Pflege, anbieten (nicht bloß koordinieren!) können, nicht nur Heilbehandlung, wie es das ASVG vorsieht.

Prävention für alte Menschen (z.B.: Heimhilfen, damit Patienten nicht wegen häuslicher Verwahrlosung krank oder zum Pflegefall werden), die eben die wichtigste Patientengruppe heute darstellen, hat mit Heilbehandlung wenig zu tun, ja selbst Rehabilitation, wenn sie darauf abzielt, alte Menschen möglichst lange in ihrer Selbstständigkeit zu unterstützen (z.B. aktivierende Pflege) ist ihr nicht zuzurechnen. Und trotzdem gehören all diese Dinge zum „Hausarzt“, wie er sein sollte. Aber genau dort besteht ein Kompetenzwirrwarr zwischen Gemeinden, Länder, verschiedenen Ministerien, Kassen und wer weiß wem sonst noch. Dass hier ein Hausarzt wirklich steuernd eingreifen kann, setzte eine Strukturreform voraus.

Der Erfolg eines Hausarztmodells wird u.a. daran gemessen, ob unnötige Spitalsaufenthalte und Facharztüberweisungen weniger werden. Damit werden die Interessen der Länder und Fachärzte direkt betroffen – Einsparungen könnten zu ihren Lasten gehen. Es ist schwer vorstellbar, dass das dem Hausarzt in der Realität „erlaubt“ würde – ohne Strukturreform.

Will man also wirklich Hausarztmodelle, muss man das System umbauen – alles andere wäre eine „österreichische“ Lösung!

Dieser Artikel wurde im Juli 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Das ASVG – Indikator schlechter Gesundheitspolitik

Österreich hatte wirklich einmal visionäre Gesundheitspolitiker – schade nur, dass visionäre Gesundheitspolitik nichts mehr gilt, weil Politiker immer kürzer denken und bereits fünf Jahre nicht mehr überblicken wollen.

Wer kann sich noch erinnern, als 1956 ein Meilenstein in der Sozialpolitik gesetzt wurde – das allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG).

Klar waren damals schon manche österreichischen Kompromiss-Dummheiten dabei, als man etwa für alle möglichen, heute als „kleine Kassen“ bekannte, Interessensgruppen Ausnahmen verankerte. Aber im Großen und Ganzen war das ASVG hochmodern. Das Gesundheitssystem umfasste alles, von der Vorsorge bis zur Pflege, und für alles waren die Kassen verantwortlich. Es war dezentralisiert in politkunabhängige Gesundheitssprengel, die viel Autonomie besaßen. Die gesamte Finanzierung erfolgte aus einer Hand – der Hand der Kassen. Und es war nach dem Umlageprinzip (dem berühmten Generationenvertrag) ausschließlich beitragsfinanziert. Die Beiträge wurden, um tagespolitische Diskussionen zu vermeiden, von den Arbeitgebern und –nehmern (der berühmten Sozialpartnerschaft) selbstverantwortlich verwaltet (die noch berühmtere Selbstverwaltung).

Überall wurde diese Idee gerühmt und manche Länder haben sie sogar umgesetzt.

Es wäre nicht Österreich, wenn wir das ASVG nicht über Gemauschel und Gewurstel verwässert hätten. Weil wir die Lohnnebenkosten nicht steigen lassen wollten (und Machtkämpfe tobten), wurden mehr und mehr Bereiche aus dem ASVG ausgegliedert und Kompetenzen zersplittert. Zuerst wurde die Pflege den Gemeinden und Ländern übergeben, kurz darauf die Krankenhausfinanzierung (die Kassen zahlen nur mehr eine, von den tatsächlichen Kosten unabhängige, Pauschale), dann die Spitalsambulanzen (bis 1995 hatte jede Spitalsambulanz einen Kassenvertrag – jetzt wird pauschal bezahlt). Auch große Teile der Vorsorge und der Rehabilitation gehören heute nicht mehr den Kassen. Die Lohnnebenkosten sind trotzdem gestiegen – Politik ist wenigstens so gierig wie die Finanzwelt.

Am schlimmsten verwässert ist wohl die Kassen-Finanzierung. Eigentlich sollte diese ja über Beiträge erfolgen und ohne Steuern auskommen; nur so wäre es eine echte Selbstverwaltung. Das ist aber schon lange nicht mehr so. Welche Einnahmen die Kassen haben, weiß keiner mehr genau. Denn neben den Beiträgen erhalten sie heute aus Steuern einen „Hebesatz“, der die Arbeitgeberbeiträge der Pensionisten „simuliert“ (eine eigenartige Interpretation der Beitragsidee und des Generationenvertrages). Dann erhalten sie Einnahmen aus der Tabaksteuer, weiters noch die Selbstbehalte und Gebühren, und nicht zuletzt, die Rückerstattung der Mehrwertssteuer (MwSt) auf Medikamente.

Ach ja, die MwSt auf Medikamente! Da ist was Skurriles im Gange. Im Vorwahlchaos wurde diese von 20 auf 10 Prozent gesenkt. Nun muss man wissen, dass die Kassen bisher pauschal 70 Prozent der abgeführten MwSt zurückerhalten haben (also von den 20 Prozent wurden 14 zurückbezahlt). Da aber jetzt die Steuer auf 10 Prozent gesenkt wurde, müsste der Bund weniger zahlen. Das erkennend, haben die Kassen bereits deponiert, dass sie davon ausgehen, dass weiter in gleicher Höhe bezahlt wird. Die „Mehreinnahmen“ bleiben natürlich bei den Kassen. Eine neue, beitragsunabhängige, steuerfinanzierte Einnahmequelle taucht am Horizont auf.

Nach mehr als 60 Novellen ist das ASVG nicht mehr als ein Rumpf, der nur lebt, weil die Verflechtungen der Selbstverwaltung mit der Parteipolitik nicht mehr entwirrt werden können. Visionär ist das nicht mehr. Mal sehen, ob wieder ein Weltkrieg nötig ist, um eine große Reform zu machen!

Dieser Artikel wurde im Oktober 2008 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.