(Lesezeit 6 Min) Es ist verständlich, dass ein Otto-Normal-Verbraucher so gar nichts mit Honorarkatalogen der Krankenkassen anfangen kann, ja nicht einmal gut eingelesene Medizin-Journalisten verstehen das Kassenhonorar-System. Aber, es ist eines DER Probleme, warum es in Österreich einfach nicht möglich ist, eine sinnvoll organisierte ambulante Versorgung aufzubauen.
Um die Probleme zu illustrieren, will ich ein Beispiel bringen, dass die Unsinnigkeit dieses Systems zeigt: das Langzeit(24h)-EKG, auch Holter-EKG genannt
Ein Langzeit(24h)-EKG dient dazu, Herzrhythmusstörungen bei Patienten mit einer bekannten Herzerkrankung oder mit bestimmten Symptomen, die durch Rhythmusstörungen verursacht sein könnten, diagnostisch abzuklären. Da eben nicht jeder eine Herzrhythmusstörung hat, und diese auch nur bei bestimmten Personen wahrscheinlich ist, sollte es so etwas wie eine epidemiologisch hergeleitete Zahl an wahrscheinlich nötigen Untersuchungen pro Einwohner geben. Anders ausgedrückt, in einer bestimmten Bandbreite kann man die Zahl der Patienten, die eine Herzrhythmusstörung haben könnten, abschätzen, womit eben auch die Zahl der Untersuchungen abgeschätzt werden kann, die nötig ist, diese Patienten zu diagnostizieren.
Schauen wir uns jetzt an, wie einzelne Krankenkassen und Ärztekammern, beide in einer Monopolstellung, die Leistung „Langzeit(24h)-EKG“ in den Tarifkatalogen und Honorarordnungen verhandelt haben.
Praktisch alle Kassen, wenn auch unterschiedlich, honorieren die Leistung. Die Erbringung der Leistung „Langzeit(24h)-EKG“ ist Fachärzten der inneren Medizin vorbehalten. Nehmen wir zwei Kassen heraus, die zufällig gewählt wurden, weil sie bei einer Google-Suche die ersten beiden GKKs waren, deren aktuelle Kataloge ich gefunden haben: die steirische und die niederösterreichische.
Die StGKK bezahlt 2015 dafür lt Honorarordnung (Pos.: 580; s.35) 44,11€, aber nur in 20% der Behandlungsfälle – daher meint die StGKK, dass pro 100 Patienten, die zum Internisten gehen, nicht mehr als 20 Langzeit-EKGs nötig sind, um sicherzustellen, dass jedem, der es braucht, eine entsprechende Diagnostik zukommen kann. Rein statistisch kommen auf einen Vertrags-Internisten in der Steiermark etwa 15.000 Einwohner.
Die NÖGKK (Pos.: 620, S. 54, 156 Punkte à € 0,5587 – Punktewert S.: 17) bezahlt hingegen 87,1572€, allerdings nur in maximal 5% der Fälle – daher meint die NÖGKK, dass pro 100 Patienten nicht mehr als fünf Langzeit-EKGs ausreichen, um sicherzustellen, dass jedem, der es braucht, eine entsprechende Diagnostik zukommen kann. In NÖ kommen statistisch auf einen Vertrags-Internisten etwa 26.500 Einwohner.
Was gleich als erstes auffällt, die Tarife liegen 100% auseinander. Alleine das würde schon völlig unterschiedliche Versorgungssituationen und daher Versorgungsungleichheiten anreizen – etwas sehr merkwürdiges, sind die Krankenkassen ja Pflichtkrankenkassen, und niemand kann sich aussuchen, bei welcher Kassa er versichert sein will. Zudem ist klar, dass bei einer dermaßen großen Schwankungsbreite, kaum betriebswirtschaftlich kalkuliert wird – also die Kosten der Leistung (inkl. Gewinnzuschlag) durch das Honorar abgedeckt werden sollen. Tatsächlich liegt so was wie ein am Markt entstandener Preis vor – allerdings eben ohne Markt. Die Kassen sind ja nur monopolisierte Stellvertreter-Nachfrager, die Ärztekammer nur monopolisierte Stellvertreter-Anbieter. Keiner der beiden (aner)kennt Marktsignale, weil sie ja weit weg vom echten Leistungsgeschehen sind. Sie sind also Planwirte in irgendwelchen Zentral-Büros.
Aber im Gegensatz zu echten PLAN-Wirtschaftern, folgen sie keinem Plan, sondern einfach einer sehr merkwürdigen Verhandlungslogik, die, so imponiert es wenigstens, von Klassenkampf-Mentalität auf der einen, und Ständestaat-Mentalität auf der anderen Seite getragen ist.
Dass hier kein planwirtschaftlicher Plan besteht, erkennt man an den Deckelungen. Der „Plan“ würde versuchen, über wissenschaftliche Methoden den Bedarf an etwas zu identifizieren und die Produktion anzupassen, ohne dass Marktsignale zwischen Angebot und Nachfrage vermitteln. Aber hier dürfte der Bedarf nicht interessieren, oder warum sonst sind im Vergleich zu Niederösterreich in der Steiermark, gerechnet auf das Einzugsgebiet mehr als doppelt so viele Untersuchungen nötig, um Herzrhythmusstörungen zu diagnostizieren? Gibt es dort vielleicht so viel mehr Herzrhythmusstörungen bzw. Patienten mit bestimmten Symptomen, Risikofaktoren oder entsprechenden Krankengeschichten? Wohl eher nicht! Also was verleitet die steirischen Versorgungsverantwortlichen dazu, Anreize zu setzen, das Langzeit-EKG häufiger anzuwenden, oder welche Annahmen führen die niederösterreichischen Versorgungsverantwortlichen dazu, die Zahl der untersuchten Patienten gering(er) zu halten?
Die Deckelungen dürfte auf den ersten Blick wohl einer eigenartigen Zahlenmystik der „runden“ Zahlen (5 – 10 – 15 – 20 etc.) folgen. Aber, wenn man genauer schaut und die unterschiedlichen „Einzugsgebiete“ in Betracht zieht, fällt etwas auf. In einer sehr groben Rechnung, werden die Internisten in beiden Bundesländern mit dem Langzeit(24h)-EKG in etwa gleich viel Umsatz machen können. In NÖ haben die Internisten ein größeres Einzugsgebiet und daher potentiell mehr Patienten und es wird das Doppelte bezahlt, aber es darf eben nur bei 5% der Patienten verrechnet werden. In der Steiermark ist das Einzugsgebiet deutlich kleiner und es wird deutlich weniger bezahlt, dafür liegt der Deckel aber eben bei 20% der Patienten.
Es ist nicht unbegründet anzunehmen, dass es, anstatt patientenorientierter, versorgungs-wissenschaftlicher (Bedarfs)Überlegungen, diese Umsatzgedanken sind, die zu den unterschiedlichen Deckelungen geführt haben. Es geht offenbar nicht darum, sicherzustellen, dass alle Patienten das kriegen was sie brauchen, sondern, dass in beiden Kassen für diese Position ein bestimmter Prozentsatz des Umsatzes fixiert ist – unabhängig wir viele Patienten untersucht werden. Wäre eine genauere Untersuchung nicht dermaßen mühsam und müßig, vielleicht könnte man bei allen Kassen in ganz Österreich solche Umsatzüberlegungen entdecken. Da aber für die Stichprobe zufällig die StGGK und die NÖGKK herangezogen wurden, und damit 2,1 Mio. Versicherte erfasst sind (das sind 23% aller Versicherten), ist es nicht unbegründet, anzunehmen, dass man diese Überlegungen wohl überall finden dürfte.
Neben diesen völlig unklaren Anreizmechanismen, kommt es zu einer weiteren komplexitätstreibenden Situation: die Quersubventionierung zwischen den Kassen: Denn, obwohl die Anreize bei einigen Kassen, vorwiegend Gebietskrankenkassen, so gesetzt sind, dass Leistungen eher zu selten erbracht werden, also eine Unterversorgung auftreten könnte, erhalten Patienten im überwiegenden Fall trotzdem eine Leistung, etwa ein Langzeit-EKG. Hintergrund dafür ist, dass in einer Ordination Patienten unterschiedlicher Kassen versorgt werden – also neben den mengenmäßig sicher dominierenden GKKs, auch Patienten der BVA, der SVA, der KFAs etc.. Besonders diese, als „kleine Kassen“ bekannte Versicherungen, zahlen oft deutlich höhere Tarife. Der so lukrierte „Gewinn“ wird dazu verwendet, „defizitäre“ Patienten anderer Kassen querzufinanzieren. Das Problem dieser Vorgangsweise ist, dass die Stellvertreter-Nachfrager, also die Kassen, selbst dann nicht erfahren, dass ihre Anreizsysteme am Patientenbedarf vorbeisteuern, wenn sie es wollten.
Diese Quersubventionierung von Patienten der einen, durch Patienten der anderen Kasse, führt zudem dazu, dass sich jeder einzelne der rund 8.000 Kassenärzten an „seinen“ Kassen-Mix angepasst hat. Jede Ordination agiert also praktisch in den eigenen Rahmenbedingungen. Ändert sich der Kassen-Mix, werden Verdrängungsphänomene auftreten. Grundsätzlich wird jeder Arzt, bewusst oder unbewusst, danach trachten, Patienten der „kleinen Kassen“ stärker an sich zu ziehen und tendenziell GKK-Patienten so rasch wie möglich durchzuschleusen. Da sich aber auch Wahlärzte um diese Klientel bemühen, kommt es bei Kassenärzten zu einem veränderten Kassen-Mix, weniger Quersubventionen, und in der Folge zu einem Verdrängen von Patienten in die Spitalsambulanzen. Der Grad dieser Verdrängung ist jedoch von Ordination zu Ordination unterschiedlich und hängt von dermaßen vielen Parametern ab, dass eine generelle Aussage dazu nicht möglich ist – mehr noch, da ja das Zieleinkommen jedes Arztes vom Lebensabschnitt des Arztes abhängt, findet man nicht einmal irgendwelche stabilen Regelmäßigkeiten in einer einzelnen Ordination.
Am Ende haben wir jedenfalls ein System der intransparenten mehrfachen Quersubventionierung – und damit das, was Physiker als komplexes System bezeichnen. Ein System also, von dem keiner weiß wie es funktioniert, das emergente Eigenschaften besitzt, und das man nicht steuern kann. Mehr noch, weil es 14 Honorarkataloge gibt, die noch unterteilt sind in die verschiedenen Fächer, und weil diese Verhandlungsgenstand hunderter Verhandlungen zwischen 10 Ärztekammern mit 21 Sozialversicherungen, 15 Krankenfürsorgeanstalten und 8 Privatversicherungen sind, und weil es zudem noch etwa 400 Spitalsambulanzen in etwa 130 Spitälern in 9 Bundesländern und 8.000 Wahlärzte gibt, die mangels Abstimmung mit dem Kassensystem additiv und/oder substitutiv versorgen, ist es nicht einmal möglich einen Rahmen der ambulanten Versorgung zu definieren. Anders ausgedrückt: die ambulante Versorgung in Österreich erfolgt chaotisch.
Liegen dermaßen merkwürdige Situationen vor, stellt sich versorgungswissenschaftlich natürlich die Frage, in wie weit das zu Unter-, Über-, und Fehlversorgung führt: Um beim unserem Beispiel zu bleiben: Ist davon auszugehen, dass wegen des Honorarsystems in einem Bundesland entweder eine Unterversorgung, oder im anderen eine Überversorgung besteht?
Klar ist, dass die ambulante Versorgungsituation in den Bundesländern völlig unterschiedlich sein wird, da es neben den unterschiedlichen Umsätzen pro Leistung auch unterschiedliche Deckelungen, unterschiedliche Wahlarztdichten und Angebote in Spitalsambulanzen gibt. Das hat Auswirkung auf die Versorgungssituation, auch wenn diese nicht evaluiert wird, und statt dessen bis dato schlicht behauptet wird, die Versorgung funktioniere, und es gäbe keine Unter-, Über-, und Fehlversorgung.
Und genau das könnte (!) tatsächlich auch stimmen. Denn dieser Katalogwahnsinn führt ja in der Realität vermutlich zu sowas wie einem Pauschaleinkommen mit gewissen Leistungstangenten, eine Art situationselastischer Einkommenssituation. Zwar sind all diese Quersubventionierungen völlig unüberschaubar, könnten aber dazu führen, dass die Patienten der unterschiedlichen Kassen in den unterschiedlichen Bundesländern und in Zusammenschau mit Spitalsambulanzen und Wahlärzten richtig versorgt werden. Alleine, wir wissen es nicht. Und solange niemand genau schaut oder sogar wegschaut, funktioniert alles bestens.
Was jedoch, wenn Informationen entstünden, die zeigen, dass etwa die Versorgung gerade chronisch Kranker schlecht funktioniert (und dass dem so ist, gibt es doch mehr als deutliche Hinweise, wie hier nachzulesen ist), dann stehen wir vor einem Dilemma. Denn, es ist praktisch nicht möglich herauszufinden, woran das liegt, oder wie man es verbessern könnte, da eben die Anreize völlig ziellos gesetzt werden, und die Lage dermaßen komplex ist, dass es unmöglich ist, auch nur irgendwelche Maßnahmen zu setzen, ohne dass nicht das ganze System in Mitleidenschaft gezogen wird. Eine punktuelle Verbesserung ist unmöglich.
Es ist es daher dringend erforderlich, Komplexität aus dem System zu nehmen. Lösen könnte man das nur, wenn die Kataloge einheitlich wären – doch die Einführung eines solchen Katalogs würde Versorgungsschwächen (Über-, Unter-, Fehlversorgung) transparent werden, die aktuell nicht bekannt sind. Aber weil niemand an irgendetwas schuld sein will, ist es politisch besser, alles so zu belassen wie es ist, und in eventu einzelne Ärzte zu diskreditieren.