Theorie und Praxis der Hausarztausbildung

Auf dem Papier ist die Ausbildung von Hausärzten gar nicht schlecht. Aber Papier ist geduldig und die Praxis halt ganz anders – auch wenn das einige nicht einsehen wollen.

Die Idee ist bestechend. Da ein Hausarzt ein breites Wissen haben soll, soll er eine breite Ausbildung genießen. Um das zu erreichen, gibt es den Turnus. Das ist eine Zeit, in der Jungärzte, nach dem theoretischen Studium, an möglichst vielen unterschiedlichen Spitalsabteilungen Praxis „lernen“ sollen.

Und so muss man, will man Hausarzt werden, auf einer Abteilung für Innere Medizin mindestens ein Jahr bleiben. Für Chirurgie, Frauen- bzw. Kinderheilkunde sind je zumindest vier, für Neurologie, HNO und Dermatologie jeweils zwei Monate vorgeschrieben; und dann kann man sich zwei weitere Fächer wie Augen, Orthopädie oder Lungenheilkunde aussuchen, da muss man je drei Monate bleiben. Macht zusammen wenigstens drei Jahre, nach denen man ein fertig ausgebildeter Hausarzt sein sollte – theoretisch.

Das Konzept stammt aus der Nachkriegszeit. Damals war es vermutlich zielführend. Das medizinische Wissen betrug, verglichen mit heute nicht einmal ein Hundertstel (!) und die Spezialisierung war noch rudimentär. Es war durchaus möglich, innerhalb von zwei Monaten genug über Neurologie zu lernen, um für den hausärztlichen Alltag gerüstet zu sein. Heute ist das anders. Und nur nebenbei, im internationalen Vergleich dauert die Ausbildung zum Hausarzt bei uns am kürzesten. Alleine das sollte Hinweis genug sein, dass irgendetwas nicht stimmt.

In der täglichen Praxis ist es dann noch viel schlimmer.

Die Medizin ist eben hochkompliziert geworden. Es ist für jede Spitalsabteilung schwierig genug, mit dem medizinischen Forstschritt schritt zu halten. Um das auch nur irgendwie hinzukriegen, muss jeder Abteilungsleiter versuchen, aus seinen fix angestellten Ärzten ein Team zu bilden, damit Aus- und Fortbildung auf alle verteilt wird und Neues möglichst rasch auch von allen in der Praxis gelebt werden kann.

Und dann kommt der Turnusarzt (TA) daher – er wird ein paar Monate bleiben und dann wieder verschwinden. Wie viel Energie wird wohl darauf verschwendet werden (können), ihn wirklich in diesem Team einzubinden? Noch dazu ist das Niveau, das der TA mitbringt, naturgemäß weit von dem entfernt, was tägliche Praxis ist – schließlich ist er ja blutiger Anfänger. Und so ist es meistens (nicht überall!) Usus geworden, das seine Ausbildung halt so „mitläuft“.

Am Ende, und das zeigt die tägliche Praxis, wird für den TA nur die Arbeit übrig bleiben, die die höchste Entlastung für die Kernmannschaft (inklusive dem Pflegepersonal) darstellt – und das sind systemerhaltende Routinearbeiten, die mit Ausbildung nichts zu tun haben – Patienten aufnehmen, Blut abnehmen, Infusionen anhängen, Spritzen geben und Bürokratie erledigen. Und das macht der TA dann an jeder Abteilung, die er durchlaufen muss.

So ist der TA vom Auszubildenden zum Systemerhalter geworden. Und weil der Stundenlohn sogar unter dem einer diplomierten Pflegekraft liegt, gleich auch zu einem billigen. Die Folge davon ist, dass, ähnlich der Zwangsarbeit im Zivildienst, ohne die Rettung oder Alten- und Behindertenbetreuung nicht funktionierte, die Spitäler ohne die Arbeitskraft der TÄ nicht mehr betrieben werden könnten. So ist es auch zu verstehen, dass jene, die eine Spitalsreform für überflüssig halten (vom Gesundheitsminister bis zu den Landeshauptleuten) mit diesem Ausbildungssystem zufrieden sind. Dass einige allerdings öffentlich behaupten, so gut ausgebildete Hausärzte zu produzieren ist schon Chuzpe.

Dieser Artikel wurde im Mai 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Die Turnusärzte, ihre Ausbildung und die Spitäler

Die Ärzte-Ausbildung in Österreich dauert weltweit am längsten. Das hat nichts mit Qualität zu tun, sondern nur mit der Möglichkeit, billige Arbeitskräfte zu halten.

Dr. M. war 27, als er mit dem Medizinstudium fertig wurde. Zwischenzeitlich hat er seine Frau fürs Leben gefunden, die Wirtschaft studierte und seit zwei Jahren arbeitete – in Wien. Die beiden wollten heiraten, sobald Ruhe in ihr Leben kehrt.

Zuerst hieß es für ihn jedoch den Turnus machen. Eigentlich wollte er ja gleich Facharzt (FA) für innere Medizin werden, doch um eine Ausbildungsstelle zu kriegen, ist es Usus geworden, diese nur an die zu vergeben, die davor ihre „Ausbildung“ zum Allgemeinmediziner (AM) abgeschlossen haben – er musste also einer von etwa 3.500 Turnusärzten (TÄ) werden, die sich in den Spitälern tummeln.

In Wien hätte er zwei Jahre warten müssen. Das war ihm zu lange, also ging er nach Niederösterreich. Allerdings kriegte er nur Angebote in kleinen Spitälern, wo er weder seine ganze Ausbildung machen konnte, noch reale Chancen hatte, diese in den gesetzlich möglichen drei Jahren zu absolvieren. Er würde mindestens vier Jahre brauchen und mindestens zweimal Spital wechseln. Weil er aber was verdienen konnte, fing er an. Seine Freundin blieb in Wien, sie begannen eine Fernbeziehung.

Fünf Jahre später war er mit der AM-Ausbildung fertig. In was er ausgebildet wurde, kann er nicht sagen. Sicher 80 Prozent seiner Zeit verbrachte er damit, Infusionen anzuhängen, Blut abzunehmen und Arztbriefe zu diktieren. Würde er jetzt Hausarzt werden, er wäre überfordert. Hätte er in Wien gewartet, wäre er ebenfalls jetzt fertig, aber er hätte wenigstens mehr gelernt – es war ein Fehler, in die Provinz zu gehen.

Seine Fernbeziehung ging in die Brüche. 72 Stunden Wochenarbeitszeit, höchstens ein Wochenende pro Monat, das nicht durch einen Dienst „angepatzt“ war, das halten die wenigsten Partner aus und schon gar nicht die, die sich eine Familie wünschen. Hätte er in Wien gewartet, hätte er vielleicht nichts verdient, aber eine Familie gründen können.

Da ihm keine FA-Ausbildung angeboten wurde, begann er sich zu bewerben. Ein Jahr lang suchte er, um festzustellen, dass die Stellen immer „unter der Hand“ vergeben werden. Er war naiv, zu glauben, er könne ohne Beziehungen weiterkommen.

Er ist mittlerweile 33 und Single. Weil er hier keine Perspektive sieht, geht er nach Deutschland und schwört sich, nie mehr zurückzukehren.

Das Ausbildungssystem der Jungmediziner ist alt, krank, menschenverachtend und unattraktiv. Und doch hält man daran fest. Das Gesundheitsministerium glaubt sogar, die Ausbildung sei praxisnah und dürfe aus Qualitätsgründen nicht verändert werden – wie weltfremd!

Oder mutlos? Denn schauen wir an, wer davon profitiert!

Um die vielen Spitäler zu erhalten, brauchen die Länder TÄ. Sie sind billig, und, was wichtiger scheint, müssen, ganz ohne Kündigung und Gewerkschaftswiderstand, am Ende der Ausbildung einfach gehen. Solche Vorteile gibt man nicht auf!

Würden TÄ, wie Wissenschaftsministerin Beatrix Karl vorschlägt, tatsächlich „wegfallen“, könnte es unabwendbar werden, eine Spitalsreform durchzuführen. Und das werden Länder, samt Gesundheitsministerium, zu verhindern suchen.

Ministerin Karl will trotzdem die Ausbildung reformieren. Eigentlich ist das nicht ihr Thema, aber sie hat erkannt, dass, will sie nicht mitverantwortlich sein, wenn sich in Zukunft die meisten Mediziner aus dem öffentlichen Gesundheitssystem oder gar dem Land verabschieden, eine Reform unabwendbar ist. Überaus mutig, bei solchen Gegnern!

Dieser Artikel wurde im Mai 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Markt, Populismus und das Gesundheitswesen

Griechenland überschattet alles, was sonst so an politischem Handeln passiert. Es ist schwierig sich dem zu entziehen – eine Reflexion über Moral.

In all diesem wirtschaftlichen Schlamassel werden sehr schnell Schuldige gefunden, seien es Spekulanten oder Ratingagenturen. Schuld sind also der Markt und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche – also andere. Der liberale Weg war eine Fehlentwicklung, heißt es, und der Staat (also die Politiker), muss autoritärer (totalitärer) werden.

Nun, hat denn der Markt wirklich versagt? Eigentlich nicht! Er macht genau das, was er für richtig hält. Allerdings, und das stößt unangenehm auf, gefällt das vielen nicht. Sie sind der Meinung, dass das, was passiert, böse und unmoralisch ist.

Und genau darin sind die Lügen zu finden; denn, haben wir noch so etwas wie einen moralischen Konsens?

Im Gesundheitssystem versprechen alle Politiker, dass allen alles überall auf allerhöchstem Niveau feilgeboten wird, kostenlos. Doch ist das so? Natürlich nicht! Abgesehen davon, dass wir wegen fehlender Qualitätsmessung gar nicht wissen, welches Niveau wo existiert (es ist zu vermuten, dass es ganz grausliche Unterschiede gibt) kostet das Gesundheitssystem sehr viel Geld. Doch die Frage, ob es uns das auch Wert (eine moralische Frage!) ist, diese Frage wird tunlichst vermieden. Ja, es gilt sogar als unmoralisch nicht davon auszugehen, dass Gesundheit unendlich viel Wert ist. Unter diesen Bedingungen muss das System demnächst auch unendlich viel kosten (die ja jemandes Einkommen sind!) dürfen. Doch erstens, ist das realistisch, und zweitens ehrlich?

Wenn man an die Versuche denkt, alle Spitäler, die meist unter dem Blickwinkel des Wohlfühl- und Zufriedenheitsfaktors und nicht der Gesundheitsversorgung betrachtet wurden, nun auch als wirtschaftlich sinnvoll darzustellen, dann ist das bedenklich; und wenn der Gesundheitsminister allen Experten widerspricht, dass im Spitalswesen Geld zu sparen ist, sondern einstimmt in den Chor der unendlich kostbaren Spitalsversorgung, beängstigend. Denn mit „Moral“ oder wenigstens nur Wahrheit hat das nichts zu tun.

Wenn mit Zahlen operiert wird, die gelogen sind, nur damit niemand besorgt fragen könnte, ob denn doch was nicht stimmt, dann ist das arg. Denken wir nur an die nicht erfassten Ausgaben bei den Wahlärzten, die nur deswegen verschwiegen werden, weil die ohnehin hohen Selbstbehalte offiziell nicht noch höher werden dürfen.

Wenn Ärzte Patienten nicht die Wahrheit erzählen, sondern gefällige Interpretationen von oft selbstgestrickten Daten referieren, nur um einem ernsten Gespräch zu entgehen und „ewiges“ Leben versprechen können, wenn Patienten auf Intensivabteilungen gequält werden, nur weil die Gesellschaft (von oben verordnet) sich dem Problem Lebensqualität versus Lebenslänge entzieht und den handelnden Ärzten kein moralisches Gerüst bereitstellt um diese heiklen Fragen im Alltag zu klären, dann ist das alles unmoralischer Selbstbetrug.

Wenn also Populismus jegliche Werte ersetzt, wenn die Maxime des Handelns Stimmmaximierung ist, ja dann dürfen wir uns nicht wundern, dass der (logische und unmoralische) Markt, dessen Ziel Gewinnmaximierung ist, kurzsichtig, destruktiv und gefräßig handelt. Der Markt ist so nur Spiegel unseres eigenen Versagens.

Und wenn man schon liberalem Gedankengut die Schuld zuschieben will, dann nur dahingehend, dass Liberale zu naiv sind. Denn sie glauben tief in ihrem Herzen, dass demokratisch gewählte Politiker die Freiheit weniger missbrauchen als Diktatoren. Aber wahrscheinlich liegen sie hier falsch.

Dieser Artikel wurde im Mai 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Die Länder als Spitals-Monopolisten

Die Länder bestimmen nicht nur den Preis der Spitalsversorgung, sondern auch, wer und was gut und böse ist – eigentlich eine untragbare Situation, die aber niemand ändern kann.

Herr M. ist gerade aus dem Spital entlassen worden und hat zum Abschied einen Fragebogen erhalten. Er solle doch bitte ausfüllen, wie zufrieden er war. Und weil er erstens, von seinen Schmerzen befreit, glücklich ist und zweitens niemanden, den er vielleicht noch einmal braucht, verärgern will, wird der Fragebogen zur Lobeshymne. Lustig, er wird später im Tag noch einmal befragt, am Telefon und von einer deutschen Stimme, der erzählt er dann schon Genaueres – und anderes.

Aber das macht nichts, weil in dem Bundesland, in dem er behandelt wurde, ohnehin nur der Fragebogen als Wahrheit anerkannt wird. Und da sind die Ergebnisse jedes Jahr beeindruckend; Lob über Lob – ja so wünscht das die Politik; und erhält es.

Dass das möglich ist, hängt mit der Monopolmacht der Länder in der Spitalsversorgung zusammen. Durch diese bestimmt die Landespolitik, was gut und böse, was richtig und falsch ist und auch wo es Veränderungen oder Verbesserungen geben darf, und wie diese auszusehen haben.

Die Macht des Monopols haben sich die Länder selbst gegeben. Kaum jemand weiß, dass Spitäler etwa 30 Prozent Defizit machen „müssen“, einfach deswegen, weil die Honorare für ihre Leistungen nicht kostendeckend sind. Und so muss jedes Spital zur Landespolitik betteln gehen, damit diese die Defizite deckt – das erhöht die Macht. Die Idee, die Gelder dieser „Defizitdeckung“ in die Honorare hineinzurechnen, wird seit Jahren verweigert. Das würde Transparenz und Gerechtigkeit der Mittelverteilung erhöhen, ist aber aus machtpolitischer Sicht undenkbar. Und nebenbei, das Geld, das die Länder gnädig verteilen, holen sie sich beim Bund, nicht bei der eigenen Bevölkerung.

Aber es geht noch weiter. So betreibt in Niederösterreich die Landespolitik bereits alle Spitäler und hat Durchgriff auch auf die kleinsten Entscheidungen – und nützt das auch. Interne Kritiker werden einfach gekündigt und mit einer Art landesweitem Berufsverbot belegt. An zweiter Stelle liegt die Steiermark, in der 84 Prozent der Spitalsbetten direkt dem Land unterstellt sind – auch hier unterbindet die Politik jegliche Vernunft und hat jene, die diese zu laut eingefordert haben, einfach in die Wüste geschickt. Am Ende gibt es gerade einmal drei Bundesländer, die weniger als 70 Prozent „Marktanteil“ haben. So wird Konkurrenz unterbunden und die kurative Kraft des Wettbewerbs erfolgreich verhindert. Und jeder, der innerhalb des Systems steht, der wird darauf hingewiesen, dass Verbesserungsvorschläge ausschließlich aus den Büros der Landespolitik kommen dürfen.

Im Herbst werden die Budget-Grauslichkeiten über uns kommen. Steuererhöhung wird es geben, so viel ist fix. Was die Ausgabenseite betrifft, da herrscht Ideen-Leere. Zwar wissen alle, dass in der Spitalsversorgung ein bis zwei Milliarden Effizienzpotential liegt, aber wer kann Monopolisten befehlen, effizienter zu werden? Und dank der Eradikation interner Kritiker, findet man kaum jemanden, der diese Potentiale darstellen könnte. Also wird es mehr Geld geben um die Unvernunft weiter walten zu lassen – Steuergeld.

Und weil es so ist, kann jedem, der in der Spitalsversorgung weiter arbeiten will nur dringendst empfohlen werden, Süßholz zu raspeln, bis es weh tut, und nur ja keine Verbesserungen zu sehen oder es gar wagen, diese vorzuschlagen. Denn es wird einer Revolution bedürfen, um die Monopolisten zu zerschlagen – doch die zeichnet sich nicht ab.

Dieser Artikel wurde im April 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Ohne Krankheiten zum ewigen Leben

Täglich erfahren wir, wie wir gesünder leben können; das ist gut! Aber immer schwingt mit, dass, wenn Krankheiten verhindert werden, ewiges Leben winkt; das ist Blödsinn!

Herr M. las unlängst, dass die Untersuchung eines im Blut zirkulierenden Antikörpers gegen bestimmte Proteine, die in der Prostata zu finden sind (PSA-Test), die Überlebenswahrscheinlichkeit um 20 Prozent hebt. Herr M. ist Raucher, übergewichtig und 62 Jahre alt. Er geht nächstes Jahr in Pension, und wenn ein einfacher Test, der noch dazu gratis ist, seinen Tod gleich um ein Fünftel verhindern kann, dann ist das super. Außerdem weiß er ja, dass Prostatakrebs ein sehr häufiger Krebs ist. Irgendwo hat er gelesen, dass jeder sechste Mann daran erkrankt. Das zu verhindern ist sicher keine schlechte Idee.

Er lässt den Test machen.

Was er allerdings nicht weiß, und ihm auch niemand so richtig erklärt, ist, dass er das Gelesene kaum richtig verstanden hat. Denn so ein PSA-Test verlängert nicht das Leben. Ganz und gar nicht. Die Überlebenswahrscheinlichkeit wird nicht um 20 Prozent erhöht, was passiert, ist, dass die Wahrscheinlichkeit an Prostatakrebs zu sterben um 20 Prozent sinkt. Auch wenn das ganz toll klingt, ist das für ihn vermutlich nicht relevant. Denn, von den 35.156 männlichen Einwohnern die 2008 gestorben sind, sind gerade einmal 1.187 (3,4 Prozent) an Prostata-Krebs gestorben (ungefähr so viele wie sich umbringen). Hätten alle einen PSA-Test durchführen lassen, dann wären vielleicht von den 35.156 Verstorbenen statt 1.187 nur 1.000 an Prostata-Krebs gestorben.

Das heißt aber nicht, dass die andere 187 Männer länger gelebt hätten. Denn die Studien zur Gesamtüberlebenszeit zeigen zwischen denen, die sich testen lassen und denen, die das nicht tun, keinen Unterschied. Und um es klar auszudrücken, für etwa 34.000 Männer wäre es jedenfalls unerheblich gewesen, ob sie den Test machen hätten lassen oder nicht.

Am Ende ist der Tod durch Prostata-Krebs unbedeutend – auch wenn es für den einzelnen, der daran stirbt, sicher ein Drama ist. Sich generell vor ihm zu fürchten ist neurotisch. Und Herr M. wird wahrscheinlicher an den Folgen seines Lebenswandels (Übergewicht und Rauchen) sterben, als an seiner Prostata. Der Test wird sein Leben nicht verlängern, wenigstens nicht nachweislich. Die Angst vor dem Krebs wird aber mit jedem Test (man macht ihn ja regelmäßig) steigen und wenn das Ergebnis keinen Krebs nachweist, ihn in einer nicht realen Sicherheit wiegen.

Die Streitereien, ob dieser Test nun sinnvoll ist oder nicht, sind end- und grenzenlos. Aber darum geht es ja gar nicht. Es geht darum, dass es mittlerweile tief in unserem Denken enthalten ist, dass, wenn wir nur alle Krankheiten heilen, uns ewiges Leben winkt. Ich will jetzt nicht zynisch klingen, aber trotz aller medizinischer Kunst hat noch niemand überlebt.

Natürlich ist es leicht, von dieser Stelle aus zu behaupten, „Fürchtet euch nicht“, egal was euch gesagt wird. Aber es ist so. Jeden Tag erzählen uns Akteure des Gesundheitssystems, wie krank wir sind und wie wir Heilung erwarten können. Und wir glauben es nur allzu gerne.

Es wird aber Zeit zu erkennen, dass wir jedenfalls sterben müssen. Verhindern wir den Herzinfarkt, wird uns der Krebs töten, verhindern wird den auch, dann wird an seine Stelle vielleicht dementielles Siechtum treten. Wie immer wir es drehen, wir sind sterblich. Ein Gesundheitssystem sollte uns helfen, solang wie möglich gesund und glücklich zu leben, aber uns ewig auf Erden wandeln zu lassen, das ist absurd. Daher sollte diese Idee auch offiziell untersagt werden.

Dieser Artikel wurde im April 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Ambulante Gesundheitsversorgung – Chaos pur

Das Regel-Chaos in der ambulanten Versorgung ist unerträglich und behindert eine vernünftige Entwicklung – am Ende zum Schaden für die Bevölkerung.

Kaum jemand, der, wenn er einen Arzt besucht, weiß, welches Regel-Chaos sich hinter diesem Besuch verbirgt. Ein Normalbürger geht entweder zu seinem Kassen- oder Wahlarzt, oder in die Spitalsambulanz oder aber in ein Ambulatorium. Dass sich dahinter unterschiedlichste Gesundheitssysteme verbergen, bleibt verborgen.

Von der Patientenzahl her dürften Kassenärzte wohl die wichtigsten sein. Ob das auch für ihre Versorgungswirksamkeit gilt, weiß man nicht. Am Ende werden dort über 110 Millionen Arztbesuche pro Jahr gezählt. Wo es Kassenordinationen gibt, legen Ärztekammer und Kassen im Verhandlungsweg fest. Das Leistungsspektrum wird durch Honorarkataloge bestimmt, von denen es 14 unterschiedliche gibt – fünf für die sogenannten kleinen Kassen und neun für die neun Gebietskrankenkassen. Diese Kataloge sind alles andere als logisch, und funktionieren nach allem, nur nicht nach dem „Gleiches Geld für gleiche Leistung“- Prinzip. Denn die Leistungen sind das Produkt von 50 Jahren Verhandlungen zwischen Dutzenden Kassen und föderalen Ärztekammern. Kein Mensch weiß mehr, was sich die Verhandler bei den Leistungen und den damit verbundenen Honoraren gedacht haben.

Bei den Wahlärzten, von denen es mehr als Kassenärzte gibt, sind diese Kataloge weitgehend egal, weil sie nach dem Kostenerstattungsprinzip funktionieren, also nicht mit den Kassen, sondern mit den Patienten verrechnen, und ihre Honorare selbst festsetzen. Wo es Wahlärzte gibt ist ebenfalls ungeregelt. Das einzige was Wahlärzte mit Kassenärzten verbindet ist die Tatsache, dass beide keine Ärzte anstellen dürfen.

In den Spitalsambulanzen wiederum arbeiten nur angestellte Ärzte; wie viele ist aber ungewiss. Welche Leistungen erbracht werden ist ebenso unbekannt, wie die Menge der erbrachten Leistungen, nicht einmal das Patienten-Zählen funktioniert. Das Einzige, was man weiß, ist, dass sie in einer Grauzone arbeiten. Denn eigentlich sind sie nur für ambulante Patienten zuständig, die eine Versorgung brauchen, die es im niedergelassenen Bereich nicht gibt. Weil man aber weder da noch dort weiß, was es wirklich gibt, machen Ambulanzen mittlerweile alles.

Und schließlich mischen Ambulatorien mit: Wo es welche geben und was dort gearbeitet werden darf, ist Ländersache – die haben den Bedarf zu prüfen. Was allerdings die Bezahlung betrifft, da sind meist die Kassen in der Pflicht. Und um es nicht zu einfach zu machen: Die Vertretung der Ambulatorien ist – irgendwie artfremd – die Wirtschafts- und nicht die Ärztekammer.

Und weil die Verwirrung nicht groß genug scheint, wird es demnächst Ärzte-GmbHs nach dem Stöger-Modell geben: ein Hybrid aus Ambulatorium und Ordination. Es dürfen nur Ärzte, die in der Ärztekammer bleiben, dabei sein, Ärzte dürfen nicht angestellt werden und wo sie entstehen ist Ländersache, der Bedarf muss also von Amtswegen geprüft werden – außer die Ärzte, die seine GmbH gründen wollen, haben einen Kassenvertrag, dann ist es Sache der Kassen.

Alles sehr transparent halt.

Dabei hat der EuGH Österreich genau wegen dieser Intransparenz verurteilt und aufgefordert, endlich Regeln, die für alle gleich gelten, einzuführen. Aber das käme einer Reform gleich, die niemand will.

Praktisch bedeutet das aber Rechtsunsicherheit. Ärzte werden ihre Investitionsüberlegungen dementsprechend anstellen; mit der Folge, dass der ambulante Bereich weiter geschwächt wird – aber vielleicht ist das ja das Ziel.

Dieser Artikel wurde im April 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Turnusärzte – das Leiden geht weiter!

Ein drohender Ärztemangel ist ein hervorragendes Thema um Interessen durchzusetzen – hoffentlich fallen nicht alle darauf rein.

Die Linzer wünschen sich dringend eine eigene Med-Uni, denn ein Ärztemangel droht, der nur mit einer solchen zu beheben ist. Und anhand einiger Indikatoren meint man den Mangel zu sehen. Kassenstellen sind immer schwerer nachzubesetzen und selbst in Spitälern wird es schwerer, Ärzte zu finden – vor allem in kleinen Landspitälern. Alles deutet auf eine Mangel hin, der größer werden soll, weil eine Pensionierungswelle durch den Kassenbereich gehen wird. Doch ist der Mangel real?

Beginnen wir mit den OECD-Zahlen. Dort liegen wir, was die Zahl der Ärzte betrifft, an sechster Stelle (von 31) und haben sieben Prozent mehr (!) Ärzte als Deutschland, das Mangelerscheinungen hat. Genauer geschaut, rechnen die Deutschen (OECD-konform) auch ihre Ärzte in Ausbildung mit, die wir weglassen. Zählt man die dazu, haben wir 30 (!) Prozent mehr Ärzte als die Deutschen – und trotzdem einen Mangel?

Natürlich nicht, im Gegenteil, eine Schwemme. Nur: Unsere Ärzte wollen immer weniger im System arbeiten und suchen (freiwillig?), sich außerhalb zu verwirklichen – als Wahlärzte!

Bei den Hausärzten drohe der größte Mangel, sagt man. Und das stimmt, aber nicht weil wir zu wenige Ärzte haben. Dass sich Turnusärzte am Ende der heutigen Ausbildung nicht trauen, Kassenhausärzte zu werden, ist verständlich. Überall hat man erkannt, dass der Hausarzt als Facharzt ausgebildet werden muss; es reicht keinesfalls, ihn im Spital Blut abnehmen und Spritzen geben zu lassen. Doch gibt es hierzulande so einen Facharzt? Nein. Glaubt man Gerüchten, dann ist sogar die Arbeitsgruppe, die seit Jahren tagt um diesen einzuführen, vertagt. Und warum? Weil die Länder billige Turnusärzte brauchen, um die vielen unnötigen Spitäler betreiben zu können. Würden Turnusärzte zum Facharzt ausgebildet, dann gäbe es viel weniger als heute. Die Länder wären gezwungen, Ärzte zu höheren Gehältern fix aufzunehmen – was sie sich nicht leisten wollen.

Kommen wir zu Pensionierungswelle. Seit 1995 ist die Zahl der Kassenärzte (obwohl die Arbeit mehr wurde) gleich geblieben. Und weil davor die Zahl gestiegen ist, kommt es jetzt zu einer scheinbar mangeltreibenden Pensionierungswelle. Da aber in der gleichen Zeit kontinuierlich etwa 900 Ärzte jährlich zu arbeiten begonnen haben, gibt es genügend Ärzte –

nur eben nicht Kassenärzte, weil es keine Stellen gab. Und so stehen den etwa 8.000 Kassenstellen aktuell 10.000 Wahlärzte gegenüber, die, wenn es attraktiv genug wäre, auch wieder ins Kassensystem zurückkehren.

Also warum wird der Ärztemangel beschworen?

Da sind einerseits die Ärztekammer und deren eigenes Pensionssystem. Analog dem öffentlichen wurde es auf einem Generationenvertrag errichtet, das nur funktioniert, wenn die „Alterspyramide“ eine Pyramide bleibt, also immer mehr Ärzte hinten nachkommen – bis quasi alle Österreicher Ärzte sind. Passiert das nicht, dann wird es schmerzhafte Einschnitte bei den Ärzte-Pensionen geben müssen – das gilt es zu verhindern.

Die zweite Interessenslage betrifft die nun auftretenden Finanzierungsschwierigkeiten in Oberösterreich. Die (rote) Stadt Linz braucht Geld, um ihr Prestige-Spital zu finanzieren. Das (schwarze) Land will dieses Geld nicht hergeben. Ergo braucht es neue Quellen – den Bund. Hätte nämlich Linz eine Med-Uni, dann müsste der Bund die Spitäler mitfinanzieren – und das Problem wäre gelöst!

An die Turnusärzte und deren Zukunft denkt dabei keiner.

Dieser Artikel wurde im März 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Nur Mut, Herr Dr. S.!

Jeder hat gesagt es geht nicht. Dann kam einer, der hat das nicht gewusst und es einfach gemacht! Ob der Hauptverbandschef so einer ist?

„Wenn man seit langem die Diagnose über das österreichische Gesundheitssystem kennt, wenn man alle Daten, Fakten und Zahlen am Tisch hat und trotzdem nichts unternimmt, um den drohenden Kollaps oder sogar Infarkt abzuwenden, dann ist das Selbstmord mit Anlauf.“

Sowas hört man eigentlich nur von Experten, die es sich leisten wollen, nach dem Motto „Viel Feind, viel Ehr“ zu leben. Von hohen System-Vertretern ist das nicht zu hören. Dr. Schelling war da immer schon anders. Sogar während der ersten Monate seiner Hauptverbandstätigkeit war von ihm noch mit harter (Selbst)Kritik zu rechnen. Allerdings verflachte er dann für einige Zeit – um sich nun stark zurückzumelden.

Acht bis zehn Milliarden Euro Schulden (Anm.: 100 Prozent Verschuldung, gemessen am Jahresumsatz) lägen in den Spitälern verborgen und Unwilligkeit wird als Unmöglichkeit getarnt – ja, so was hört man nicht gerne.

Ob jedoch brennende Reden ausreichen? Die Länder blockieren selbst unter Bruch von Gesetzen und m.E. sogar der Verfassung. Das darf nicht verwundern, hat doch heute eine rechtlich nicht einmal vorhandene Landeshauptleutekonferenz mehr Macht als die vielen legislativen Einrichtungen, von Landtagen, über Bundesrat bis zum Nationalrat.

Wenn also Dr. S. wirklich was ändern will, dann müssen mutigen Reden noch mutigere Taten folgen. Und da gäbe es tatsächlich etwas!

Die stationäre Spitalsversorgung (ohne Ambulanzen) kostet etwa acht Milliarden Euro, 3,5 davon kommen von den Kassen. Pro Patient heißt das, dass von etwa 3.200 Euro die Kassen 1.400 beisteuern.

Dass bei uns viel zu viel im Spital behandelt wird, ist Allgemeinwissen. Werden bei uns pro 100 Einwohner etwa 30 Aufnahmen gezählt, kommt Deutschland, an zweiter Stelle in der EU, mit 20, die EU mit 17, die Niederlande gar nur mit 11 aus.

Was also, wenn der Hauptverband hergeht und pro Aufnahme, die seine Vertragspartner, die Kassenärzte, nachweislich verhindern, einfach 1.000 Euro einbehält. 500 Euro kriegen die Kassenärzte und 500 werden zum Schuldenabbau verwendet. Was hätte das für Folgen?

Die Kassenärzte würden mehr Geld verdienen, allerdings nur, wenn sie auch versorgungswirksamer werden – es ist also nicht nur eine Gehaltserhöhung, sondern ein echter Leistungsanreiz, der wirklich ambulant vor stationär fördert.

Gleichzeitig würden jene, vorwiegend kleine, Spitäler, die zu einem Gutteil von unnötigen Aufenthalten leben, unter noch größeren Druck geraten. Der Druck wäre so groß, dass die Länder über Spitalsreformen reden müssen, sollen ihre Defizite nicht in astronomische Höhen schnellen.

In den großen Spitälern wiederum würde viel sinnlose Arbeit verschwinden, weil Patienten, die eigentlich nicht ins Spital gehören, wegfallen. Die Ärzte könnten sich wieder auf „echte“ Fälle konzentrieren. Auch entstünden Freiräume, die dringend nötig sind, um die Ausbildung der Jungärzte auf ein „normales“ Niveau zu heben und den Spitalsärzten Zeit zur Fortbildung zu verschaffen.

Und alles zusammen würde patientenfreundlicher und qualitativ besser werden!

Das wäre toll, würde aber Blut, Schweiß und Tränen kosten; denn, Länder und Interessensgruppen – immerhin verdienen abertausende mit überflüssigen Spitälern sehr bequem ihr Geld – werden alles tun, das zu verhindern Es würde Klagen hageln und an jeder Ecke das Leichentuch gehisst werden. Aber das ginge vorbei und ein mutiger Redner könnte als mutiger Sozialreformer in die Geschichte eingehen.

Dieser Artikel wurde im März 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Enttäuschte Hoffnungen

Die aktuelle Diskussion über teure aber kaum nützliche Therapien ekelt mich an. Sie ist unerträglich scheinheilig und verlogen – von allen Seiten.

1994 starb meine Mutter an den Folgen eines Melanoms, dem schwarzen Hautkrebs. Nach der operativen Entfernung dieses kleinen schwarzen Punktes auf ihrem Arm, war sie sieben Jahre beschwerdefrei und galt als geheilt. Doch dann tauchten Metastasen auf, in Leber und Bauchraum. Sie erhielt neuerlich Chemotherapie, und wirklich, die Metastasen wurden kleiner.

Irgendwann begann ihr rechtes Bein zu zucken. Innerhalb weniger Tage war sie halbseitig gelähmt. Mehrere Hirnmetastasen hatten sich gebildet – die man nun in Graz mit dem Gamma-Knife entfernen wollte.

Tatsächlich erholte sich meine Mutter postoperativ und die Lähmungen gingen zurück. Nach Wochen der Rehabilitation konnte sie sogar wieder selbst gehen. Einen Tag lang, dann begann das linke Bein zu zucken.

Die nächsten und letzten Monate fiel meine Mutter in eine tiefe Depression. Sie war auf der linken Seite komplett gelähmt und musste gewickelt werden. Ich sah damals meine Mutter das erste Mal nackt. Regelmäßig erhielt sie Einläufe, weil Morphium und fehlende Bewegung ihre Verdauung lahm legte.

Während all dieser Zeit schaute sie mir kein einziges Mal mehr in die Augen.

Unsere Familie hat den höchsten Preis bezahlt, den man bezahlen konnte – mit enttäuschten Hoffnungen eines Todgeweihten.

Warum ist das passiert, habe ich mich später oft gefragt. Warum die neuerliche Chemo, warum diese Hirnoperationen?

Sind wirklich die Hersteller von Medizingeräten und Medikamenten schuld, dass so viele falsche Hoffnungen gesät werden? Das zumindest könnte man meinen, wenn man die Diskussion über teure aber kaum nützliche Therapien verfolgt.

Machen wir es uns damit nicht zu leicht? Sind wir nicht selbst schuld an diesem Irrsinn. Wir alle wollen doch, dass alles getan wird, um länger zu leben. Wir fragen nie nach dem Preis dafür.

Wie oft werden in sterbenskranke Krebspatienten die teuersten Medikamente gestopft, ohne echte Chance auf Heilung? Ist denn wirklich alles Machbare auch ein Muss? Verweigern wir nicht schlicht die Diskussion über den Tod, und ziehen uns aus Bequemlichkeit und Feigheit auf den Standpunkt zurück, dass alles, was machbar ist, gemacht werden muss?

Natürlich hat die Politik Mitschuld – statt die Diskussion über den Nutzen von Therapien zu führen, zieht sie sich darauf zurück, allen alles auf allerhöchstem Niveau zu versprechen. Aber sind es nicht wir, die wir sie dann für diesen Populismus mit Wahlsiegen belohnen?

Auch die Ärzte tragen Schuld, weil sie in diesem Klima der falschen Hoffnungen dem Patienten selten seine realen Chancen darstellen. Wenn eine winzigste Chance existiert, dann wird diese aufgeblasen als ob wirklich Heilungschancen bestünden.

Auch die Industrie ist nicht schuldlos – aber von allen ist sie wohl die unschuldigste. Solange wir der Überzeugung sind, dass Gesundheit unendlich viel Wert ist, solang wir bereit sind, das Leben um jeden Preis zu verlängern, darf es nicht wundern, dass uns jemand dazu ein Angebot macht. Solange wir uns der ethisch schwierigen Frage entziehen, wann genug ist, solange werden wir Medikamente und Geräte kaufen, die fähig sind zu horrenden Preisen – und da meine ich gar nicht nur Geld, sondern vor allem die Verzweiflung nach enttäuschter Hoffnung – ein wenig mehr Zeit herauszuschinden.

Ich bin schuld, dass meine Mutter so leiden musste, ich habe mich nicht gegen diese Übertherapien gewehrt – ich habe die Augen geschlossen und es geschehen lassen.

Dieser Artikel wurde im März 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Krebsangst, Prävention und Geschäftemacherei

Weder das Bundesinstitut für Qualität im Gesundheitswesen, noch Ministerium noch Ärztekammer scheint die Vorsorge-Scharlatanerie zu interessieren.

Frau M. ist 63 und Raucherin. Sie weiß ja, dass das nicht gesund ist, aber sie raucht nicht viel. Allerdings sind sie und ihr Mann seit einem Jahr in Pension und das Leben mit einer stattlichen Pension hat dermaßen viel an Lebensqualität geschaffen, dass sie begonnen hat, sich Gedanken zu machen. Schließlich will sie noch ein paar Jahre reisen und die Welt sehen – gesund.

Und wie es so ist, hat sie aus der Zeitung erfahren, dass es jetzt Hunde geben soll, die Lungenkrebs erschnüffeln können. Und weil angeblich die Heilungschancen am höchsten sein sollen, wenn man Lungenkrebs möglichst früh erkennt, ist sie froh zu lesen, dass mit dem Lungen-Krebs-Finder dieser bereits ab dem Stadium 0 (?) zu erkennen ist.

Der Test ist einfach. Man bestellt einen Ballon, bläst hinein und schickt ihn an die Firma zurück. Dort schnüffeln speziell ausgebildete Hunde daran; und wenn diese anschlagen, hat man Krebs.

Als das Ergebnis kommt, steht fest, Frau M. hat wahrscheinlich (!) Krebs. Ihr Leben stürzt zusammen.

Sie begibt sich sofort zum Arzt und lässt haufenweise Untersuchungen über sich ergehen – die aber alle keinen Krebs finden. Eigentlich könnte sie ja froh sein, aber, wie man von der Lungen-Krebs-Finder-Firma erfährt, sind alle Untersuchungen nur begrenzt sicher. Sie könnte Krebs haben, auch wenn man keinen findet.

Angst beherrscht jetzt ihr Leben. Gott sei dank erzählt ihr eine Freundin von einem Professor, der dank überragendem Können anderen Ärzten überlegen ist.

Eigentlich ist der Professor ja gar keiner, er ist nur Dozent, was aber für die meisten das gleiche ist. Der Title jedoch ist Garant für Qualität. Und mit Überzeugung gibt der Professor an, dass es in der Jetztzeit nicht mehr notwendig ist, an Krebs zu erkranken. Er hat auch einen Test, der nicht nur alle Krebsvorstufen weit vor allen anderen Untersuchungsmethoden erkennt, sondern auch gleich heilt. Nur wenn es besonders starke Vorstufen sein sollten, sind zusätzliche – orthomolekulare oder energetische – Therapien nötig; die er auch anbietet.

Um sicher zu gehen, nimmt Frau M. die Angebote in Anspruch. Sie erhält mehrmals jährlich Tachyionentherapien (Sitzen zwischen energetisch geladenen Kristallen), Colonhydrotherapien (Einläufe) und sogar ein Mal eine Ozontherapie (Einblasen von Ozon in den Bauchraum). Natürlich besucht sie auf Anraten des Professors auch häufig Schulmediziner um Unmengen an kostspieligen (aber von der Öffentlichkeit bezahlten) Tests durchführen zu lassen. Mit diesen Befunden kommt sie dann zurück zur Dunkelfeldmikroskopie, um sie sich erklären zu lassen. Und den Hunde-Test wiederholt sie auch.

In Summe kostet sie das mehrere Tausend Euro pro Jahr – die sie vom Reisebudget abzwackt. Frau M. wird zwar nicht mehr reisen, aber dafür sicher (?) gesund bleiben.

Tja – Krebsprävention ist eine echt gute Geschäftsidee: Man nimmt ein bisschen Krebs, gibt wissenschaftlich klingende Maßnahme dazu und erhält eine Gelddruckmaschine – die dank der Krebsangst unaufhörlich läuft.

Wenn man eine einfache Pilzsalbe kaufen will, braucht man ein Rezept. Wenn man aber an Scharlatanerie erinnernde Therapien kaufen will, dann macht man das einfach – denn Therapien die Krebsangst schüren und so psychische und soziale Probleme auslösen, sind rezeptfrei; auch wenn sie schädlich und für alle (auch gesunde Steuerzahler!) sehr teuer sind. Die Offiziellen dürfte das nicht interessieren – es gibt Wichtigeres.

Dieser Artikel wurde im März 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.