„Primary Health Care“ –  was ist das?

(Lesezeit 11 Min) Vor langer Zeit (1978), im tiefsten Kasachstan (UdSSR), hat die Welt beschlossen, Gesundheitssysteme neu zu organisieren. Heraus kam das wohl erfolgreichste Versorgungskonzept aller Zeiten: „Primary Health Care“ (PHC), festgehalten in der WHO- Deklaration von Alma Ata, die Österreich unterschrieben hat.

 

Um eine gute, gerechte, für alle zugängliche und nachhaltig leistbare Versorgung zu erreichen, müssten die wesentlichen Gesundheitsprobleme der Bevölkerung vor Ort adressiert werden. Die Versorgung sollte so dezentral und wohnortnah wie möglich (!) sein. Dabei wurde nicht an wohnortnahe Nierentransplantation gedacht, sondern an dezentralen Organisationsformen die Gesundheitsförderung, Prävention, Rehabilitation, Pflege und Kuration, also das gesamte Spektrum der Versorgung, möglichst nahe an die Bevölkerung herantragen und dort, wo „ferne“ (Spitals)Hilfe nötig wird, diese koordinieren (integrierte Versorgung!).

Getragen werden muss PHC von allen Gesundheitsberufen, die wohnortnah aktiv werde können. Dazu gehören nicht nur Ärzte, sondern auch Pflege, Hebammen, Therapeuten, Sozialarbeiter etc., die als Team koordiniert und gemeinsam arbeiten, um die Bevölkerung entsprechend dem Vorort feststellbaren Bedarf zu versorgen.

In der Deklaration von Alma Ata steht auch: „Alle Regierungen sollen nationale Strategien und Umsetzungspläne entwickeln, um PHC als Teil einer umfassenden Gesundheitsversorgung zu etablieren und zu stärken.“ Deswegen, aber vor allem, weil die Idee bestechend ist, haben fast alle Länder begonnen, sie umzusetzen. In einigen ist das besser in anderen schlechter gelungen. Aber nirgendwo wird mehr an der Richtigkeit der Idee gezweifelt.

Da PHC ein nicht exakt definiertes Konzept war, ist es weltweit zu einer Vielzahl von Experimenten und Publikationen gekommen. Aus Österreich, stammen kaum Arbeiten; was nicht verwunderlich ist, da „wirkliches“ PHC unnütz scheint, und Theorie ohnehin als praxisfremd gilt. Wie dem auch sei, international geht die Zahl der Publikationen in die Hunderttausende und kaum jemand hat den Überblick. Deswegen ist es erfreulich, dass nun eine systematische Literaturarbeit  zu dem Thema erstellt wurde, die sich mit den Kern-Dimensionen des PHC beschäftigt.

Die Arbeit identifiziert 10 Kern-Dimensionen, wie „Wirtschaftliche Bedingungen“, „Zugang“, „Kontinuität“ oder auch „Koordination“ in der Versorgung. Alle Dimensionen stehen systemisch in Verbindung und die gegenseitigen Einflüsse wurden untersucht. Es würde zu weit führen, alles darzustellen. Immerhin sprechen wir hier von einer Matrix mit mindestens 90 Schnittpunkten – und für rund 70 wurde Evidenz der gegenseitigen Beeinflussung gefunden. Aber unsauber zusammengefasst kann folgendes gelten:

Wichtigste Aufgabe des PHC ist Kontinuität. Also jene Dimension, die darauf aufbaut, dass ein Vertrauensarzt seine Patienten (mindestens seit zwei Jahren) kennt und so die Versorgung kontinuierlich organisieren kann. Wird der Arzt in seiner PHC-Rolle gestärkt und kann die Kontinuität wahrnehmen, dann werden seine Patienten seltener unnötig im Spital behandelt, Fehl-Diagnosen und -Behandlungen werden weniger, die Patientencompliance höher, was sich positiv auf chronische Verläufe auswirkt, und seine Patienten nehmen präventive Medizin besser und häufiger an (z.B.: Mamma-, Colon- und Cervix-Ca. werden bei sinkender Mortalität früher entdeckt). Als ob das nicht genug wäre, sinken dabei sogar die Gesamtkosten der Versorgung. Interessant, diese Effekte können durch PHC-Ärzte, bzw. die PHC-Teams erreicht werden, aber mangels Kontinuität nicht durch Fachärzte oder Ambulanzen!

Was braucht es, dass diese „Wunderärzte“ wirken können?

Der „ideale“ PHC-Arzt ist einmal weiblich, denn dann nimmt er sich mehr Zeit für den Patienten – ein wesentlicher Faktor. Deswegen sind Einzelleistungshonorare nach Unterfinanzierung bzw. „entmutigenden“ Einkommen, das zweitschlimmste Gift für ein gutes PHC. Idealerweise bezieht der PHC-Arzt ein selbständiges Einkommen aus existenzsichernden Pauschalen und qualitäts- und leistungsorientierten Variablen, die jedoch nicht zentral, sondern von dezentralen Autoritäten (etwa Gemeinden oder Bezirke), ausbezahlt werden. Angestellt darf er nicht sein, weil er dann schlechte(re) Arbeit leistet – sehr interessant.

Was einige nicht hören wollen, für ein gut funktionierendes PHC ist der Einsatz spezifisch ausgebildeter PHC-Fachpflege wesentlich. Ohne die wird der Arzt überfordert sein – und das geht zu Lasten der Zeit für Patienten und damit der Kontinuität. Was überraschenderweise nicht nötig ist, sind Gruppenpraxen. Einzelärzte müssen aber auf regionale Vernetzung achten. Das darf nicht hinwegtäuschen, dass ein gerechter Zugang von Anzahl, Verteilung und Rand-Öffnungszeiten (!) der PHC-Praxen beeinflusst wird. Letzteres ist in Gruppenpraxen sicher leichter zu organisieren.

Interessant ist, dass zwar grundsätzlich gilt, je breiter das Angebot, desto besser, aber viel wichtiger ist, dass die Leistungsspektren der PHC-Praxen einer Region klar definiert sind. Nur so ist eine Koordination mit nachgeordneten Versorgungsstrukturen (Fachärzte, Therapeuten, Spitäler, Pflegeheime, Rehazentren etc.) vernünftig möglich.

Und alles zusammen kann nicht ohne Politik passieren. Je stärker die Politik hinter dem PHC-Konzept steht, desto besser funktioniert es.

An diesem Punkt stellt sich die Frage, wie es hierzulande aussieht.

Bezahlt werden unsere Hausärzte meist über Einzelleistungen – und die Zahl der Patienten pro Tag ist wahnwitzig. Die Drei-Minuten-Medizin ist die Folge und PHC bereits jetzt schon tot, da muss man gar nicht erst über Wartezeiten oder Selbstzuweiser an Fachärzte nachdenken. Und weil alle Dimensionen zusammenhängen und nur an einem Hebel zu drehen nichts bringt, ist es dort, wo es Pauschalen gibt (z.B. Wien), noch schlimmer. Denn pauschalierte Hausärzte haben, wie alle anderen ja auch, kein verpflichtendes Leistungsspektrum. Pauschalen sind daher nur ein Anreiz für Überweisungen. Unsere „Hausarztmodelle“ behindern PHC nachhaltig.

Wie schaut es mit den Teams aus? Schlecht. Wollte man die Gehälter für PHC-Fachpflege (so es entsprechende Ausbildung gäbe!) in die Honorare einpreisen, könnten das die Kassen zu Recht ablehnen. Denn in unserem perversen Rechtsdschungel sind sie dafür nicht zuständig. Solche Fachkräfte wären der Prävention und Pflege zuzurechnen. Dafür sind Bund und/oder Länder zuständig. Aber dort wird sicher niemand einen Teil des Pflegegeldes oder der Tabakeinnahmen (Präventionsgelder) umlenken, damit Ärzte (in ihren Teams) PHC-Fachpflege anstellen können. Und wer jetzt denkt „soll es sich der Patient selbst bezahlen, schließlich profitiert er davon“, der geht an der Realität vorbei. Denn PHC, will es funktionieren, sollte zur Gänze – nicht nur die ärztliche Leistung – unentgeltlich zugänglich sein!

Es fehlt hierzulande jeglicher politische Wille PHC umzusetzen. Mit einem gut ausgebauten PHC könnte man ja u.a. erreichen, dass: die Versorgung um Patienten, statt um Einrichtungen organisiert wird und alle Stakeholder (ein böses Wort) auf Ausgestaltung und Qualität der Versorgung Einfluss nehmen  . Das ist unerwünscht.

Schauen wir uns die Kassen an. Je mehr Patienten in Spitäler überwiesen werden, desto besser. Dort zahlen Kassen, unabhängig der Zahl der Patienten, eine Pauschale. Ob so das Gesamtsystem ineffektiver und teurer wird, ist belanglos. Hauptsache man spart im eigenen Bereich. Und was wollen die Länder? Ihre Spitäler erhalten! Warum soll ein System unterstützt werden, dass die Spitalshäufigkeit senkt? Ob dabei Patienten einem überhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt oder gar übertherapiert werden und so schaden nehmen, ist doch vollkommen unerheblich.

Dass eine Investition in PHC deutlich effizienter wäre als schlicht mehr Geld für das Gesamtsystem, mag zwar bewiesen sein, ist aber politisch kontraproduktiv. Wenigstens solange man Beitrags- und Steuerzahlern weis machen kann, dass alles weltklasse ist. Und wieviele Österreicher werden schon eine Studie, wie die hier aufgearbeitete lesen? Jedenfalls zu wenige, als das dadurch Wahlergebnisse beeinflusst würden. Daher kann man wohl mit Gewissheit davon ausgehen, dass PHC eher aktiv hintertrieben als vorangetrieben wird.

 

(Der Artikel stammt aus dem  2010 und zeigt ganz hervorragend auf, wie dämlich, träge und am Ende unerträglich unsere Gesundheitspolitik ist – und wer glaubt, dass jetzt was passiert, der soll darüber reflektieren, was diskutiert wird: PHC-Zentren – nicht PHC)