Prävention ist KEIN Heilsbringer

Geht es um die Zukunft der Gesundheitsversorgung, redet jeder von Prävention und Health Literacy.

Die Lösung ist dann meist Gesundheitserziehung, eine gesunde Jause und Bewegung in der Schule, da Kinder von heute Erwachsenen von Morgen sind, die gesund altern und das Gesundheitssystem entlasten sollen.

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Aber auch die allgemeine Vorsorgeuntersuchung sei wichtig, denn früh erkannte Krankheiten sind besser zu behandeln. Auch das würde viel sparen. Angeblich sechs Euro pro in Vorsorge investiertem Euro.

Es ist immer wieder erstaunlich, welche Wirkung der Prävention zugedacht wird. Leider ist das alles eher Populismus, und, wenn es um die Einforderung der Eigenverantwortung geht, mit Hang zur Demagogie.

Wissenschaftlich ist daran bestenfalls sehr wenig. Dort gilt seit langem das „Polypen-Rätsel“ und das „Inverse Care Law“. Ersteres beschreibt den Zusammenhang zwischen unwirksamen Präventionsmaßnahmen, wenn es kein stabiles Krankheitsmodell gibt, zweiteres das Problem, dass vor allem jene Prävention in Anspruch nehmen, die am wenigsten davon profitieren

Für das Polypen-Rätsel gibt es das Beispiel Schilddrüsenkrebs. Der wird durch verbesserte diagnostische Maßnahmen immer „früher“ entdeckt. Doch trotz seines nahezu epidemischen Auftretens, bleibt die Mortalität unverändert. Durch „Vorsorgeuntersuchungen“ finden wir also sehr viele Krebse, ohne dass sich die Zahl der daran gestorbenen ändert – wir überdiagnostizieren und übertherapieren.

Populistisch könnte man diese Zahlen aber auch so interpretieren, dass sich die Überlebenswahrscheinlichkeit vervielfacht hat. Und all jene, die eine Schilddrüsen-OP wegen „Krebs“ hatten, und nicht daran starben, sind davon auch fest davon überzeugt. Alleine es stimmt nicht.

Früherkennung ist mit Vorsicht zu betrachten. Und weil es eben nur für wenige Krankheiten so stabile Verlaufsmodelle gibt, dass eine frühe Diagnose wirklich was bringt, gibt es nirgends mehr allgemeine Vorsorgeuntersuchungen. Solche Untersuchungen sind nur dort sinnvoll, wo es um spezifische Krankheiten bei spezifischen Bevölkerungsgruppen (Risikogruppen) geht.

Und selbst dann gibt es ein Problem, nämlich das Inverse Care Law.

Sinnvolle Präventionsprogramme müssen das Ziel haben 100% der adressierten Bevölkerungsgruppe zu erreichen. Denn die ersten 50% werden gar nicht davon profitieren. Die achten von selbst so gut auf die eigene Gesundheit, dass jedes Programm defacto unnötig ist. Für die nächsten 25% besteht eine 50/50 Chance, dass das Programm was bewirkt. So richtig wirksam, ist es erst bei dem letzten Viertel. Das sind jene mit schlechter Health Literacy, niedriger Compliance und noch niedrigerer Adherence – Eigenverantwortung einzufordern mag zwar gut klingen, wird aber diese nicht erreichen. Gleichzeitig sind es aber nur die, wo dann das oben besprochene Potential von 6 Euro Behandlungskosteneinsparung liegen könnten.

Aber nähmen wir an, alle Probleme seien gelöst, welche Prävention ist den eigentlich wichtig? Sind es wirklich Kinder, denen wir Vorschriften machen sollten? Nein, denn die sind in der aktuellen demographischen Situation völlig nebensächlich.

Für die nächsten 30 Jahre sind es die Babyboomer, die unsere Gesundheitssystem überlasten werden. Wenn schon jemand mit gesetzlichen Pflichten zur besseren Lebensführung gezwungen werden müsste, dann die vor 1965 geborenen. Dort ist Übergewicht üblich, Alkohol- und Nikotin-Konsum hoch, Health Literacy niedrig und chronische Erkrankungen, deren Verlauf beeinflusst werden könnte, weit verbreitet.

Unangenehmerweise sind es aber auch die meisten Wähler. Denen Vorschriften und Pflichten aufzuerlegen ist politisch unklug. Und so liegt der Fokus auf Kindern, die gesund altern sollen.

First published im PERIskop