Hintergrund
Die moderne Definition der Gesundheitsversorgung umfasst alle Dienstleistungen, Aktivitäten oder Beratungen, seien sie gesundheitserhaltender, präventiver, diagnostischer, therapeutischer, rehabilitativer, pflegender oder palliativer Natur. Wesentlich ist nur, dass sie sich mit Krankheiten oder Symptomen, die ein Individuum aufweist, beschäftigen, unabhängig ob sie körperlich, seelisch oder verhaltensmäßig sind, einzelne Zellen oder Gene, Strukturen oder Funktionen des Körpers oder eines Teils des Körpers betreffen. Gesundheitsversorgung ist also geprägt von einer Unmenge an Einzelmaßnahmen (als Beispiel sei nur angemerkt, dass es alleine in Österreich ca. 120 bis 150 Millionen Arzt-Patienten-Kontakte gibt), die in Summe das Ziel haben sollten, die Gesundheit des einzelnen und der Bevölkerung insgesamt zu verbessern oder zu erhalten.
Die Definition von Gesundheit ist sehr schwierig, daher hat sich rund um die Maßnahmen der Gesundheitsversorgung ein dichtes Netz an Wissenschaften entwickelt. Das Gut Gesundheit ist zu wertvoll, als dass man auf Maßnahmen setzte, die Quacksalberei gleichzusetzen wären. Daher ist auch die Ausbildung in Gesundheitsberufen überall streng geregelt, Kurpfuscherei wird sogar strafrechtlich verfolgt. Diese Wissenschaften, von der Medizin bis zur Pflegewissenschaft, haben eine Fülle an Erkenntnissen geliefert, welche Maßnahmen zielführend sind, welche nicht, welche besser sind als andere, welche mehr Nebenwirkungen haben, welche weniger. Das Wissen um Maßnahmen in der Gesundheitsversorgung wird immer größer.
Ein Effekt des stetig steigenden Wissens ist eine immer weitergehende Spezialisierung. Gab es vor hundert Jahren noch so etwas wie den allgemeinen Internisten, den allgemeinen Chirurgen und den fast alles machenden Hausarzt, ist die Innere Medizin heute in zahlreiche Subdisziplinen zerfallen, die sich entweder nur mit der Niere, oder der Lunge, oder dem Stoffwechsel beschäftigen. Die Chirurgen haben sich in Kinderchirurgie, Unfallchirurgie, Orthopädie, Bauchchirurgie, Herzchirurgie, Gefäßchirurgie, Lungenchirurgie etc. spezialisiert. Auch im nichtärztlichen Bereich lässt sich ähnliches feststellen, wie man an Hand der Fülle der Gesundheitsberufe sieht: Angehörige der Gesundheits- und Krankenpflege, Hebammen, Gesundheitspsychologe(in), Kardiotechniker(in), klinische(r) Psychologe(in), Pharmareferent(in), Psychotherapeut(in), Angehörige der gehobenen medizinisch-technischen Dienste, die in Dipl. Physiotherapeut(in), Dipl. biomedizinische Analytiker(in), Dipl. radiologisch-technische(r) Assistent(in), Dipl. Diätassistent(in) und ernährungs-medizinische(r) Berater(in), Dipl. Ergotherapeut(in), Dipl. Logopäde(in), Dipl. Orthoptist(in) eingeteilt werden können, Dipl. medizinisch-technische Fachkraft, Sanitäter(in), Medizinischer Masseur(in) und Heilmasseur(in) und schließlich die Sanitätshilfsdienste bestehend aus Operationsgehilfe(in), Laborgehilfe(in), Prosekturgehilfe(in), Ordinationsgehilfe(in), [Heilbademeister(in) und Heilmasseur(in)], Heilbadegehilfe(in), Ergotherapiegehilfe(in), Desinfektionsgehilfe(in).
Diese Entwicklung zeigt eine Spirale der aufgeklärten Wissensgesellschaft auf. Das ständig wachsende Wissen führt dazu, dass es immer weniger Menschen gibt, die alles Wissen, ja nicht einmal ein einzelnes Wissensgebiet ausreichend beherrschen, um es anzuwenden, aber auch zu lehren. Daher konzentrieren sie sich auf ein Teilgebiet. Durch diese Konzentration auf ein Teilgebiet kommt es jedoch wieder zu vermehrtem Wissenszuwachs, der schließlich wieder in einer weiteren Subspezialisierung münden muss. Diese Entwicklung existiert seit der Aufklärung, hat sich jedoch seit der Einführung der elektronischen Datenverarbeitungsmöglichkeiten dramatisch beschleunigt.
Eminenzbasierte Gesundheitspolitik
In der Medizin muss man davon ausgehen, dass sich der Wissensstand alle fünf bis sieben Jahre verdoppelt. Ein Medizinstudent, der für seine Ausbildung sechs Jahre braucht, hat daher am Ende seines Studiums gerade einmal genug Rüstzeug, die ersten paar Jahre damit auszukommen. Sollte er sich nicht ausreichend fortbilden oder fortgebildet werden, was man beispielsweise im Bereich der Jungärzte-Ausbildung in Österreich ständig bemängelt, dann ist sein Wissen in kürzester Zeit veraltet. Die einzige Chance, am aktuellen Stand des Wissens zu bleiben, ist das lebenslange lernen. Im Bereich der Gesundheitswissenschaften und hier im Besonderen in der Medizin, fordert es jedoch einen so hohen Zeiteinsatz, dass man leider davon ausgehen muss, dass dieser Aufwand durch den einzelnen nicht erbracht wird. Leider ist es Realität, dass das Wissen in der ersten Hälfte der Karriere eines Arztes am höchsten ist, sein Einfluss aber erst in der zweiten Hälfte wächst. Damit kommt es zum Phänomen, dass häufig die leitenden Ärzte in der Praxis weniger wissen als ihre nachgeordneten Ärzte. Solange das Wissensdefizit durch größere Erfahrung gefüllt werden kann, wird es zu keinen Problemen führen. Das wird solange möglich sein, wie der erfahrene Arzt bereit ist, stets Neues zu lernen. Wenn das allerdings nicht oder nicht mehr gelingt, dann sind Konflikte vorprogrammiert. Konflikte, die nicht aus persönlichen Charakterzügen resultieren, sondern aus dem Wunsch der jungen Ärzte, entsprechend den wissenschaftlichen Ergebnissen zu handeln und der disziplinarischen Macht der „alten Ärzte“, Behandlungsmethoden entsprechend der eigenen Erfahrung vorzuschreiben. In der Welt der Ärzte ist also ein Generationenkonflikt systemimmanent.
Ein zweites Phänomen setzt an diesem Punkt an. Krankenhäuser sind in der Regel für die Ausbildung der Ärzte wesentlich. Wenn zwischen den jungen Ärzten und der Leitung bereits ein Konflikt über Behandlungsmethoden entstanden ist, dann werden insbesondere die guten jungen Ärzte über kurz oder lang eine Absprungmöglichkeit suchen, da sie es ja auch sind, die auf Grund ihres Wissens diese Konflikte hervorgerufen haben. Die Folge davon ist eine ungewollte „negative Selektion“ unter den im Krankenhaus verbleibenden „Ausbildnern“. Was das für Folgen hat, erklärt sich selbst. Doch auch außerhalb des Krankenhauses setzt sich das Prinzip der jungen „wissensstarken“ Ärzte in Konkurrenz zu etablierten „erfahrenen“ Ärzten fort. In Österreich typischerweise über die Interessensvertretung der Ärztekammer. Auch wenn solche Situationen in der ärztlichen Welt der Gesundheitsversorgung am stärksten anzutreffen sind (sie spielen auch die wichtigste Rolle), ist keine Berufsgruppe davor gefeit.
Unter diesen Umständen kristallisiert sich im Laufe der Zeit eine Gesundheitsversorgung heraus, in der zunehmend Erfahrung höher bewertet wird, als Wissen. In weiterer Folge werden nicht nachprüfbare Ergebnisse als wahr angenommen, sondern Aussagen als wahr gewertet, solange sie nur von einer erfahrenen Persönlichkeit stammen. Wahr ist nicht, was bewiesen werden kann, sondern was ein erfahrener Arzt sagt. Wie dargestellt, ist es für den Einzelnen jedoch immer schwieriger, die Unmenge an wissenschaftlichen Erkenntnissen wahrzunehmen, geschweige denn sie in der Praxis umzusetzen. Dazu kommt, dass bei Fragestellungen in der Regel nicht Personen gefragt werden, die sich mit einem Thema nachweislich auskennen (weil sie beispielsweise in dem Bereich forschen), sondern immer stärker auf „etablierte Experten“ zurückgegriffen wird. Insbesondere die Medien ziehen für Interviews lieber „große Namen“ heran als „unbekannte Wissenschafter“. In die gleiche Presche springen dann auch Politiker, die sich ebenfalls „große Namen“ in ihren Beraterstab holen. Und auf diesem Weg werden sich zunehmend jene Ärzte durchsetzen, die medial gut ankommen oder ein politisches Gespür besitzen und jene Ärzte, die wissensorientiert sind, zurückdrängen.
Die oben skizzierte Entwicklung stellt keinesfalls eine österreichische Spezialität dar, sondern war in allen Ländern zu beobachten. Österreichspezifisch ist höchstens das starke festhalten am Senioritätsprinzip, das einer solchen Entwicklung Vorschub leisten kann. In der Literatur ist diese Entwicklung als sogenannte eminenzbasierte Medizin bekannt. Also eine Medizin, die sich nicht daran orientiert, was als bewiesen gelten kann, sondern daran, was eine „(graue) Eminenz“ sagt. Es gilt das Prinzip, „Wahr ist, was die Eminenz sagt“ So werden wesentliche Entscheidungen zunehmend von Eminenzen bestimmt, die sich an Wissenschaftsergebnissen halten können, aber nicht müssen. Allerdings endet eine solche eminenzbasierte Medizin nicht bei der Behandlung einzelner Menschen, sonder erfasst über kurz oder lang auch die gesamte Gesundheitspolitik. Das führt dazu, dass sich Eminenzen der Gesundheitspolitik mit den Eminenzen der Medizin gemeinsam auf eine eminenzbasierte Gesundheitsversorgung „einigen“. Die Folge dieser Entwicklung ist eine Gesundheitsversorgung, die bestimmt wird durch die (äußerst subjektive) Erfahrung von Personen und nicht durch die Erkenntnisse der Forschung. Ein solches System ist allerdings nur so lange als modern zu bezeichnen, wie die Erfahrung der Entscheidungsträger ausreicht, das Wissensdefizit auszugleichen. In einem Bereich, der sich jedoch so dynamisch entwickelt wie die Gesundheitswissenschaften, ist diese Periode nur kurz.
Finanzielle Konsequenzen eminenzbasierter Gesundheitspolitik
Wie bereits angedeutet, endet eminenzbasierte Gesundheitsversorgung nicht beim Patienten oder Arzt. Die lebenserhaltende Triebfeder eminenzbasierter Medizin ist eine eminenzbasierte Gesundheitspolitik. In demokratischen Ländern ist es selbstverständlich, dass gewählte Volksvertreter strategische Entscheidungen treffen. Um diese Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen treffen zu können, stellt in der Regel das Volk seinen Vertretern ein Heer an Beamten, Dienststellen und steuerfinanzierten Parteiapparaten zur Verfügung, in denen genug Expertise gesammelt werden sollte, um die richtigen Entscheidungen zu treffen – und in vielen Fällen funktioniert das auch gut.
In der Gesundheitsversorgung allerdings, versagen solche Expertenentscheidungen sehr leicht. Man muss sich vorstellen, dass Ärzte höchstes Sozialprestige haben, sie moderieren alleine in Österreich 120 bis 150 Millionen Arztpatientenkontakte pro Jahr. Dazu kommt, dass innerhalb der Ärzteschaft eine streng hierarchische Organisation besteht und eminenzbasierte Aussagen viel wichtiger genommen werden als kühle rationelle Expertenentscheidungen. In so einem Umfeld wirken Expertenentscheidungen sehr rasch kalt, herzlos und unpersönlich. Politiker allerdings müssen solche Entscheidungen „verkaufen“. Es verwundert daher auch nicht, dass sich eminenzbasierte Gesundheitspolitik leichter durchsetzt, als Expertenentscheidungen. Umso mehr, als es ein alter Leitsatz der Politik ist, dass man mit Gesundheitspolitik keine Wahlen gewinnen, sehr wohl aber verlieren kann.
Die Folge einer solchen eminenzbasierten Gesundheitspolitik ist, dass sich die Politik weder an Ressourcen noch an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert und viel zuviel verspricht. (Spitzenmedizin für alle!). Es ist eigentlich unmöglich vorauszusagen, was es kosten würde, wenn eminenzbasierte Gesundheitspolitik gänzlich ohne finanzielle Schranken agieren könnte – das würde wohl irgendwo zwischen 10 000 und 15 000 Euro pro Kopf und Jahr liegen. Das BIP, also das gesamte, pro Jahr erarbeitete österreichische Volksvermögen, beträgt aufgerechnet pro Kopf etwa 32 000 Euro. Eine eminenzbasierte Gesundheitspolitik würde also die Hälfte der Produktivtät Österreichs für die Gesundheitsversorgung aufgewenden.
Eminenzbasierte Gesundheitspolitik hat in allen Sozialsystemen zu immer stärker steigenden Kosten und Steuern geführt. Solange eminenzbasierte Gesundheitspolitik betrieben wird, sind die Grenzen der Finanzierbarkeit möglicherweise mit sozialen Unruhen verbunden. Es gibt nicht wenige Experten, die vor solchen Entwicklungen warnen, wenn nicht bald Vernunft in alle Sozialsysteme und hier insbesondere bei den Pensionssystemen und Gesundheitssystemen einzieht.
Evidenzbasierte Gesundheitspolitik
Evidenzbasierte Medizin – EBM
Mittlerweile existieren zu sehr vielen Themen wissenschaftliche Studien. Eine wissenschaftliche Studie läuft in der Regel nach immer den gleichen Mechanismen ab. Ein Wissenschafter stellt sich zu einem Thema eine Frage. Er beginnt zu recherchieren, welche Antworten andere Wissenschafter zu diesem Thema bereits haben. Dazu verwendet er in der Regel wissenschaftliche Datenbanken. In diesen Datenbanken liegen tausende und abertausende Publikationen (alleine 2009 wurden weltweit etwa 760.000 gesundheitswissenschaftliche Studien veröffentlicht) , die in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen sind. Gibt es keine Antwort in der Literatur, dann wird er eine Studie machen, Antworten finden und diese publizieren.
Man kann sich vorstellen, wie viel Arbeit es bedeutet, nur in seinem Spezialgebiet am Laufenden zu bleiben. Noch dazu ist der hier beschriebene Weg ganz klar ausschließlich für Wissenschafter begehbar. Kein „normaler“ Arzt an der „Front“ darf sich auf ein einziges Gebiet konzentrieren oder hat auch nur annähernd die Zeit, sich mit diesen Dingen fundiert auseinanderzusetzen. Die immer stärker steigende Zahl wissenschaftlicher Erkenntnisse auf der einen, die immer geringer werdenden Ressourcen (Zeit und Geld) auf einer anderen und die immer höher werdenden Qualitätsansprüche (die auch in Europa zunehmend vor Gerichten eingeklagt werden) auf der dritten Seite, lassen die Gesundheitsversorgung in einem hohen Spannungsfeld stehen.
Um nun trotzdem die Wissenschaftlichkeit nicht gänzlich als Basis für Entscheidungen zu verlieren und in das Zeitalter der Erfahrungsmedizin zurückzufallen, um wissenschaftliche Erkenntnisse effizient in die tägliche Praxis einzuführen, hat sich parallel zur Entstehung der modernen wissenschaftsbasierten Medizin die Idee herauskristallisiert, wissenschaftliche Arbeiten systematisch aufzuarbeiten. Das ist die Idee der Evidenzbasierten Medizin (EBM), bzw. die Praxis der Evidenzbasierten Medizin.
Der Ausdruck Evidenz stammt aus dem lateinischen und bedeutet ersichtlich, augenscheinlich und in weiterer Folge Beweis. Evidenzbasierte Medizin bedeutet daher, beweisgestützte Medizin. Es ist ein großer Irrtum, wenn in der Öffentlichkeit davon gesprochen wird, dass EBM alle Maßnahmen, die keinen beweisbaren Effekt erzielen, verbieten will. Dieser Irrtum beruht auf der teils unehrlich geführten Diskussion durch die Eminenzen, die in der EBM einen natürlichen Feind sehen. EBM sieht sich in einer komplett konträren Rolle. EBM bedeutet entsprechend der Definition, der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EBM bedeutet die Integration individueller klinischer Erfahrung mit der besten verfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung – und hat daher nichts mit Verboten zu tun!
Die Idee hinter EBM ist im Grunde sehr einfach. Statt eine wissenschaftliche Frage selbst zu recherchieren, lässt man diese durch eigens eingerichtete Institutionen recherchieren. Diese Institutionen heben alle Publikationen zu der gestellten Frage aus. Die Publikationen werden nach bestimmten Regeln sortiert und auf ihre Beweiskraft bewertet. Um zu verstehen, wie es möglich ist, Studien nach ihrer Beweiskraft zu ordnen, muss man wissen, dass die Beweiskraft einer Studie maßgeblich von ihrem Design abhängt und nicht jede Studie geeignet ist, die ihr gestellten Fragen richtig zu beantworten. In der EBM sortiert man daher die gefundenen Studien nach ihrer Beweiskraft und wertet natürlich die Studien mit hoher Beweiskraft höher, als Studien mit geringerer Beweiskraft. Um es vorwegzunehmen, man muss Erfahrung und Übung besitzen, um herauszufinden, wie gut oder schlecht eine Studie eine Frage beantwortet. Die systematische Aufarbeitung der gefundenen Publikationen führt zu einem Bericht, der knapp und verständlich die Sachlage zusammenfasst.
Wenn wir also zusammenfassen: EBM ist keine Forschungsrichtung, sondern eine Dienstleistung, die nach transparenten Regeln Sekundärliteratur für die tägliche Praxis herstellt (ähnlich einem Gastronomieführer). Die EBM verfolgt die Absicht, die Kluft zwischen den ständig steigenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem täglichen Leben zu überwinden.
Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung – EBGV
Der Erfolg dieser Vorgehensweise war so groß, dass innerhalb kürzester Zeit, andere Wissenschaftszweige die Methode übernommen haben. Mittlerweile gibt es sogar evidenzbasiertes Management. Für die Gesundheitsversorgung wichtig war die Entwicklung der sogenannten evidenzbasierten Gesundheitsversorgung. Sie stellt im Wesentlichen die konsequente Weiterführung der Public-Health-Forschung dar und ist mittlerweile ein Rückgrad für Entscheidungen in vielen Gesundheitssystemen geworden. Anders als die EBM, die meist nur die Effektivität der untersuchten Maßnahme untersucht, setzt die evidenzbasierte Gesundheitsversorgung dies in den Kontext des Ressourceneinsatzes. Das klingt in vielen Ohren sicher hart, aber es ist logisch. Denn nur bei Vorhandensein unendlicher Ressourcen kann der Kostenfaktor (also der Ressourcenverbrauch) aus dem Gesundheitswesen ausgeblendet werden. Da das jedoch keine unendlichen Ressourcen gibt, müssen diese vernünftig eingesetzt werden. Ein vernünftiger Einsatz erzwingt jedoch das Anstellen von Kosten-Nutzen-Rechnungen. Das ist keine Forderung von neoliberalen Ökonomen, sondern seit langer Zeit als Wirtschaftlichkeitsprinzip gesetzliche Vorschrift. Und genau dieses Wirtschaftlichkeitsprinzip fordert, dass bei gegebenen Ressourcen ein Maximum an Nutzen zu erzielen ist. Wenn also der maximale Nutzen erzielt werden soll, muss man als Entscheidungsträger wissen, welchen Nutzen eine Maßnahme hat und was diese Maßnahme kostet. Evidenzbasierten Gesundheitsversorgung nimmt damit die Rolle wahr, die Erkenntnisse der Gesundheitswissenschaften und der Wirtschaftswissenschaften so zusammenzuführen, dass eine beweisgestützte Entscheidung auch durch Nicht-Experten möglich wird. Um diese Rolle wahrnehmen zu können, stehen zwei Instrumente zur Verfügung, die unterschiedliche Ziele verfolgen. Es sind dies einerseits die Leitlinien, andererseits die Health-Technology Assessment-Berichte (HTA-Berichte).
Leitlinien
Für fast jede Krankheit gibt es verschiedene Behandlungen. Der Grund, warum es meist mehr als eine Behandlungsoption gibt, liegt in der Individualität jedes Patienten und dem Wunsch des behandelnden Arztes, das Beste für seinen Patienten zu tun. Um das Ziel zu erreichen, wurde seit jeher direkt am Patienten „ausprobiert“ und zwar mit Einverständnis des Patienten. Je erfahrener ein Arzt war, desto größer war sein „Repertoir“ an Behandlungsmöglichkeiten.
Je weiter die Wissenschaft fortschreitet, umso größer und vielfältiger werden diese Optionen und umso weniger kann der Arzt ausprobieren und sich auf seine Erfahrung stützen. Leitlinien versuchen nun, diese Behandlungsoptionen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu ordnen und aufzuarbeiten, dass Ärzte in der Praxis einen raschen Überblick über die Behandlungsoptionen und eine klare Empfehlung über die Behandlung einer bestimmten Krankheit erhalten. Dabei werden Leitlinien so erstellt, dass auch der Zustand eines Patienten berücksichtigt wird. Es soll also dem Arzt möglich werden, je nach Zustand und Umständen des Patienten eine Therapieoption zu wählen. Jede Option wird dem aktuellen Wissensstand entsprechend beschrieben. Eine wesentliche Zielvorstellung von Leitlinien ist es, möglichst alle Patienten am Fortschritt der Medizin so zeitnah wie möglich teilhaben zu lassen. Man verspricht sich dadurch nicht nur eine Effektivitätserhöhung, sondern klarerweise auch eine Effizienzsteigerung. Also, dass bei gegebenen Ressourcen der Patientennutzen gesteigert werden kann. Leitlinienmedizin ist nicht als Korsett für die Behandlung zu verstehen, sondern als Hilfestellung bei der Therapieentscheidung durch den behandelnden Arzt.
Im Gegensatz zu den EBM-Berichten, können Leitlinien nicht mehr ausschließlich von unabhängigen EBM-Experten erstellt werden, sondern müssen mit Experten der einzelnen medizinischen Disziplinen (z. B.: Internisten, Chirurgen etc.) in Konsenskonferenzen diskutiert und beschlossen werden. Daher spielen die wissenschaftlichen Fachgesellschaften in der Leitlinienmedizin eine wesentliche Rolle. In der Regel sind es sogar diese Fachgesellschaften selbst, die die Entwicklung der Leitlinien anstrengen. Die große Schwierigkeit solcher Leitlinien ist nicht so sehr die erstmalige Erstellung, sondern vielmehr die kontinuierliche Wartung. Durch den Fortschritt der Wissenschaft ist die Wartung eine ständige Aufgabe und verlangt eine fachlich versierte Koordination.
Eine Weiterentwicklung von Behandlungsleitlinien, wie sie gerade skizziert wurden, sind Versorgungsleitlinen (in der englischen Literatur auch Disease-Management-Programme genannt, also Krankheits-Management-Programme). Liegt bei Behandlungsleitlinen der Focus auf den Behandlungsoptionen einer bestimmten Krankheit, wird bei Versorgungsleitlinen auch die logistische Frage gestellt. Es soll auch die Frage beantwortet werden, wo und wann die Behandlung durch wen richtigerweise zu erfolgen hat. Richten sich Behandlungsleitlinen an den individuellen Arzt, sind Versorgungsleitlinen gedacht, politische Entscheidungsträger zu unterstützen. In Versorgungsleitlinien sind daher neben den richtigen Behandlungen, die vorausgesetzt werden, auch Gesundheitsziele definiert. Meist sind Gesundheitsziele, deren Aufstellung ursprüngliche Aufgabe der Gesundheitspolitik ist, auch der Ausgangspunkt für die Erstellung von Versorgungsleitlinien. Man muss sich vorstellen, dass die Politik beispielsweise das Ziel definiert, die Anzahl der Herzinfarkt-Toten bei den unter 60-Jährigen um 50 % zu reduzieren. Um das zu erreichen, ist nicht nur eine optimale Behandlung nötig, sondern auch, dass die Patienten in entsprechender Entfernung eine ausreichend ausgestattete Versorgungseinrichtung in entsprechender Zeit vorfinden, in der die optimale Behandlung qualitativ auch erbracht werden kann. Also müssen genug Spitäler mit ausreichend qualifiziertem Personal und Therapiemöglichkeiten vorhanden sein, es müssen genug Rettungswägen vorhanden sein, damit der Patient schnell in ein solches Spital gebracht werden kann, es muss genug Ärzte geben, die ausreichend diagnostische Erfahrung haben, um Herzinfarkte schnell zu diagnostizieren und schließlich muss es entsprechende Maßnahmen geben, die die Bevölkerung aufklären, mit welchen Symptomen sie rasch zu einem Arzt gehen sollen. Nur wenn diese Versorgungskette funktioniert, ist es möglich, Gesundheitsziele zu erreichen. Und dass sie funktionieren können, setzt Planung voraus, die sich an den Versorgungsleitlinen orientieren muss.
Entsprechend dieser Aufgabe ist es verständlich, dass sich Versorgungsleitlinien in der Regel auch nicht mit seltenen Krankheiten beschäftigen. Behandlungsleitlinien sind theoretisch für alle Krankheiten aufstellbar. Limitierend ist in der Regel die ressourcenaufwendige Wartung, also die Ressourcen der Experten, die nur solange Experten bleiben können, solange sie Patienten behandeln. Das schränkt ihre zeitlichen Ressourcen in der Regel soweit ein, dass es zwar für viele, aber bei weitem nicht für alle Krankheiten Behandlungsleitlinien gibt oder geben kann. Bei Versorgungsleitlinien, die ja in der Regel auf Behandlungsleitlinien aufbauen, müssen eventuell ganze Organisationen und Einrichtungen auf ein Ziel ausgerichtet werden, es müssen Spitäler gebaut oder umgerüstet, Ärzte angesiedelt, Personal qualifiziert, Transportmittel angeschafft und Patienten überzeugt werden. So ein Unterfangen zahlt sich nur für sogenannte Volkskrankheiten wie Zuckerkrankheit, Herzgefäßerkrankung etc. aus.
Leitlinien, ob Behandlungsleitlinien für Ärzte oder Versorgungsleitlinien für Politiker, haben beide das Ziel, den direkten Anwendern praktische Entscheidungshilfen zu geben. Sie zeigen einen idealen und wissenschaftlich abgesicherten Verlauf auf, an dem man sich orientieren kann.
Health-Technology Assessment-Berichte (HTA-Berichte).
Haben Leitlinien in erster Linie die Behandlung, bzw. Versorgung von Patienten als Thema, beleuchten HTA-Berichte die ökonomischen Gesichtspunkte. Der klassische HTA-Bericht dient dazu, zwei oder mehrere Behandlungsoptionen ökonomisch zu vergleichen. In der Regel entsteht eine neue Behandlungsoption durch eine Erfindung oder Entwicklung einer neuen Technologie, wobei Technologie hier im weitesten Sinne zu verstehen ist. Als Technologie werden beispielsweise auch neue Medikamente oder Behandlungsformen ohne besonderen technologischen Aufwand gewertet. Daher auch der Name, der etwas sperrig übersetzt etwa Gesundheitstechnik-Folgekosten-Abschätzung bedeuten könnte.
Man muss sich das so vorstellen: Wenn für eine Krankheit A zwei Behandlungsmöglichkeiten bestehen, dann, das sagt bereits der Hausverstand, sollte man die nehmen, die besser wirkt. Wenn beide gleich wirksam sind, dann nimmt man die günstigere. Wenn eine ein bisschen wirksamer als die andere ist, dafür aber ein Vielfaches kostet, wird die Situation schon knifflig. Steht der Preis dafür oder nicht? Jeder, der schon einmal Semmeln gekauft hat, kennt diese Entscheidungsprobleme. Im Bereich der Behandlungsoptionen wird diese Entscheidungsschwierigkeit jedoch zu einer schwierigen ethischen Frage! Wer erhält welche Behandlung und woher nehme ich das Geld?
Wie wir festgestellt haben, kann nur im unrealistischen Fall unendlicher Ressourcen einfach festgelegt werden, dass immer die wirksamere Therapie gewählt wird – koste es was es wolle. In den meisten westlichen Ländern wurde erkannt, dass so eine Vorgangsweise zu einer Unfinanzierbarkeit führen muss. Darum musste eine Entscheidungsgrundlage geschaffen werden, die den Entscheidungsträgern, und hier im Besonderen den Geldgebern (z. B. Versicherungen) hilft, Behandlungsoptionen zuzulassen oder nicht zuzulassen.
Die besondere Aufgabe der HTA-Berichterstattung ist es, Behandlungsoptionen so aufzubereiten, dass sie vergleichbar werden. Das ist in der Regel sehr schwierig. Jede Behandlungsoption hat Wirkungen und Nebenwirkungen. Beides muss irgendwie gemessen und gegeneinander aufgewogen werden. Um solche Fragen zu beantworten, haben sich in der Wissenschaft Messgrößen herauskristallisiert. Die Wirkung einer Behandlung wird in „gewonnenen Lebensjahren“ gemessen. Anders ausgedrückt, wird in Studien untersucht, um wie viel Jahre die Patienten, die eine Therapie erhalten, länger leben, als die, die keine oder eine andere Therapie erhalten. Ein solches Studiendesign fordert jedoch eine sehr lange Beobachtungszeit. In vielen Fällen ist es einfach unethisch, ein Medikament zuerst 10 Jahre oder länger klinisch zu testen, bevor man es der Allgemeinheit zu Verfügung stellt. Bei Medikamenten für Kinder ist eine solche Untersuchung sogar unmöglich, müsste sie doch über 80 Jahre laufen. Um diesem „Zeitproblem“ zu entgehen, werden daher oft „Ersatzmessgrößen“ sogenannte Surrogatparameter verwendet. Surrogatparameter sind Messgrößen, die bereits seit vielen Jahren untersucht wurden und Teil eines Erkrankungsrisikomodells sind. Typisches Beispiel ist der Blutdruck, der etwas über das Risiko aussagt an einem Herzinfarkt zu sterben. Niemand stirbt an hohem Blutdruck selbst, sondern nur an den hypothetisch dem Bluthochdruck unterstellten Folgen, die jedoch erst viele Jahre später beobachtet werden können. Daher könnte die Beeinflussung des Blutdrucks diese Folgen verändern In Studien wird somit der Blutdruck als Surrogatparameter für den Herzinfarkt herangezogen, weil dieser schneller messbar ist. Da Surrogatparameter aber komplexe Zusammenhänge vereinfacht darstellen, müssen unbewiesene oder höchstens statistisch unterlegte Annahmen getroffen werden. Das Verwenden von Surrogatparametern ist deswegen immer kritisch zu hinterfragen, und man muss sich einfach damit abfinden, dass selbst in der Wissenschaft vieles als realpolitischer Kompromiss dient. Würde man diese Kompromisse nicht schließen, könnte die medizinische Wissenschaft kaum Fortschritte machen.
HTA-Berichte versuchen nun, aufbauend auf den Ergebnissen wissenschaftlicher Studien und Leitlinien herauszufinden, wie viel Lebensjahre durch eine Behandlung gewonnen werden können. Dabei wird in der modernen HTA-Berichterstattung nicht nur die absolute Zahl gewertet, sondern auch, und das wird hinkünftig immer wichtiger werden, die Lebensqualität mitberücksichtigt. Ein Beispiel: Mit den Möglichkeiten der heutigen Intensivmedizin, kann man, wenn man es denn darauf anlegte, den Tod eines sterbenskranken Menschens fast unendlich hinauszögern. Wenn nun dieser Mensch ein Jahr lang am Leben erhalten wird, dann hat man mit der Behandlung ein Lebensjahr gewonnen. Allerdings vermutlich kein qualitativ erstrebenswertes Lebensjahr.
Die Messung von Lebensqualität ist sehr schwierig. Objektive Kriterien, wie Selbstbestimmung und Willensäußerung sind nicht annähernd genug, um diese Qualität zu definieren. Viel zu viele subjektive Kriterien spielen hier hinein. Was der eine als unabdingbar für ein qualitativ gutes Leben braucht, ist für den anderen nutzloser Luxus. Um zu Bewertungskriterien zu kommen, die von möglichst allen akzeptiert werden, müssen breite und repräsentative Befragungen durchgeführt werden. Man muss also auf einem „demokratischen“ Weg eine Einigung erzielen, was ein Leben lebenswert macht, ab wann ein Leben lebenswert ist, und wann nicht.
Ein Maßstab für HTA-Berichte ist also die Lebensverlängerung, direkt nachgemessen oder über Surrogatparameter abgeschätzt, als absolute Zahl oder nach Lebensqualitätskriterien bereinigt. Der andere Maßstab sind die Kosten der Behandlung, die der Lebensverlängerung gegenübergestellt werden müssen, um zu einer Kosten-Nutzen- Rechnung zu gelangen. Die Berechnung der Kosten ist nicht minder kompliziert. In einer einfachen Rechnung könnte man beispielsweise die Medikamentenkosten heranziehen. Doch das greift zu kurz. Man sollte ebenfalls einrechnen, dass die Medikamente durch einen Arzt abgegeben werden müssen, der den Patienten über Wirkungen und Nebenwirkungen aufklären sollte – das kostet Arbeitszeit. Der Patient wiederum kann in dieser Zeit nicht arbeiten, also auch nichts produzieren, damit entgeht der Wirtschaft Arbeitskraft und es sinkt die Produktivität. Man kann das Spiel sehr weit treiben, um die Kosten für eine Behandlung zu errechnen. Wesentlich ist, dass die Erstellung eines Kostenberechnungsmodells so transparent wie möglich, so realitätsnah wie möglich und so aussagekräftig wie möglich passiert. Am Ende dieser Berechnung wird ein Betrag in einer Währung stehen, der die „echten“ Kosten einer Behandlung darstellt.
Aus dem Nutzen einer Behandlung, dargestellt in gewonnenen Lebensjahren, und den Kosten, dargestellt in Geldbeträgen, kann nun eine Kosten-Nutzen-Überlegung angestellt werden. Mit dem Wert „Kosten pro gewonnenem Lebensjahr“ steht nun ein Entscheidungskriterium zur Verfügung. Man kann entscheiden, ob der Geldeinsatz dem erwarteten Nutzen entspricht oder nicht, bzw. wenn zwei oder mehrere Behandlungsoptionen verglichen werden sollen, was die eine mehr kostet als die andere, und ob diese Mehrkosten durch den Nutzen rechtfertigbar sind oder nicht.
Solche HTA-Berichte liefern also eine Entscheidungsgrundlage –sind aber selbst noch keine Entscheidung. Für die Entscheidung braucht man das Vermögen, zu sagen ja, das ist es mir wert, oder nein, das ist es mir nicht wert. Stellen wir uns vor, wir haben 5000 Euro in der Hand und eine Behandlung, die wahrscheinlich das Leben meines Nachbarn um 10 Tage verlängert, kostet 5000 Euro. Mit 5000 Euro kann man auch etwa 200 erblindeten Menschen in Afrika eine Operation ermöglichen, die Augenlicht für viele Jahre brächte. Wer soll nun das Geld bekommen? Was ist mehr wert? In der öffentlichen Diskussion, insbesondere in Österreich, gilt allein diese Fragestellung als obszön. In einer ersten Reaktion würde jeder meinen, dass beides finanziert werden muss! Aber ist das möglich? Wären für so ein Vorgehen nicht wieder unendliche Ressourcen nötig?
Finanzielle Konsequenzen evidenzbasierter Gesundheitspolitik
Um die Frage „Wie viele Ressourcen stehen eigentlich zur Verfügung?“ zu beantworten, gibt es mehrere Herangehensweisen. Dort, wo der Markt alleine regelt, dort ergeben sich die Ressourcen automatisch. Da kann nicht mehr ausgegeben werden, als da ist. Die Ressourcen werden über Angebot und Nachfrage gesteuert. Rein marktwirtschaftlich gesteuerte Gesundheitsversorgung ist in Ländern mit christlicher Prägung nicht vorhanden. Überall gibt es – in unterschiedlicher Ausprägung – öffentlich finanzierte Leistungen. In dem Augenblick jedoch, in dem die öffentliche Hand für die Finanzierung von Behandlungen (mit)verantwortlich ist, ist die Frage, wie viele Ressourcen zur Verfügung stehen, nicht mehr einfach zu beantworten. Der einfachste Weg, der lange Zeit in vielen Ländern eingeschlagen wurde, war der, einfach alles zu bezahlen, was anfiel. Wenn Geld fehlte, wurden einfach die Steuern oder Beiträge erhöht. Die Frage, ob das Volk einverstanden ist mit dieser Art der Ressourcenverteilung, wurde nicht gestellt. Die gewählten Volksvertreter übernahmen die Entscheidung. Politiker entscheiden eminenzbasiert, wie viel Geld nötig ist, um die ihrer Meinung nach „richtige“ Versorgungssituation herzustellen. Ein solcher eminenzbasierter Zugang führte in so gut wie allen Sozialsystemen zu einer immer teurer werdenden Gesundheitsversorgung, die in einem Land früher, in dem anderen später in eine Unfinanzierbarkeit mündete oder münden wird. Jene Länder, die sich der Situation bewusst wurden, begannen unterschiedliche Systeme der Entscheidungsfindung einzurichten.
Auf Basis der EBM-Berichte wird es möglich zu entscheiden, welche Behandlungsoptionen die qualitativ besten Ergebnisse erzielen sollten. Anhand der Leitlinien wird es möglich, die effektivsten Behandlungsabläufe zu gestalten. Die HTA-Berichterstattung zeigt Wege, jene Behandlungswege einzuschlagen, die bei gegebenen Ressourcen den größtmöglichen Nutzen für die Patienten erzeugen. Damit liegen alle Entscheidungsgrundlagen vor, um eine „richtige“ Entscheidung treffen zu können, WIE man das Geld ausgibt. Entschieden werden muss quasi nur mehr, WIE VIEL Geld ausgegeben werden soll. Das WIE bleibt außerhalb der politischen Diskussion.
Um das WIE VIEL festzulegen wurden zwei Wege entwickelt.
Auf dem einen Weg wird durch politische Verhandlungen im Vorhinein festgelegt, wie viel Geld aus solidarisch finanzierten Geldquellen (z. B.: gemessen am BIP oder an den Gesamtsteuereinnahmen) der Gesundheitsversorgung zur Verfügung steht. Man spricht hier von gedeckelten Systemen, weil eben, was die Ausgaben betrifft, ein Deckel eingeführt wird. Mit diesem Geld können nun die politischen Institutionen „einkaufen“. Eingekauft werden jene Leistungen, die sich anhand der Entscheidungsgrundlagen als die herausgestellt haben, die bei gegebenen Ressourcen den größten Nutzen für die Patienten erwarten lassen können.
Die Fülle an bekannten und evidenzbasierten Behandlungsoptionen ist heute bereits so groß, dass die aktuell vorhandenen Sozialbudgets für die Gesundheitsversorgung (so im Schnitt 8 bis 10 % des BIP) vermutlich nicht ausreichen würden, alle diese Optionen in einem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem zur Verfügung zu stellen. Vermutlich würde so ein System bei Preisen von 2005 Ausgaben in der Höhe von 4000 bis 6000 Euro pro Einwohner und Jahr bedeuten. Aber selbst wenn man ein Sozialbudget in entsprechender Höhe bereitstellen könnte, wäre ein solches Ansinnen gar nicht in die Realität umzusetzen. Um den größtmöglichen Nutzen für die Bevölkerung zu erzielen, braucht man entsprechend qualifiziertes Personal, das auch über entsprechende Routine verfügen muss. Vermutlich wäre nicht genug Personal vorhanden, um qualitätsgesichert die Ergebnisse zu erzielen, die in Studien erzielt werden können. Es ist mit anderen Worten praktisch unmöglich, allen die beste Versorgung zukommen zu lassen. Möglich ist nur die möglichst beste Versorgung. Wenn es also unmöglich ist, allen alle evidenzbasierten Behandlungsoptionen zukommen zu lassen, muss eine „Auswahl“ getroffen werden. Es ist nun Sache der Politik festzulegen, was alles mit den verfügbaren Ressourcen möglich wird. Stehen mehr Ressourcen zur Verfügung, wird die solidarisch bereitgestellte Versorgung breiter ausfallen können, stehen weniger Ressourcen zur Verfügung, ist sie entsprechend schmäler. Die Festlegung des „WIE VIEL“ führt bei gedeckelter Finanzierung also dazu, dass durch die öffentliche Hand jedem Einwohner eine „Grundsicherung“ (die sehr breit sein kann!) als solidarisch finanzierte Leistung zur Verfügung steht. Alles, was über diese Grundsicherung hinausgeht, ist vom einzelnen dann selbst zu finanzieren bzw. zu organisieren. Will man in so einem System nicht Härten aufkommen lassen, fordert es eine maximale Dezentralisierung in den politischen Entscheidungswegen. Immerhin müssen Politiker Rationierungen (oder Priorisierungen) vornehmen, da müssen die Empfänger ein tiefes Vertrauen in ihre Politiker haben. Und das ist nur gegeben, wenn diese Entscheidungen von regionalen Politikern (etwa Bürgermeistern) getroffen werden.
Der andere Weg festzustellen, wie viele Ressourcen einer solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen, ist deutlich komplizierter, jedoch um ein vielfaches gerechter. Für diesen Weg sind Entscheidungen nötig, die nach Ansicht vieler als unmoralisch gelten. Denn dieser Weg erfordert die Bewertung der Gesundheit und in weiterer Folge auch des Lebens in Geld. Ausgangspunkt sind die HTA-Berichte, die feststellen, was ein gewonnenes Lebensjahr kostet. Anders als in den gedeckelten Systemen wird jedoch nicht mehr das eingekauft, was man sich leisten kann, sondern das, was die Bevölkerung, als der Ursprung aller solidarischen Finanzierungsquellen, bereit ist, für eine Therapie, die ein gewonnenes Lebensjahr verspricht, zu bezahlen. Und noch einmal ausgedrückt, eingekauft werden „gewonnene Lebensjahre“ und nicht Therapien oder Leistungen. Um festzustellen, was die Bevölkerung bereit ist zu bezahlen, müssen sogenannte Willingness-to-Pay- Studien durchgeführt werden. Solche Studien sind, wie man sich vorstellen kann, heikel und schwierig, schwieriger und heikler als die Studien, die herausfinden sollen, was Lebensqualität ist. Es geht bei diesen Studien immerhin darum, festzustellen, was dem Einzelnen Gesundheit und Leben(squalität) wert ist. Fragt man einen Kranken, ist der Betrag vermutlich sehr hoch, fragt man einen Gesunden, sehr niedrig. Um nun einen Wert zu erhalten, der beide Seiten zufrieden stellt, gilt es, ein möglichst ausgewogenes Verhältnis zu finden. Solche Studien kann man sich vorstellen wie Meinungsumfragen. Die Fragen, die gestellt werden, müssen sehr sorgsam gewählt und die Ergebnisse müssen ständig auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden. Bei entsprechendem Vorgehen erhält man einen Wert ausgedrückt in Geld, den die Bevölkerung bereit ist, zu bezahlen. Ein solcher Wert ist in der Regel nicht nur bezogen auf die absolute Zahl an gewinnbaren Jahren, sondern nimmt auch Rücksicht auf die Lebensqualität. In den Ländern in denen solche Volksmeinungen abgefragt werden, kommt ein Wert von ca. 45 000 Euro pro qualitätsbereinigtem Lebensjahr heraus. Allerdings ist dieser Wert nicht fix, sondern kann mit weitergehenden Studien in alle Richtungen verändert werden.
Um diese Methode besser zu verstehen, wollen wir das Beispiel „Blinddarmentfernung“ darstellen. Ein Fünfzehnjähriger hat eine akute Blinddarmentzündung, die operiert werden muss, ansonsten stirbt er. Wird er operiert, dann besteht eine 99,6 % Chance, dass er daran nicht stirbt. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines 15-Jährigen beträgt heute noch knapp 63 Jahre. Vernachlässigt man die 0,4 % Sterblichkeit bei der Operation, dann würde die Operation auch dann durchgeführt werden, wenn sie 2,8 Mio. Euro kostet – das ist ein Vielfaches von dem, was diese Operation wirklich kostet. Ein anderes Beispiel wäre eine Hüftoperation: eine 75-Jährige, die wegen Gelenksabnützung starke Schmerzen beim Gehen hat, würde durch eine Hüftoperation deutlich an Lebensqualität gewinnen. Die Patientin ist rüstig und ansonsten bei guter Gesundheit. Die Lebenserwartung beträgt noch 12 Jahre und es ist zu erwarten, dass durch die Operation die Patientin 8 bis 10 qualitativ hochwertige Jahre zu gewinnen hat. Wenn man die Sterblichkeit während der Operation außer Acht lässt, dann dürfte die gesamte Behandlung, also inklusive der notwendigen Rehabilitation, 360 000 bis 450 000 Euro kosten. An diesen Beispielen sieht man, dass die Willingness-to-Pay-Studien keine Brutalitäten erzeugen. Ganz im Gegenteil, die Bevölkerung ist bereit, sehr viel Geld in die Behandlung zu stecken, wenn die Behandlung vernünftig und zielführend ist. Der Vorteil mit Hilfe eines solchen Weges herauszufinden, wie viel Geld einer solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgung zur Verfügung steht, ist der, dass dieses theoretisch ungedeckelt ist. Therapien werden also bezahlt, wenn sie was bringen und nicht „zu teuer“ sind; nicht wie in gedeckelten Systemen, die nur „einkaufen“ können, solange Geld da ist. In ungedeckelten Systemen wird eben soviel Geld bereitgestellt, wie nötig ist, um alle zu behandeln.
Der Unterschied dieser beiden Wege der evidenzbasierten Gesundheitspolitik im Vergleich zur eminenzbasierten Gesundheitspolitik liegt auf der Hand. Es steht im Vorhinein fest, dass nur die Behandlungen solidarisch finanziert werden, die bewiesenermaßen einen Nutzen für Patienten haben. Unnütze Behandlungen, oder Behandlungen, deren Nutzen von marketinganfälligen Eminenzen beschrieben wird, werden nicht bezahlt. Damit hat die Gesundheitsversorgung einen definierten Qualitätsstandard, der jedem Patienten garantiert werden kann, eminenzbasierte Gesundheitspolitik kann das nicht. Ganz im Gegenteil, eminenzbasierte Gesundheitspolitik liefert eine inhomogene Gesundheitsversorgung, in der Patienten sich auf die Meinung „anerkannter“ Eminenzen verlassen müssen – und das in der Regel zu einem sehr hohen Preis.
Organisation evidenzbasierter Gesundheitspolitik
Die evidenzbasierte Gesundheitspolitik, bzw. die evidenzbasierte Gesundheitsversorgung baut auf wissenschaftlich fundierten Berichten und im Konsens erzielten Behandlungsleitlinen auf. Die Erstellung solcher Berichte, bzw. Leitung von Konsensusprozessen sind Dienstleistungen, die von entsprechend erfahrenem Personal durchgeführt werden können. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass in den meisten Gesundheitssystemen Europas eigene EBM-Institute oder an den Public-Health-Instituten angegliederte EBM-Departements eingerichtet wurden. Keinesfalls sind diese Einrichtungen automatisch in öffentlicher Hand. Sie können von Universitäten, Versicherungen oder Ärztevereinigungen betrieben werden oder sogar als gewinnorientierte Unternehmen organisiert sein. Wesentlich für die Erbringung der Dienstleistungen ist nur ein höchstmöglicher Grad an Transparenz. Die Publikationen dieser Einrichtungen werden daher über das Internet allen frei angeboten. Jeder – Patient, Arzt oder Politiker – kann sich so entsprechende Literatur besorgen und zu Fortbildungszwecken oder als Entscheidungsgrundlage verwenden. In vielen dieser Einrichtungen ist auch ein standardisierter Weg vorgegeben, welche Themen behandelt werden sollen. Jeder – Patient, Arzt oder Politiker – kann ein Thema einreichen. Ist das Thema von breitem Interesse, wird ein standardisierter Prozess der Bearbeitung begonnen, der ebenfalls vollkommen transparent abläuft. Einige Einrichtungen erhalten von der nationalen Regierung eine sogenannte Richtlinienkompetenz. Sie können also selbst festlegen, welches Standardprozedere einzuhalten ist, will man für eine Behandlung solidarisch finanzierte Geldmittel erhalten. Das kann beginnen bei der Zulassung von Medikamenten, für die das einreichende Pharmaunternehmen klar festgelegte Studien und Berechnungen vorlegen muss, bis hin zur Bindung von Ärzten an Behandlungspfade bei bestimmten Erkrankungen. Es gibt eine Fülle von Grautönen bei der Implementierung evidenzbasierter Gesundheitspolitik. An einem Ende stehen vollkommen unabhängige, transparent arbeitende Institute mit Richtlinienkompetenz für die gesamte Gesundheitsversorgung, auf der anderen Seite politiknahe – möglicherweise nicht hundertprozentig – unabhängige Dienststellen, deren Ergebnisse nur nach politischer Freigabe veröffentlicht werden dürfen. Bezüglich letzterer ist zu sagen, dass sie vermutlich bereits an der Schwelle zur eminenzbasierten Gesundheitspolitik stehen, oder diese möglicherweise sogar überschritten hat.
Kritik an evidenzbasierter Gesundheitspolitik
An der evidenzbasierten Gesundheitspolitik wird international wechselnd heftige Kritik geübt. Der wesentlichste Kritikpunkt ist der, dass angeblich die Entscheidungsgrundlagen nicht ausreichen, um so schwierige Fragen ethisch zu beantworten. Diese Kritik ist ernst zu nehmen, denn ein Prinzip jeder wissenschaftlichen Untersuchung ist die sogenannte thematische Reduktion. Das heißt nichts anderes, als dass vor einer wissenschaftlichen Untersuchung das Gebiet, das untersucht werden soll, soweit eingeengt wird, dass diese Untersuchung überhaupt erst möglich wird.
Kritiker führen auch gerne an, dass jeder Patient etwas Einzigartiges ist und demzufolge auch einzigartig zu behandeln ist. Dieser Kritik ist vieles abzugewinnen, aber man muss sich die Gegenfrage stellen: wird es mit der Erfahrung eines Arztes weniger schwierig? Oder wird es einfach nur weniger transparent? Denn jeder Arzt kann nur jene Behandlungsoptionen anwenden, die theoretisch zur Verfügung stehen. Natürlich kann er auch Behandlungen anwenden, die keine bewiesenen Nutzen haben – und trotzdem wird er bei der Behandlung Patienten nach mehr oder weniger standardisierten Vorgaben einteilen müssen, ein Herzpatient wird ein Herzpatient bleiben, ein Lungenpatient ein Lungenpatient.
Viele Ärzte, aber auch Personen aller anderen Gesundheitsberufe, glauben, dass sie ohne die Aufarbeitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen gute Gesundheitsversorgung betreiben. Sie haben in der Regel eine lange Ausbildung hinter sich gebracht und können ihre Erfolge täglich an ihren Patienten ablesen. Es besteht also subjektiv jedenfalls die Meinung, dass der Erfolg ihnen Recht gibt. Dabei wird jedoch gerne übersehen, dass jeder Einzelne kaum die Möglichkeit hat, größere statistische Zusammenhänge zu erkennen. Und so kann leicht der Eindruck entstehen, wissenschaftlicher Fortschritt findet ohnehin nur sehr langsam statt – ein Trugschluss. Ein typisches Beispiel dafür ist die Kindersterblichkeit in den ersten 12 Lebensmonaten. Der medizinische Fortschritt hat dazu geführt, dass diese heute sehr niedrig ist. Nur etwa 5 von 1000 Kindern sterben in dieser Zeit. Kleine Krankenhäuser, die nur wenige hundert Geburten pro Jahr durchführen, haben demnach auch nur selten einen Todesfall zu beklagen. In großen Häusern passiert da schon viel öfter etwas. Das subjektive Gefühl, dass in kleinen Häusern eigentlich nie etwas passiert, liegt auf der Hand. Doch ist das wahr? Nein, denn wenn man die Statistiken anschaut, dann ergibt sich ein gänzlich anderes Bild. In Einrichtungen mit weniger als 500 Geburten pro Jahr sterben zwei bis drei Mal so viele Kinder wie in Kliniken mit 500 bis 1000 Geburten jährlich. Und dort ist die Sterblichkeit ca. 40 bis 80 % höher, als in großen Geburtskliniken mit mehr als 1000 Geburten – und das, obwohl bereits alle Risikogeburten in der Regel nur mehr in großen Krankenhäusern durchgeführt werden. Eine entsprechende Bereinigung würde die kleineren Häuser noch schlechter aussehen lassen. Wenn daher eminenzbasiert die Aussage getroffen wird, dass die Qualität in kleinen Krankenhäusern die gleiche ist wie in großen, dann widerspricht das den beweisbaren Fakten, die durch EBM aufgezeigt werden.
Die allgemeine Kritik an evidenzbasierter Gesundheitspolitik ist daher im Sinne einer qualitativ hochstehenden Patientenversorgung nicht gerechtfertigt. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass eine allgemeine und grundsätzliche Kritik in den meisten Ländern verschwunden ist. Nichtsdestotrotz gibt es fallweise noch grundsätzliche Kritik an der evidenzbasierten Gesundheitspolitik, mit dem Ziel eine solche abzuschaffen oder nicht einzuführen. Dort, wo diese Fundamentalkritik noch geübt wird, wird sie dazu verwendet, Standespolitik zu betreiben, oder Illusionen aufrecht zu erhalten. Gleiches gilt für die unqualifizierte Kritik, dass Gesundheit nicht mit ökonomischen Maßstäben gemessen werden darf. Solche Aussagen sind in höchstem Grad anmaßend, da sie klar davon ausgehen, dass eine Gesellschaft, wenn sie sich fragt, wie viel Ressourcen sie für die Gesundheitsversorgung solidarisch aufbringen will, unmoralisch handelt. Kein Mensch hat das Recht, sich in auf jene Höhe zu begeben, von der aus er seine eigenen Moralvorstellungen einer Gesellschaft aufzwingen darf.
Abschließende Bemerkung
Die Einführung evidenzbasierter Gesundheitspolitik ist die einzige Chance, will man die Gesundheitsversorgung nicht den Kräften des freien Marktes überlassen. Eminenzbasierte, solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung ist unfinanzierbar.
Seit der Einführung evidenzbasierter Gesundheitspolitik ist ein interessantes Phänomen eingetreten. Die Übertragbarkeit von Studienergebnissen auf die Allgemeinheit wird immer besser möglich. In früheren Zeiten beschäftigten sich Studien oder wissenschaftliche Untersuchungen meistens mit Einzelfällen, Das war die Zeit der sogenannten Kasuistiken (Fallstudien). Eine systematische Untersuchung von genau definierten Patientengruppen, die an einer klar definierten Krankheit litten, war die Ausnahme. Oft hat man von der Beobachtung an einem Patienten auf alle schließen wollen. So gewonnene Erkenntnisse haben klarerweise nur bedingt Allgemeingültigkeit. Je breiter und schneller der Informationsfluss wurde – über Zeitungen und Bücher – desto breiter und schneller wurden nicht nur Behandlungsoptionen bekannt, sondern auch Behandlungserfolge und -misserfolge. Der Druck, seine Behandlung angemessen zu wählen wurde daher immer größer. Und so stieg auch die Intensität der Forschung enorm an – und interessanterweise besonders im englischsprachigen Raum. Die Versorgungssysteme in englischsprachigen Ländern, insbesondere Großbritannien und USA, forderten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, „handfeste“ Beweise für die Finanzierung. In den USA wird die Gesundheitsversorgung durch Versicherungen, die untereinander in Konkurrenz stehen, organisiert. Die Ressourcen werden also größtenteils über den Markt definiert. Je besser die Kosten-Nutzen-Relation, desto höher die Gewinnmargen. Effizienz ist daher ein hohes Eigeninteresse. In Großbritannien andererseits wird das gesamte Gesundheitswesen seit geraumer Zeit steuerfinanziert. Das hatte dazu geführt, dass die Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen stark gestiegen ist. Es drohte, ein Fass ohne Boden zu werden. Daher wurden Reformen eingeleitet, um eine Privatisierung zu verhindern, eine Versorgung bedarfsgerecht garantieren zu können und trotzdem das Budget nicht explodieren zu lassen. In beiden Ländern wurde daher sehr früh evidenzbasierte Gesundheitspolitik eingeführt und in beiden Ländern hat sich so auf Basis der evidenzbasierten Politik (im Fall der USA eine Unternehmenspolitik, im Fall Großbritannien eine National-Politik) eine hochstehende und große Forschungsgesellschaft entwickelt.
Evidenzbasierte Gesundheitspolitik ist also ein – oder der einzige – Weg, die Qualität der Versorgung garantieren zu können, den größten Nutzen für die eingesetzten Mittel zu erzielen und als nicht zu vernachlässigenden Seiteneffekt, der nationalen medizinischen Forschung einen deutlichen Impuls zu geben.
Die Situation in Österreich
Österreich kann als Paradebeispiel eminenzbasierter Gesundheitspolitik bezeichnet werden.
Die österreichischen Fachgesellschaften haben noch Anfang des 21. Jahrhundert auf ihren Internetseiten und in ihren Veröffentlichungen sich darauf beschränkt, der Öffentlichkeit mitzuteilen, welcher Professor als Schriftführer fungiert, welcher Professor einen Preis erhalten hat und welcher Professor eingeladen wurde, einen Vortrag zu halten. Eine Auseinandersetzung mit Behandlungsoptionen oder gar die Erstellung von Leitlinien wurde nicht einmal angedacht. Initiativen in diese Richtung, die von jungen Kollegen ausgegangen sind, wurden innerhalb der Gesellschaften rasch abgestellt. Fallweise wurde sogar ein Professor nominiert, der solche Initiativen zu koordinieren hat – das war’s dann aber auch. Durch das Internet und die damit verbundene immer stärker steigende Transparenz anderer Gesundheitsversorgungen ist auch in Österreich der Druck gestiegen, sich mit Themen der EBM auseinanderzusetzen. Allerdings findet dieser Prozess sehr langsam und noch auf einem sehr akademischen Niveau statt. An eine Einführung von Leitlinien oder gar Richtlinien ist gar nicht zu denken. Die Einführung von Ergebnisqualitätsparameter oder sogar deren regelmäßige Veröffentlichung in Form von Qualitätsberichten darf nicht einmal angedacht werden. Es wird, sollte es nicht zu revolutionsartigen Veränderungen kommen, ein ganzer Generationswechsel stattfinden müssen, bis dieser Prozess ernsthaft beschleunigt wird.
Und da es auf Ebene der Fachgesellschaften und der direkt am Patienten arbeitenden Berufsgruppen so träge geht, ist es nicht verwunderlich, dass sich diese Trägheit auch auf die Interessensvertreter auswirkt. Hier sind es vor allem die Ärztekammern, die sich gegen jede Erhöhung der Transparenz im Gesundheitswesen stemmen. Selbst die Einführung eines international üblichen Krankheitsklassifikationscodes (ICD 10), also das Ersetzen der handschriftlichen Diagnosen des Arztes durch einen international definierten Zahlencode, im niedergelassenen Bereich ist nicht möglich – verständlich, würde dadurch doch rasch festgestellt werden können, wie gut die diagnostische Arbeit einzelner Ärzte ist. Und leider ist zu erwarten, dass es insbesondere die älteren und damit mächtigeren Ärzte sind, deren Qualität mit internationalen Standards nicht mehr mithalten kann.
Die Ärztekammern in Österreich sind zu einer Schutzorganisation wohlerworbener Rechte Einzelner, insbesondere der Eminenzen, geworden. Das Recht, unhinterfragt und unkritisiert zu sagen, was richtig und was falsch, was gut und was böse ist, das gilt es zu schützen – egal ob es dem Patienten nützt oder nicht, egal ob es finanzierbar ist oder nicht. Für die Bevölkerung bleiben diese Kämpfe oft unbemerkt, wenn auch die Einführung der Patientenanwaltschaft vieles aufgedeckt hat.
Und weil die Interessensvertretungen, bei denen eigentlich keine Berufsgruppe auszunehmen ist, in ihren Reihen das Eminenzprinzip verteidigen, reagiert die Politik mit eminenzbasierten Entscheidungen. Dass es kein anerkanntes Public-Health-Institut gibt, ist also nicht die Ursache, sondern die Folge fehlender politischer Willenskraft, sich gegen diese Interessensverbände durchzusetzen. Im Gegenteil, es kommt der Politik zu gute, dass sie selbst auch dem Eminenzprinzip folgen kann, ist es doch die leichteste Art, „Geschenke“ zu verteilen und Illusionen aufrecht zu erhalten. Und nicht ohne Grund haben wir die europaweit höchste Dichte an Krankenhäusern, Krankenhausbetten und skurrilerweise auch medizinischen Großgeräten (mit denen man sich halt leicht brüsten kann). Es ist daher auch seitens unserer Volksvertreter gar nicht gewünscht, die Gesundheitsversorgung nach objektiven Kriterien zu messen. Ein solches Vorgehen könnte darin münden, dass der beliebte Mythos, die österreichische Versorgung sei die weltbeste, als solcher entlarvt würde.
Die Folge der eminenzbasierten Versorgung ist heute in bereits drastischer Weise zu beobachten. Die perinatale Sterblichkeit in Österreich ist, verglichen mit anderen modernen Versorgungen hoch – als Folge der vielen zu kleinen Geburtsstationen? Die Sterblichkeit bei Mandeloperationen liegt 30 bis 60 Mal höher als in anderen modernen Versorgungen – als Folge der vielen zu kleinen Krankenhäusern? Blinddarmoperationen werden doppelt so oft vorgenommen wie in anderen modernen Versorgungen, als Folge der vielen zu kleinen Chirurgien? Herzkatheteruntersuchungen werden 1,5 Mal so häufig durchgeführt wie man erwarten würde – eine Folge der doppelt so hohen Dichte an entsprechenden Einrichtungen? Diese Liste ist lange ausrollbar – in so gut wie jedem einzelnen Gebiet der Gesundheitsversorgung sind solche „Auffälligkeiten“ zu beobachten. Solange jedoch die eminenzbasierte Gesundheitspolitik dominiert, werden Patienten von diesen Dingen nichts erfahren! In dieser eminenzbasierten Versorgung, in der es keine systematische Qualitätsbeobachtung gibt, wird hinter verschlossenen Türen von den „grauen“ Eminenzen festgelegt, was für die Versorgung nötig ist. Und dieselben Eminenzen, die sich jeder Qualitätskontrolle entziehen, halten mit unfundierten Aussagen schlicht fest, dass die Qualität nicht zu übertreffen sei.