Am 20. 03. 2014 wurden sie beschlossen, die völlig unnotwendigen (also keine Not vermeidenden) Gratiszahnspangen. Zeit, aufzuzeigen, dass die österreichische Gesundheitspolitik durch und durch unmoralisch handelt.
Eine der wichtigsten und zugleich schwierigsten Aufgaben verantwortungsbewusster, sozialer Gesundheitspolitik ist, zu entscheiden, wem welche Ressourcen für was zur Verfügung stehen – also Prioritäten zu setzen
International wird die Diskussion über die Priorisierung medizinischer Leistungen seit langem geführt. Seit Jahren steht in allen europäischen Gesundheitssystemen fest, dass sich nicht die Frage stellt, OB priorisiert werden soll, sondern vielmehr WIE. In vielen Ländern, wie z.B. Schweden wurden auch vor längerem bereits klare Gesetze dazu beschlossen.
Der Grund, warum andere Länder sich diesem Thema längst gewidmet haben liegt in der nun mal klar erkennbaren Tatsache, dass Ressourcen knapp sind. Die Idee der unendlichen Ressourcen ist nicht vertret- oder verteidigbar. Wenn allerdings Ressourcen nur knapp vorhanden sind, muss sich ein solidarisch finanziertes Gesundheitswesen mit der Frage auseinandersetzen, wer was kriegt, wer was nicht kriegt – man nennt das auch das Allokationsproblem.
Eigentlich ist es ethisch nicht vertretbar, Rationierungen – der eher passive Zwilling der Priorisierung – vorzunehmen, solange Rationalisierungen (also ein vernünftigerer Einsatz von Ressourcen) möglich sind.
Beim Thema Rationalisierung denke ich in Österreich da ganz klar an die ressourcenintensive Versorgung über Spitäler, die in der existierenden Dimension definitiv eine unvernünftige Verschwendung darstellt. Solange wir es uns also leisten, diese spitalslastige Versorgung durchzuführen, dürfte es hierzulande gar keine Priorisierung oder Rationierung geben. Nichts desto trotz erleben wir sie ständig, wenn auch selten so plakativ wie in der Frage Zahnspangen vs. Kinderrehabilitation. Denn da nicht beides finanziert wird (auch wenn die Politik nicht müde wird von „sowohl als auch“ statt „entweder oder“ zu sprechen), muss ja wohl eine Rationierung vorliegen.
Wenn unsere Gesundheitspolitiker also schon offenbar, wenn auch insgeheim, rationieren (sie würden das nie zugeben, egal wie offensichtlich es ist), sollte diese Rationierung doch wenigstens nach vernünftigen, und ethisch vertrebaren Kriterien erfolgen. Was also mit den vorhandenen Ressourcen realisiert wird, was nicht, sollte nach klaren Prioritäten erfolgen, die nachvollziehbar, also transparent, festlegen, welche medizinischen Leistungen wichtiger sind, als andere – und warum das so ist.
Daher stellt sich die Frage, wie kann man vernünftigerweise feststellen, welche medizinische Leistung wichtig, welche wichtiger, welche unwichtiger ist? Auch dazu haben andere Länder längst schon Antworten und einen Maßstab gefunden – den Patientennutzen.
Patientennutzen – ein schwieriges Schlagwort, voller ethischer Fallstricke, die jedoch von verschiedenen Ethikkommissionen, wie z.B. dem deutschen Ethikrat ausführlich thematisiert wurden. Am Ende bleibt, dass der Patientennutzen in den Dimensionen Lebensqualität und Lebensdauer gemessen werden kann. Anders ausgedrückt, jede medizinische Leistung soll in ihrem Patientennutzen dahingehend gemessen werden, wie viel Lebensqualität UND Lebensdauer sie „erzeugt“. Wenn es dann darum geht, mit bestimmten und knappen Ressourcen Leistungen zu realisieren, dann ist es ein ethischer Auftrag, zuerst jene Leistung zu realisieren, die einen höheren Patientennutzen erwarten lässt. Die Priorisierung der Leistungen findet also so statt, dass mit den eingesetzten Ressourcen der größte Patientennutzen erzeugt werden kann – das ist es, was ein solidarisch finanziertes, öffentliches Gesundheitssystem tun sollt.
Nun, was passiert gerade in Österreich und ist so ganz gegen jegliche international beobachtbare Bestrebung?
80 Millionen Euro, so schätzt das Gesundheitsministerium, wird es kosten, alle Kinder mit Gratis-Zahnspangen zu versorgen. Aber natürlich auch nur, wenn es gelingt, den erwünschten Preisverfall der Spangen bei den Verhandlungen mit den freiberuflichen Zahnärzten zu erreichen. Das Geld für diese Zahnspangen stellt der Bund den Krankenkassen zur Verfügung (also eine Sonderfinanzierung über Steuergelder). Profitieren sollen davon 85.000 Kinder.
Der Grund, warum diese Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, wird fallweise medizinisch (Folgeschäden und -kosten bei schiefen Zähnen) nach außen aber meist sozialpolitisch argumentiert; durch diese Ressourcen soll die „soziale Stigmatisierung unserer Kinder“ beendet werden.
Nun, es ist in manchen Kreisen, die vornehmlich sozialistisch sind, löblich, mit Gesundheitsausgaben Sozialpolitik zu betreiben, wie wenn es auch für die vorliegende Problematik in Österreich kaum Hinweise gibt, dass durch die derzeitige kieferorthopädische Versorgung eine soziale Stigamtisierung stattfindet.
In anderen, europaweit betrachtet deutlich größeren Kreisen, geht es bei der Entscheidung, wer welche Ressourcen erhält doch meistens um den Patientennutzen. Und da stellt sich schon die Frage, ob diese 80 Millionen Euro nicht besser verwendet werden könnten? Was könnte man sich sonst noch so um diesen Betrag leisten?
Das von BM Alois Stöger und Vorgängern versprochene bedarfsorientierte Angebot stationärer Kinder-Rehabilitation für schulpflichtige Kinder, die seit Jahrzehnten im Argen liegt, würde jährlich etwa 18 Millionen Euro kosten. Werden, wie ebenfalls schon lange versprochen, die ambulanten therapeutischen Angebote (Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädische Therapie sowie Psychotherapie) ausreichend und OHNE Selbstbehalt zur Verfügung gestellt, würde das jährlich etwa 40 Millionen Euro kosten. Von so einem Angebot würden jährlich etwa 70.000 Kinder profitieren. Und damit die Zuweisung zu den rehabilitativen Angeboten auch gut funktioniert, könnte man die Zahl der Kassenkinderärzte um ein Drittel erhöhen, was noch mal 25 Millionen Euro kostet.
Macht zusammen 83 Millionen Euro, die ausschließlich in die Kinderversorgung – einem Schwerpunktthema wie Stöger unter Verweis auf seinen Kindergesundheitsdialog (übrigens eine Idee von der BM a.D.Rauch.Kallat aus dem Jahr 2004) nicht müde wird zu betonen – investiert würden.
Die Frage ist, würden diese Maßnahmen einen höheren Patientennutzen erzeugen als die Gratis-Zahnspangen?
Nun, dass wissen wir in Österreich offiziell natürlich nicht, auch wenn jeder Gesundheitsökonom weltweit hier aus dem Stand ein klare Antwort geben könnte. Nicht das nicht irgendwer sich das auch hierzulande offiziell ausrechnen könnte, nein, es ist schlicht für die Entscheidung, wo denn die Ressourcen hinfließen irrelevant. Selbst die Aufrechnung solcher Dinge wird als unmoralisch abgetan (es ist in Wahrheit natürlich doppelmoralisch), da man doch Patientengruppen nicht gegeneinander ausspielen darf. Leider aber, sind Ressourcen, auch wenn es viele nicht hören wollen, real immer knapp. Die Entscheidung, wer welche kriegt ist nun einmal zu treffen.
In einem öffentlichen Gesundheitswesen werden diese Allokationsfragen von der Politik und nicht dem Markt beantwortet, weil man davon ausgeht, dass die Politik moralisch bessere Entscheidungen treffen kann – doch wie es aussieht, ist bei uns der Fang von Wählerstimmern wichtiger als der Patientennutzen und damit die Frage, was finanziert werden soll klar beantwortet.
Legt man die in solidarisch finanzierten Gesundheitsystemen akzeptierten ethischen Maßstäbe an, dann verhält sich die österreichische Gesundheitspoitik extrem unmoralisch – sie rationiert bevor sie rationalisiert, und sie verwendet Prioritäten, die sich an der Wählerstimmenmaximierung und nicht der Patientennutzenmaximierung orientieren. Als Folge dieses unmoralischen Verhaltens werden wir wohl noch sehr viele, nicht wahlentscheidende Randgruppen beobachten können, die in großen Versorgungslücken verschwinden – und das stimmt mich traurig.