Völlige Verwirrung – der stabilste Weggefährte

   Ein weiterer ständiger Begleiter dieser Pandemie ist die gegenseitige Schuldzuweisung, wer für Verwirrung gesorgt hat.

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   Das Verwirrspiel begann früh: Als Ende April die Maßnahmen verschärft wurden, weil bald jeder jemanden kennen würde, der an Covid-19 gestorben wäre, löste die erste Kluft zwischen Wissenschaft und Politik Irritation aus.

   Dann die Diskussion über Kinder als Superspreader: Seit der ersten Clusteranalyse und im Einklang mit wissenschaftlicher Literatur war klar: Kindergärten und Volksschulen spielen keine Rolle im Infektionsgeschehen. Doch erst jetzt traut sich ein Minister, das öffentlich zu sagen. Vermutlich hat sich der Irrglaube an infektiöse Kinder verfestigt. Denn er wurde monatelang politisch bestärkt, weil Meinungsumfragen ergaben, dass die Bevölkerung das glaubt und glauben will: Also Kindergärten und Volksschulen schließen. Warum sollte man über unpopuläre Fakten aufklären, wenn man populäre Alternativen bedienen kann?

   Dann die Wiedereinführung der Maskenpflicht in Supermärkten: Grund war eine Meinungsumfrage! Die Mehrheit hatte Angst, sich dort anzustecken. Das zeigte, wie wenig das Wissen über richtiges und falsches Verhalten verbreitet ist – wenn es da wäre, hätte keiner oder wenigstens nicht die Mehrheit der Wähler nach Masken gerufen. Supermärkte sind unbedeutend im Ansteckungsgeschehen, weil wir dort kein Risikoverhalten an den Tag legen.

   Und jetzt die Ampel: Eigentlich sollte sie die regionale Bevölkerung über regionale Gefahrenlagen informieren, um zu lernen, was richtig ist, was läuft, und so Risikoverhalten verändern – dezentral. Aber warum sollte das funktionieren? Niemals wurde Risikoverhalten erklärt, immer nur wurden zentral Verhaltensregeln vorgeschrieben!

   Meinungsumfragen-gestützte Symbolpolitik und Verhaltensvorschriften sind leichter umzusetzen, als mühsam evidenzbasiertes Wissen über Infektionsgeschehen und zu vermeidendes Risikoverhalten zu verbreiten. Und so wird es weitergehen. Populistisch. Wenn jetzt aus dem Nichts die Grippeimpfung empfohlen wird, dann wohl deshalb, weil irgendeine Meinungsumfrage zeigt, dass die Mehrheit sich (jetzt) impfen lassen will. Dass dies weniger dem Individual- als dem Herdenschutz dient, wird die Mehrheit nicht wissen (man nennt das Präventionsparadox). Um das Wissen aufzubauen, hätte man seit Monaten klar (nicht einfach!) kommunizieren müssen – bekannt ist das Problem ja seit Mai! Ob jetzt noch Aufklärung funktioniert? Wenn nicht, wie wird die Politik auf fragwürdige Schwarzmarkt-Impfstoffe reagieren, die sich die Menschen in der Angst ums eigene Wohl selbst besorgen?

   Und weil die Verwirrung groß ist, gib es das andere Spiel: die gegenseitige Schuldzuweisung. Die (vor allem junge) Bevölkerung, die sich nicht an Verhaltensregeln halten will, reißt sich nicht zusammen; oder Eltern, die sich nicht ordentlich informieren, sind an der Verwirrung schuld; oder eben eine andere als die eigene Behörde; das Land; der Bund; die EU. Jeder – vom Bürgermeister über politische Bildungsdirektoren, Landes- und Stadträte bis hin zu Ministern – kennt jemanden, der schuld ist.

„Wiener Zeitung“ vom 24.09.2020  

Masken im Supermarkt gegen Chöre in Freikirchen

   Masken wirken dort, wo Menschen in schlecht belüfteten Räumen gedrängt laut reden oder singen – im Supermarkt sind sie nur symbolisch.

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   Es ist dunkel. Auf einer spärlich beleuchteten Straße sehen Sie unter einer Laterne einen Mann, der offensichtlich etwas auf dem Boden sucht. Auf der anderen Straßenseite, die nicht beleuchtet und daher stockdunkel ist, steht ein Auto. Höflich fragen Sie, was der Mann denn täte und ob Sie helfen könnten. Er ist erfreut und sagt, er habe seinen Autoschlüssel verloren. Wo habe er ihn denn das letzte Mal gesehen? Nun, der Schlüssel sei runtergefallen, als er sein Auto öffnen wollte, sagt er und zeigt dabei zum Auto im Dunkeln hinüber. Verwirrt fragen Sie, warum er dann nicht dort suche. Na, weil es drüben dafür zu dunkel sei, hier aber im Licht der Laterne könne er suchen.

   Genau so ist die Diskussion über Masken in Supermärkten. Diese haben in Epidemien einen schlechten Ruf, weil dort alle hinmüssen und das im Falle der Ausbreitung über Schmierinfektion ein echtes Problem darstellt. Aber eben nur, wenn Schmierinfektion wichtig ist. Und gegen eine solche helfen Masken gar nichts. Die helfen gegen Tröpfcheninfektion – und da richtig gut, vor allem dort, wo Abstandhalten schwierig ist. Doch wie es aussieht, ist das in Supermärkten nicht der Fall. Sonst hätten wir dort Cluster identifiziert und viele infizierte Verkäufer entdeckt. Abstandhalten und Hust-Nies-Hygiene funktionieren – und die Menschen halten sich im Supermarkt daran.

   Die Verbreitung von Sars-CoV2 findet anderswo statt. Einzelne Superspreader, denen man die Möglichkeit gibt, nahe und lang genug mit anderen zu reden, führen zu Ausbrüchen. Die meisten Infizierten sind kaum ansteckend, dafür ist jeder zehnte ein potenzieller Superspreader. Das ist eigentlich gut, denn damit bleiben Cluster leichter beherrschbar. Und Ampelkarten, die glücklicherweise manche Wissenschafter einfach so publizieren, ohne auf Politiker zu warten, zeigen schön, dass eben nur da oder dort einzelne Bezirke rot aufleuchten und die Umgebung grün bleibt. Das Virus sickert nicht einfach so durch die Gegend. Und das macht Test and Trace – also testen, so viel wie geht, und jedem Fall nachlaufen und isolieren – machbar. Und obwohl die Zahlen steigen, sind die Cluster beherrschbar, oder nicht?

   Jedenfalls sind alle öffentlich gewordenen Cluster, von gemeinsamem Singen bei Gottesdiensten bis zum Postzentrum (würden Clubs wieder öffnen, wären sie auch dabei), genau dort, wo die Wissenschaft sie erwartet hat: in geschlossenen, schlecht belüfteten Räumen (closed), in denen sich Menschen drängen (crowd) und laut miteinander reden (conversation), wozu auch singen gehört – die drei Cs!

   Wer sich an ihnen orientiert und dort Superspread-Ereignisse unterbindet, darf mit einem R unter 1 rechnen. Und wenn eine 3C-Veranstaltung nicht verhindert werden kann, dann braucht man eben Masken. Supermärkte weisen, wenn überhaupt, sehr selten die drei Cs auf. Deswegen gibt es dort – mit und ohne Maske – kaum Verbreitung. Und doch sollen dort Masken wiederkommen. Aber wie sollen diese dort Cluster in Freikirchen verhindern?

„Wiener Zeitung“ vom 23.07.2020 

Lagen die Epidemiologen alle falsch?

   Man kann hinterher gescheiter sein. Aber jene, die damals recht hatten, heute als Irrende darzustellen, ist Chuzpe.

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   Es ist anscheinend bei uns weit verbreitet, anzunehmen, dass sich WHO, CDC, RKI und überhaupt alle Epidemiologen geirrt haben, aber nicht einmal den Mut besitzen, ihre Fehleinschätzungen zuzugeben. Als Beweis dafür wird verschiedenes vorgebracht, unter anderem, sie hätten Masken viel zu spät und zögerlich empfohlen. Mehr noch, man hört sogar, Millionen Menschen hätten gerettet werden können, wenn WHO & Co ihre Empfehlungen früher angepasst hätten. Aber glücklicherweise haben einige weise Politiker, auch gegen die irrenden Epidemiologen, diese eingeführt.

   Ist das so? Haben sich die geirrt? Und haben uns weise Politiker vor falschen Experten gerettet? Eher nicht!

Es zeigt halt nur Unverständnis, wie Epidemiologen in einer Pandemie arbeiten. Es gibt, wie mittlerweile bekannt sein sollte, zwei Infektionswege: über Schmiere und Tröpfchen. Zweitere teilt man in sehr kleine, schwebende Tröpfchenkerne und in große Tröpfchen, also das, was uns im Gesicht landet, wenn das Gegenüber uns direkt anniest, anhustet oder laut anspricht – oder aber innerhalb von zwei Metern runterfällt und dort Schmiere bildet. Letztere entsteht aber nicht nur durch falsche „Nies- und Husthygiene“, sondern vor allem durch fehlende Händehygiene. Beim Griff ins Gesicht, vor allem in die Nasenregion, werden Erreger zuerst auf Finger und von dort dann auf alles, was man angreift, übertragen – um von dort wieder im Gesicht eines anderen zu landen.

   In einer Pandemie mit einem neuen Erreger versuchen Epidemiologen, so schnell wie möglich herauszufinden, welcher Infektionsweg wie wichtig ist, um dann Handlungsempfehlungen zu geben. Und genau das haben sie getan und tun sie noch heute. Denn dass wir heute wissen, dass Tröpfchenkerne und Schmierinfektion eine nur untergeordnete Rolle einnehmen, ist noch nicht lange bekannt – und ein unglaubliches Glück.

   Denn damals, als WHO & Co von Masken abrieten, aber populistische Politiker, flankiert von Virologen, die Maskenpflicht (eigentlich den Mund-Nasen-Schutz) eingeführt haben, war das unklar. Masken führen jedoch dazu, dass viel mehr Schmiere in die Welt kommt. Einerseits, weil in den Masken die Erregerkonzentration steigt, aber viel wichtiger, weil der Griff ins Gesicht für ungeübte Maskenträger viel häufiger wird. Und gegen Aerosole wirken Masken nicht, aber weil sie psychologisch einen Schutz liefern, werden Menschen unvorsichtiger. Der einzige Infektionsweg, der dadurch reduziert wird, ist der über große Tröpfchen.

   Und wenn Sars-CoV-2 nicht hauptsächlich über solche übertragen worden wäre, dann wären Masken Brandbeschleuniger gewesen. Supermärkte, öffentliche Verkehrsmittel und Büros wären tatsächlich zu den Superspreadern geworden, wie es in manchen Modellen, auch in Österreich, befürchtet wurde.    Aber dem war nicht so – Gott sei Dank! Doch dass das alles gut ausgegangen ist, war keine Leistung weiser Politiker – es war pures Glück. Und dass jetzt so kommuniziert und geglaubt wird, Epidemiologen hätten sich geirrt, weil sie gegen die Masken waren, ist Chuzpe

„Wiener Zeitung“ vom 25.06.2020   

Wie wir zu Kleinkindern degradiert wurden

   Eigentlich sollte die große Mehrheit mittlerweile ein wenig Covid-19-Wissen aufgebaut haben oder wenigstens keine falschen Theorien vertreten. Oder doch?

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   Es gibt zwei Infektionswege: Schmiere und Tröpfchen. Zweitere teilt man in Aerosole, also sehr kleine, schwebende Tröpfchenkerne, und große Tröpfchen, also das, was uns im Gesicht landet, wenn das Gegenüber uns direkt anniest, anhustet oder anschreit – oder aber runterfällt und Schmiere bildet, die infektiös sein kann.

   Ob es zur Infektion kommt, hängt von Virenmenge und Infektiosität ab. Masern etwa sind über die Luft schon bei kleinen Mengen hochansteckend. Wie schwer die Infektion abläuft, bestimmt die Virulenz. Diese ist von Virus zu Virus und Mensch zu Mensch anders und hängt vom Immunsystem ab. Ist dieses alters- und/oder krankheitsbedingt geschwächt, wird der Verlauf schwerer.

   Für Covid-19 ist der wichtigste Infektionsweg außerhalb der eigenen vier Wände jener durch große Tröpfchen. Was nicht heißt, dass es nicht auch über die anderen Wege ginge – aber eben viel weniger wahrscheinlich.

   Daher ist die Ansteckung dort am häufigsten, wo Erwachsene (!) einander anschreien, weil die Musik laut (Clubs) oder der Gesprächspartner schwerhörig (Pflegeheime) ist, oder wo ausgelassene Massen wild brüllen (Fußballspiele) – im Grunde also überall, wo Erwachsene nicht darauf achten, ob sie beim Artikulieren spucken – das gilt auch für Chorgesang.

   Andere feucht anzusprechen (nicht im Vorbeigehen anzuatmen), ist ein wichtiges Risikoverhalten, auf das jeder achten sollte – und über das öffentlich aufgeklärt werden müsste.

   In der Versorgungswissenschaft nennt man das Patienten-Empowerment; also die Aufklärungsarbeit so zu gestalten, dass der Patient ermächtigt wird, das Richtige zu erkennen. Wird das erreicht, kann man auf dessen Adhärenz bauen, also auf die eigenverantwortliche Umsetzung eines richtigen Verhaltens oder die Vermeidung eines Risikoverhaltens.

   Alternativ kann man paternalistisch vorgehen – also nicht mühsam erklären, sondern nach dem streng väterlichen Prinzip vorgehen: „Frag nicht, sondern mach was ich sage!“ Dann werden viele Patienten sich aber auch wie Kinder verhalten und, sobald der Papa nicht hinschaut, nicht folgen.

   Unsere Regierung hat bisher den paternalistischen Weg gewählt und – um ja niemanden zu diskriminieren – keinerlei differenzierte Betrachtung zugelassen. Überall sind alle Infektionswege und jeder Sozialkontakt gleich gefährlich, jeder ist gleich gefährdet, anzustecken oder angesteckt zu werden, und jeder Verlauf kann schwer sein. Daher werden undifferenziert ein Meter Abstand und Masken für alle dekretiert.

   Doch was passiert, wenn man so vorgeht? Dann reimt sich jeder selbst etwas zusammen.

   Und so werden sich die einen wild „argumentierend“ zu Tode fürchten, und andere werden nichts mehr ernst nehmen, weil es egal ist oder Corona gar nicht existiert. Kinder werden als Virenschleudern betrachtet und zu absurdem Sozialverhalten gezwungen, Jugendliche werden Party machen, halt „zu Hause“, und Kranke werden nicht zum Arzt gehen, um nicht an Covid-19 zu sterben.    Eine zweite Welle wird so kaum flachzuhalten sein, weil wir nicht aus der ersten lernen durften. Und dann? Dann kommt Papa wieder, sagt, dass er uns gewarnt hat, und verbietet alles – wieder.

„Wiener Zeitung“ vom 28.05.2020 

Covid-19 – eine verstörende Ansicht

   Darf man Freiheit und Selbstbestimmung des einen einschränken, wenn man damit das Leben eines anderen vielleicht verlängert?

   Es wird für viele verstörend sein, was hier zu lesen ist, denn die öffentliche und propagierte Meinung lässt diese Gedanken nicht zu – wer das tut, riskiert den Tod vieler.

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Halten wir fest: das Strafrecht kennt Geld- und Freiheitsstrafen, letztere gibt es abgestuft, von Einzelhaft bis Fußfessel. Strafen dienen dazu, die Lebensqualität des verurteilten Täters zu reduzieren und klarzumachen: „Wir wollen dein Verhalten nicht.“ Lebensqualitätseinschränkende Maßnahmen sind auch bei Kindern als Strafe gedacht. Kinder kriegen Hausarrest oder Fernsehverbot. Lebensqualität ist für Lebende ein wichtiges Lebenselement. Deswegen ist sie auch in der Gesundheitsökonomie wesentlich. Und nur, um Diskussionen vorzubeugen: Die Messung ist keine einfache Sache, aber möglich.

   Eine Verlängerung des Lebens um jeden Preis (nicht finanziell gemeint) gilt als unethisch, Schaden und Nutzen sind aufzuwiegen. Reduktion der Lebensqualität ist ein Schaden, Lebensverlängerung ein Nutzen. Gerechnet wird in qualitätsadjustierten Lebensjahren – jedes Lebensjahr wird mit einem Qualitätsfaktor multipliziert. Das ermöglicht dann, Lebenslänge und Lebensqualität gemeinsamen zu betrachten.

   Das ist für viele verstörend. Deswegen betrachten sie die Lebenslänge als unendlich viel wert und Lebensqualität als unwichtig – alles für die Lebenslänge! Damit ist jegliche Maßnahme gerechtfertigt, die dazu führt, dass auch nur ein einziger Mensch nur eine Minute länger lebt.

   Ich halte das gerade jetzt für unethisch, weil es die Opfer, die die Gesellschaft aktuell erbringt (Freiheitseinschränkungen und finanzielle Nachteile – also „Strafen“) als selbstverständlich nimmt. Und mehr noch, weil ein moralisches Diskussionsverbot existiert, wird noch nicht einmal das Ziel der Lebensverlängerung klar formuliert, denn vermutlich wäre eine Rechnung über „gewonnene Lebensjahre“ bei möglichen Covid-Patienten noch nicht einmal positiv – denn wie die aktuelle „Übersterblichkeitsstatistik“ zeigt, ist die Hälfte auf Nicht-Covid-Tote zurückzuführen. Haben wir da Lebenslänge bei den einen geopfert, um das Leben anderer zu verlängern?

   Aber um dieser „lästigen“ Diskussion zu entgehen, wird lieber eine Gefühlsdiskussion geführt. Das ist der mit Abstand leichteste Weg. Er braucht keine Zahlen, keine Daten und erlaubt es, die Mehrheit hinter sich zu scharen: Jeder Schaden ist schicksalhaft hinzunehmen, niemand opfert etwas, alle retten Leben.

   Alleine, es ist nicht so! Die verzweifelten Menschen in den Pflegeheimen, deren Lebensinhalt die regelmäßigen Besuche der Angehörigen waren und deren Lebensfreude darin bestand, mit dem Personal zu reden, werden das anders sehen. Ebenso jene Kinder, die jetzt von ihren Eltern verprügelt werden, weil die Spannungen durch Quarantäne und Arbeitslosigkeit so hoch sind, und deren Leben die nächsten Jahrzehnte davon geprägt sein wird. Die Lebensqualität von Millionen wurde erheblich reduziert, und das ist den gewonnenen qualitätsadjustierten Lebensjahren gegenüberzustellen. Auch wenn das verstörend klingt.

„Wiener Zeitung“ vom 23.04.2020

COVID19 – Testen, Testen, Testen heißt Daten, Daten, Daten!

(Lesezeit 8 Min.) Ich bin kein Epidemiologe, deswegen halte ich mich aus der Diskussion raus. Epidemiologie ist in der Versorgungswissenschaft sowas wie die theoretische Physik in der Naturwissenschaft.

Die Aufgabe der Epidemiologen ist leicht zu verstehen. Sie fragen sich, wer hat welche Krankheit, seit wann, woher und mit welchem Verlauf und welchem Ergebnis für seine Gesundheit?

Doch um das zu beantworten, müssen komplizierte und am Ende komplexe Modell gerechnet werden, die aus vielen Parameter bestehen. Diese Parameter sind so zu wählen, dass für jeden eine plausible Annahme getroffen werden kann, weil meistens harte Daten fehlen, und erst später experimentell bestätigt werden können. Und während man für viele Krankheiten Jahre Zeit hat, viele Experimente machen und so Modelle immer nachziehen kann, ist das bei einer Pandemie durch einen neuartigen Erreger, die sich explosionsartig ausbreitet, schlicht nicht möglich – dann ist Können angesagt.

Wären alle möglichen Daten in IST-Zeit zugänglich, wäre die Aufgabe der Epidemiologen leicht – doch das ist nie der Fall. Also müssen sie zuerst Krankheitsmodelle entwerfen, die sich aus Risikofaktoren zusammensetzen und messbar sind. Und die müssen sie dann mit sozioökonomischen, kulturellen und demographischen Daten verknüpfen. Die Schwierigkeit besteht darin, das alles so zusammenzubringen, dass selbst widersprüchliche Annahmen ein schlüssiges Bild ergeben.

Im Fall von COVID19 wissen Epidemiologen wenigstens schon mal ein paar Risikofaktoren, die den Verlauf bestimmen: Alter, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, COPD, Hypertonie, Krebserkrankung, Einnahme von immunsuppressiven Medikamenten, Body-Mass-Index, Geschlecht, Raucherstatus. Wie wichtig die alle zueinander und miteinander sind, das ist noch nicht so klar. Wie Infektiös das Virus ist, da herrscht auch noch Unsicherheit. Auch die Zeit von der Ansteckung bis zu ersten Symptomen (sofern die überhaupt auftreten, da es auch die stille Feiung gibt), und der zeitliche Verlauf, ist noch unklar. Welche Übertragungswege bestehen, ist auch noch nicht restlos geklärt, vor allem, wie lange das Virus auf Oberflächen überlebt und so über den direkten Mensch zu Mensch-Kontakt hinaus verteilt werden kann. Welche sozioökonomischen Faktoren mitbestimmend sind (denken wir an die Urlauber in Ischgl), da suchen sie noch.

Und wenn einmal das alles so plausibel wie möglich geschätzt ist, darf nicht vergessen werden, dass jedes Modell maßgeblich von der regionalen Kultur bestimmt wird! Ein Modell das in China passt, muss nicht in Österreich passen – etwa, weil bei uns die Wohnungen größer und die Zahl der Bewohner geringer ist, oder weil wir nicht frisches Fleisch auf Bauernmärkten kaufen, oder weil die durchschnittliche Niederschlagsmenge im Februar geringer ist, oder weil wir mehr Autos haben, oder weil wir Hände schütteln, statt uns kontaktlos voreinander zu verbeugen! All diese Parameter können in Modellen wichtig sein – und weil das alleine schon im ersten Bezirk in Wien anders ist als im Mostviertel, müssen die Modelle so parametrisiert werden, dass sie eben solche Unterschiede zulassen. Deswegen müssen oft „alte“, regionale Modelle vergangener Epidemien herangezogen werden, um Anpassungen vornehmen zu können.

Und nicht selten kommt es eben zu Widersprüchen und/oder Rückkoppelungen in den Parametern – und das macht aus kompliziert komplex!

Diese Modelle müssen die Vergangenheit der Krankheitsausbreitung darstellen – und erst wenn das klappt, sind die Modell so stabil, dass damit Prognosen möglich werden. Und wenn diese Modelle so modelliert sein sollen, dass von Ihnen auch präventive Maßnahmen abgeleitet werden können (also Masken oder nicht, Schulen offen oder nicht …), dann müssen die Parameter zudem so gewählt werden, dass sie beeinflussbar sind. Und um dann den Erfolg oder Misserfolg von solchen Maßnahmen beobachten zu können, müssen Indikatoren definiert werden, die das messen können. Zudem müssen diese Indikatoren so sicher und leicht erhebbar sein, dass sie nicht zu einer zusätzlichen Dokumentationsbelastung für ein in der Regel ohnehin überfordertes Gesundheitspersonal werden – nicht weil Epidemiologen Mitleid hätten, nein, wenn der, der Daten sammeln soll, das mit Widerwillen tut, sind die Daten schlecht!.

Und all das bedeutet in der Praxis aus extrem wenigen und unsichern Daten, mit ausgefuchsten statistischen Methoden, extrem viel und akkurat herauszulesen – und deswegen sind eben Epidemiologen so selten wie theoretische Physiker in der Naturwissenschaft! Ich bin in diesem Zusammenhang höchsten Ingenieur.

Aber klar ist, selbst die besten Epidemiologen brauchen so viele Daten wie möglich. Deswegen ruft die WHO laut „TESTEN, TESTEN, TESTEN“. Denn, je weniger Daten, desto weniger Parameter, desto unsicherer die Vorhersagen, und je schlechter die Daten, desto schlechter die Vorhersagen. Testen heißt Daten sammeln! Es geht dabei nur darum, die Krankheit epidemiologisch zu verstehen, nicht um die Zahl der Infizierten herauszufinden.

Warum brauchen wir diese Modelle in dieser Pandemie?

Wenn wir die Strategie verfolgen, so wenige Neuinfektionen wie möglich zu erreichen, dann brauchen wir keine Modelle, sondern einfach nur extrem scharfe Isolationsvorschriften. Wenn jeder zu Hause sitzt und keiner sich dem nächsten auf weniger als zwei Meter nähert, dann wird die Ansteckungsgefahr soweit reduziert, dass niemand irgendwas rechnen muss. Nur darf dann halt eine Mutter Ihr Baby nicht wickeln, einem Herzinfakrtpatienten ruft dann eine Ärztin von 2m Entfernung zu „wird schon wieder“, und der Wundmanager gibt übers Megaphon Anleitung, wie man sich selbst eine Kompression anlegt.

Dass wir bei COVID 19 eine Strategie verfolgen müssen. liegt daran, dass alles was wir bisher wissen, darauf hindeutet, dass relativ wenige (3%), aber absolut sehr viele Menschen (geschätzt werden es am Ende etwa 130.000 gewesen sein) im Verlauf von COVID19 eine so schwere Lungenentzündung haben, dass sie von selbst zu schwach sind, um zu atmen. Und die einzige, bisher bekannte Therapie dieses Verlaufs ist die Beatmung durch Maschinen. So lange, bis das Immunsystem des Körpers genug Viren getötet hat, dass die Entzündung abklingt. Oder eben der Patient stirbt, weil sein Immunsystem dafür zu schwach ist.

Der Limitierende Faktor bei der Versorgung von COVID19-Patienten ist daher die Infrastruktur, die diese Behandlung ermöglicht – Beatmungsgeräte! Je mehr desto besser! Doch das Problem ist, jedes Gesundheitssystem hat so viele dieser Geräte, wie es für „normale“ Spitzenzeiten braucht. Aber normal ist halt jetzt nichts. Und wir haben aktuell etwa 900 dieser Geräte für COVID19 Patienten, die ein Patient etwa 5 Tage braucht! Also müssen wir, wenn wir nicht mehr Geräte bereitstellen können, die geschätzten 130.000 Patienten auf zwei Jahre, oder bist eine andere Behandlungsmöglichkeit (Impfung, Medizin) besteht, verteilen – Flatten the Curve!

Flatten the Curve! Aber wie flach will das unsere Regierung und warum?

Epidemiologen wissen eben bereits, dass in einer Durchschnittspopulation etwa 3% der aktiv kranken COVID19-Patienten eine künstliche Beatmung brauchen. Das Problem dieser Aussage ist, dass es keine „Definition“ der Durchschnittspopulation gibt. Wie alt ist die, wie chronisch krank, wie dick, wie viele rauchen? Das ist bei weitem noch nicht klar, also arbeiten alle daran, herauszufinden, wer genau zu den 3% gehört. Je genauer wir das sagen können, desto genauer kennen wir die „Risikogruppen“ und damit die Personen die man durch die Strategie schützen muss, damit sie nicht alle auf einmal krank werden.

Anfangs hat unsere Regierung eine gute Figur gemacht. Wenigstens auf der Kommunikationsebene. Und ich ging davon aus, dass nach außen eben Ruhe erzeugt wird, und im Hintergrund Epidemiologen arbeiten, um herauszufinden, mit welcher Strategie wir welche Personen schützen können.

Es gab dann so einige Punkte, an denen ich begann, an der Regierung zu zweifeln.

Der wichtigste war wohl, als dieser Datensalat am 26.3.2020 bekannt wurde. Offenbar haben wir es noch nicht einmal geschafft, und schaffen es bis heute nicht, aktuelle Zahlen für zwei Prävalenzen zu haben: Hospitalisierung und Intensivbehandlung. Das ist schon sehr erschütternd. Denn wenn wir noch nicht einmal zwei so einfach Daten wenigstens stundenaktuell hinkriegen, sondern gerade einmal recht und schlecht alle 24 Stunden, dann haben die Epidemiologen praktisch nichts in der Hand, außer Daten aus der Literatur. Und offenbar wurde und wird bei keinem COVID-Test irgendein epidemiologisch relevanter Wert erhoben, ja noch nicht einmal bei den hospitalisierten oder beatmeten Patienten.

Dann wurde in der PK am 26.3. das Prognosemodell gezeigt – ein paar Grafen, keine Daten. Hochgradige Intransparenz! Und das Modell selbst? Bereits 4 Tage nach der Präsentation liegt die Zahl der Intensivpatienten 25% über der Prognose. Das ist die Folge fehlender Daten – weil eben nicht erhoben wird, wer wann erkrankt, und wie sein Verlauf ist! Es ist aber wichtig, herauszufinden, an welchem Tag der Krankheit eine Hospitalisierung und eine Beatmung nötig wird!

Auffällig war auch, dass die Regierung, offenbar mangels erhobener Daten, einem einfachen Weg folgte. Die Länder haben gemeldet, sie können 900 Beatmungsgeräte für COVID19 Patienten freispielen. Die Literatur sagt, dass etwa 3% der Infizierten (mit Symptomen und positiv getestet) ein Beatmungsgerät brauchen.

Wenn 900 Geräte da sind, und 3% der Kranken ein Gerät brauchen, dann dürfen also nicht mehr als 30.000 krank sein (so verkündet auf der PK). Weil die Krankheitsdauer mit 14 Tage angenommen wird, dürfen daher nicht mehr als 2143 Neuerkrankungen täglich stattfinden, damit alle, die ein Beatmungsgerät brauchen, auch eines kriegen.

Das ist echt noch keine Epidemiologie – das ist bis hierher eine einfache Schlussrechnung! Das hat mich schon sehr skeptisch gemacht, weil ich das, ohne Epidemiologe zu sein, so leicht nachrechnen konnte.

Warum auch immer, die Transparenz ist ja trotz Krise immer noch österreichisch, wurde politisch festgelegt, dass nur 10.000 bis 15.000 aktiv krank sein sollen (ich denke, dahinter stecken so föderale Frage wie – das niederösterreichische Beatmungsgerät nur den Niederösterreichern! Also muss sich die Zahl an der niedrigsten verfügbaren ländlichen Ausstattung orientieren), womit die Zahl der Neuerkrankungen auf 715  bis 1.000 limitiert wurde. Und diese Zahl war dann die „heilige Kuh“ – das war das anzustrebende Ziel, dem alle Maßnahmen dienen müssen. Wir flachen die Kurve also soweit ab, dass nicht mehr als 1.000 Neuerkrankungen auftreten – als globale Zahl, gemessen an den positiven Tests – keine weitere Konkretisierung!

An diesem Punkt war ich schon sehr sauer. Denn was heißt das, wenn alles getan werden muss, dass diese Zahl so niedrig bleibt.

Eine kleine Kopfrechnung: um eine natürliche Herdenimmunität (bis wir eine andere Therapie oder Impfung haben, die einzige Chance!) zu erreichen, müssen 4 – 5 Millionen Österreicher COVID19 durchgemacht haben. Sagen wir, wir machen alles, dass es 1.000 Neuinfizierte pro Tag gibt, und erreichen die Herdenimmunität schon bei 4 Millionen Einwohnern, dann müssen wir für die nächsten 11 Jahre so weitermachen. Keine Schulen, keine Unis, keine Arbeiten, die weniger als einen Meter Abstand erfordern, keine Besuche in Altersheimen, keine planbaren Operationen – Lock down für 11 Jahre (133 Monate!)! Ernsthaft? Das ist die Strategie der Regierung? Obwohl klar ist, dass für alle gesunden Menschen unter 50 eine Infektion nicht schlimmer ist, als ein grippaler Infekt?

Ganz glauben konnte ich das noch nicht, oder wollte das nicht! Die haben sicher einen oder mehrere Epidemiologen, die wie wahnsinnige Modelle rechnen, Annahmen überprüfen, schlicht herausfinden, wer diese „3%“ sind (am Ende werden es 1,5% der Gesamtbevölkerung sein, da ja ab 4 Mio. Infizierten und geheilten eine Herdenimmunität auftritt – also etwa 130 Tausend Österreicher), die wir schützen müssen, und wie das am besten geht.

Doch dann kam die PK vom 30.3.!

Dazu gibt es eine Vorgeschichte, wie sich herausstellte. Am 29.3. hat eine Gruppe Mathematiker ein „Expertenpapier“ als offenen Brief an die Regierung und die APA geschickt – und es leider auf orf.at geschafft. Aus versorgungswissenschaftlicher Sicht ist es ein unsäglich schlechtes Papier. Was echte Epidemiologen dazu sagen, möchte ich gar nicht wissen. Doch das ist im Grund unwichtig – wichtig ist nur die politische Reaktion!

Angeblich gibt es ja – und ich habe immer auf ihn gehofft – einen Krisenstab, in dem eben die gescheiten Köpfe (=Epidemiologen) sitzen und die Regierung beraten. Und auf Basis dieser Beratung dachte ich, hat die Regierung, wie alle anderen auch, etwa die Wortwahl „Abflachung der Kurve“, „prozentueller Zuwachs bei den Infektionen“ und „Verdoppelungsraten“ verwendet. Leicht verständlich für jeden – etwas sehr wichtiges in der Krisenkommunikation.

Und dann die PK! plötzlich referiert die Regierung über den R0-Wert. Ich war völlig von den Socken! Keine andere Regierung verwendet diesen Wert, weil er kompliziert ist. Wie wenig sogar der „gut beratene“ Kanzler von diese R0-Wert versteht, hat er dann gleich in einem ZIB-Interview (Min 4:15) bewiesen, als er meinte, der Wert liegt aktuell bei etwa 2 und er wäre mal bei 4 gewesen! Und das ist halt völlig falsch, weil der Basisreproduktionsfaktor R0 bei COVID19 bei 2,8-3,3 liegt und NICHT veränderbar ist. (also nie 4 gewesen sein konnte)

[nachträgl.Anm.: Einige, die sich mit R0 auskennen, haben mich darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Passus so klingt, als ob R0 eine virusbezogene Konstante wäre. Das ist NICHT richtig und war von mir auch nicht so gemeint – R0 hängt maßgeblich von der Umgebung ab – nur wenn Menschen da und nahe genug sind, dass ich sie anstecken kann, kann der R0 über 0 liegen! R0 ist kein tivial ausrechenbarer Wert]- und soweit ich das beobachte dürfte für Europa, obwohl wir Händeschütteln der R0 niedriger sein als in China (da kommt der obige Wert her), weil vielleicht die Anzahl der Bewohner pro Wohnung wichtiger ist, als Händeschütteln – oder aus sonst einem Grund! Epidemiologen könnten hier Auskunft geben!]

Wenn, dann ist Rt ein von R0 unterschiedlicher Wert, der eben dann auch den Erfolg von Massnahmen zu einem bestimmten Zeitpunk (t) zeigt. Also, warum plötzlich dieser Wert? Und dann habe ich mich an dieses „Expertenpapier“ erinnert, da steht „Oberlehrerhaft“

Für eine Epidemie ist die alles entscheidende Größe der Replikationsfaktor R0.  [….] Wenn es nicht gelingt, rasch den Faktor R0 unter den Wert von 1 zu drücken, sind in Österreich zehntausende zusätzliche Tote und ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu erwarten.

Keine Empfehlung des Krisenstabes, nein ein Zuruf von außen, der von „Experten“ stammt, die RO noch nicht einmal richtig verwenden können – nicht sehr vertrauensbildend.

Und als ob das nicht reichte, dann noch die Ankündigung der Maskenpflicht im Supermarkt. Woher kommt die?

Am 26.3.hat auf orf.at ein anderer Mathematiker (dessen Modell übrigens ganz anders aussieht als das der obigen Mathematiker) gemeint. „Was wir in Österreich unbedingt brauchen, ist eine Maskenpflicht. Vor allem in Supermärkten, dort stecken sich die Leute an“. Seiner Meinung soll eine Maskenpflicht die Infektionen um 75% bis 90% reduzieren (so zumindest zitiert das ein Journalist auf Twitter) – Da wird eine Empfehlung eines Mathematikers, der offenbar kein Epidemiologe ist und die Krankheit nicht versteht, praktisch wortwörtlich übernommen und vom Kanzler so umgesetzt! Ohne irgendeinen Beleg, ein Modell, eine Ahnung und epidemiologisch sicher falsch.

An dem Punkt bin ich gerade! Es ist 1:30 am 31.3 Und die Regierung, die offenbar planlos agiert, macht mir Angst!

Wir sind bestens gerüstet für Covid-19

   Wir erleben eine Ausnahmesituation, keinen Normalbetrieb.

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   Stand 25. März, 13 Uhr: Es schaut wirklich gut aus. Die Krankheitsverläufe sind leichter als in anderen Ländern, Spitäler und Intensivabteilungen (noch) „leer“. Aber weil es bei uns aktuell so richtig gut geht, hören wir immer öfter, dass das was mit unserem Gesundheitssystem zu tun hat! Und ja, das stimmt.

   Was wir erleben, ist eine Pandemie einer Infektionskrankheit, die akut verläuft. Für die meisten wird es nicht mehr sein, als sich ein paar Tage „grippig“ zu fühlen, wenn überhaupt (wir wissen nicht, wie oft eine stille Feiung vorkommt). Aber bei relativ wenigen wird das Virus die Lunge derart belasten, dass sie richtig krank sind und zum Arzt müssen. Viele werden in Spitäler kommen und einige davon, vor allem Alte und chronisch Kranke, auch intensiv versorgt werden müssen.

   Das Problem ist, dass relativ wenige absolut sehr viele sein werden. Möglicherweise werden die Spitalsaufnahmen in den nächsten Wochen doppelt oder dreifach so hoch ausfallen wie normalerweise. Doch das wird unser System stemmen!

   Denn unser Gesundheitssystem – und das unterscheidet es von praktisch allen auf der Welt – ist für den Fall einer Pandemie einer akut verlaufenden Infektionskrankheit bestens ausgerichtet.

   Wir haben die höchste Facharztdichte der Welt und daher auch die höchste Zahl an Facharzt-Patienten-Kontakten. Wir haben die meisten Spitalsbetten, die meisten Intensivbetten, die meisten Krankenhausaufnahmen und auch die meisten Rettungshubschrauber. Unser Gesundheitssystem organisiert routiniert alles rund um akute Krankheiten, in struktureller Qualität und Quantität wie sonst nirgends. Wir haben praktisch ein reines Akut-Versorgungssystem, das genau in Fällen wie diesem nicht zu überbieten ist.

   Und weil wir verglichen mit praktisch allen Ländern der Welt aus der Routine heraus schon immer für eine Pandemie „vorbereitet“ waren, auch wenn wir zwischenzeitlich die dafür nötigen Überkapzitäten eben mit unnötigen Behandlungen ausgelastet haben, verführt das jetzt so manchen, das „Österreichische System“ zu loben und zu preisen.

   Doch das ist falsch – denn das, was wir jetzt erleben, ist eine Ausnahmesituation, kein Normalbetrieb. In ein paar Wochen, wenn wieder alles normal ist, wird der typische Patient nicht mehr an einer akuten Krankheit leiden. Er wird wieder Diabetiker sein oder COPD, Herzinsuffizienz oder Bluthochdruck haben oder wegen seines Alters eben multimorbid sein. Und für genau diese Patienten, die keine akute Behandlung, sondern eine lebenslange Versorgung brauchen, haben wir eben kein System. Deswegen haben wir bei Diabetikern die höchste Amputationsrate oder bei COPD-Patienten die höchste Hospitalisierungsrate – weil wir bei allen Patienten eben erst reagieren, wenn sie ein akutes Problem haben, das sie aber nicht haben müssten, wenn unser System sich an chronischen und nicht akuten Krankheiten orientierte. Chronisch Kranken geht es in unserem System echt schlecht.    Aber ich weiß jetzt schon, dass jegliche Neustrukturierung des „Österreichischen Systems“, um chronisch Kranke besser zu versorgen, in den nächsten Jahren mit dem Argument abgeschmettert werden wird, es habe sich doch bestens bewährt – in der Corona-Krise.

„Wiener Zeitung“ vom 26.03.2020  

Das Spiel mit den Milliarden der ÖGK

   Die Österreichische Gesundheitskasse ist seit Anfang 2020 im Amt, der parteipolitische Kampf voll entbrannt.

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   Wie für unser Gesundheitssystem typisch, streiten sich alle nur ums Geld – und hier vor allem um die berühmte Patientenmilliarde. Die war nie klar, schon gar nicht als Umwandlung aus einer Funktionärsmilliarde – es war ein politischer PR-Gag der schwarz-blauen Regierung, den die Politiker nicht mehr los werden. Populismus hat unter Umständen eben auch kurze Beine. Doch was ist jetzt mit den horrenden Defiziten, die angeblich statt dieser Patientenmilliarde eintreten sollen und Beweis dafür sein sollen, dass die Kassenfusion ein Desaster ist? Die sind genauso ein PR-Gag, jetzt halt von der anderen Seite, also der roten, vor allem von der Gewerkschaft.

   Wer sich mit der Gebarungsvorschaurechnung der Krankenkassen (allein das Wort zeigt, aus welcher Epoche das kommt) beschäftigt hat, erkennt, wie „taktisch“ die Rechnungen waren. Sie haben stets einem Verhandlungsziel gegolten, um entweder die Einnahmen (Steuersubventionen) zu erhöhen oder die Ausgaben (Honorare und Medikamentenpreise) zu senken, nie jedoch, um Transparenz herzustellen. Während zwischen 2009 und 2018 von den Kassen kumuliert ein Verlust von 2547 Millionen Euro „vorausgerechnet“ wurde, kam bei der Abrechnung ein kumuliertes Plus von 1674 Millionen Euro heraus – eine Differenz von 4221 Millionen. Besonders krass war das Jahr 2012, da wurde aus einem vorausgerechneten Minus von 737 Millionen in Jahresfrist ein Plus von 181 Millionen!

   Und warum sind all diese Zahlen so herrlich manipulativ einsetzbar? Nun, dass liegt an der Verwendung der absoluten Zahlen; die klingen sehr schnell sehr hoch, auch wenn es nur um wenige Prozent geht. Aktuell macht die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) einen jährlichen Umsatz von etwa 16.000 Millionen Euro – ein einzelnes Prozent sind also schon 160 Millionen.

   Und wenn man dann noch über ein paar Jahre kumuliert, werden die Zahlen noch höher. Und die skandalösen 1700 Millionen Euro Defizit, die die ÖGK bis 2024 angeblich machen wird, klingen halt viel besser, als wenn man von zwei Prozent sprechen würde. Und wer bedenkt, wie sich die Kassen schon bei einer Jahresprognose verrechnen, weiß, dass Fünf-Jahres-Prognosen schlicht Kaffeesudlesen sind, und ein Defizit von zwei Prozent eine statistische Unschärfe sein muss.

   Doch um das ging es ja nicht– es ging darum, der einen populistischen Milliarde eine andere gegenüberzusetzen, um die eigene Klientel glücklich zu stimmen und zu mobilisieren.   

Politisch betrachtet jedoch, war es wohl eine „rote“ Dummheit, diese „Defizite“ so hoch zu rechnen und medial auszuschlachten, dass nun jeder weiß, die ÖGK steht vor einem Milliardendefizit. Denn auch wenn es nichts mit der Realität zu tun hat, wird es der jetzigen Regierung ein Leichtes sein, die Patientenmilliarde, wenn auch nicht wie versprochen bis 2023, so aber doch bis 2024 darzustellen. Denn bereits jetzt kann vorausgesagt werden, dass das Minus der Kassen völlig ohne Leistungskürzungen bis 2024 unter 700 Millionen Euro liegen wird – damit konnte „eine Milliarde im System gespart“ werden! Und es wird niemanden geben, der diesen Mythos brechen kann

„Wiener Zeitung“ vom 27.02.2020 

Regierungsprogramm neu!

   Vor zwei Jahren hatten wir ein Regierungsprogramm, das viel versprach. Jetzt liegt wieder eines vor – ein deutlich mageres.

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   Das alte Regierungsprogramm, von dem viele substanzielle Ideen im Gesundheitsbereich entweder verwässert wurden (einheitlicher Honorar- und Leistungskatalog) oder gestorben sind (Finanzierung von Gesundheit, Vorsorge und Pflege gesamtheitlich betrachten), war quantitativ viel ausführlicher. Diesmal widmen sich gerade einmal 4 Prozent des Regierungsprogramms der Pflege und Gesundheit. Also eher wenig, aber Quantität heißt nicht Qualität – oder doch?

   Redaktionell jedenfalls ist die Qualität schlecht. Was heißt etwa: „Wohnortnahe Versorgung durch Kassenärztinnen und Kinderärzte darf nicht nur in der Stadt, sondern muss auch auf dem Land zugänglich sein“? Will sich die Regierung für Kassenärztinnen (weiblich) und Kinderärzte (männlich und ohne Kassenvertrag) auf dem Land einsetzen? Oder: „Im Medizinstudium wird eine Fachärztin beziehungsweise ein Facharzt für Allgemeinmedizin geschaffen.“ Werden Allgemeinmediziner, wie Zahnärzte, ein eigenes Studium kriegen? Und sind sie unmittelbar nach dem Studium Fachärzte, müssen also keine postpromotionelle Ausbildung – den Turnus – mehr machen?

   Wenn also solche Ungenauigkeiten enthalten sind, ist es nicht unbegründet anzunehmen, dass in dem Programm viele einfach gut klingende, teils seit Jahrzehnten bekannte Lippenbekenntnisse enthalten sind, die nie umgesetzt werden, vor allem dann nicht, wenn das gegen Länder- oder Kammerinteressen nur mit Verfassungsänderungen realisiert werden könnte.

   Doch was wird dann umgesetzt? Eindeutig: die Vermehrung der Arbeitskräfte, und zwar der billigen! Eine Pflegereform kommt nicht, denn das Pflegesystem wird wieder hart vom Gesundheitssystem getrennt. Dem Pflegekräftemangel, der ähnlich dem Ärztemangel nicht an der Zahl der Ausgebildeten (damit liegen wir laut Auswertung der Daten des Pflegeregisters im europäischen Spitzenfeld) festzumachen ist, sondern an deren Unwilligkeit im öffentlichen System zu arbeiten, wird mit mehr Ausbildungsstellen (Pflegelehre) und der Aufnahme aller Pflegeberufe in die Mangelberufsliste, mit dem Ziel; Zuwanderer zu unterstützen (Migrants-Care-Programme), begegnet. Irgendwann wird man dann so viele Migranten haben, dass genug mit dabei sind, die auch unter den jetzigen Arbeitsbedingungen in Pflegeheimen arbeiten wollen.

   Und im Gesundheitsbereich ist eine Ausweitung der Medizinstudienplätze geplant, womit die Zahl der Studenten im „klinisch-praktischen Jahr“ ausgeweitet werden kann. In diesem Zusammenhang steht dann auch „Integration der Inhalte der Basisausbildung (Anm.: gehört heute zur postpromotionellen Ausbildung) um (!) das klinisch-praktische Jahr“ – was, irgendwie danach klingt, als ob das „klinisch-praktische Jahr“ um die neun Monate Basisausbildung verlängert und so die Zahl der „billigen“ Turnusarzt-Ersatzarbeitskräfte vermehrt werden könnte.

   Und dann ist geplant, das Opt-out aus der Spitalsarbeitszeitregelung wieder einzuführen – zurück zur 60-Stunden-Woche! Diese ist zwar nach EU-Recht nur möglich, wenn jeder einzelne Arzt freiwillig zustimmt, aber was heißt schon freiwillig bei Turnusärzten, wenn sie darauf angewiesen sind, einen Ausbildungsplatz zu bekommen?   

So will man (sprich: Länder und Gemeinden) sich also die Systeme weiter leisten, ganz ohne Reformen.

„Wiener Zeitung“ vom 23.01.2020  

Klassenkampf im Kassenkampf

   „Unsere Kasse“ gehört ganz offensichtlich nicht uns, sondern „unseren Kammern“.

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   Eigentlich ist es gut, dass unsere Krankenkasse, die ja jetzt Österreichische Gesundheitskasse heißen wird, sich selbst darstellt. Zu lange hat kaum jemand darüber nachgedacht, was „unsere Kasse“ ist. „Unsere Kasse“ gehört uns, und wir verwalten sie selbst – ohne Einmischung der Politik. Wir wählen aus unseren Reihen einen politikunabhängigen Selbstverwaltungskörper – theoretisch demokratisch! Allerdings weiß das kaum jemand, und noch weniger wissen, wie sie mitstimmen können.

   Seit jeher haben uns paternalistische Politiker die Last der Stimmabgabe abgenommen. Sie nannten das Sozialpartnerschaft. Es sind „unsere Kammern“, die sich wohlwollend um „unsere Kasse“ kümmern: für Unselbständige die Arbeiterkammer, für Selbständige die Wirtschaftskammer. Bei den Kammerwahlen können einige von uns, bei weitem nicht alle, Fraktionen wählen. Kaum jemand wird die FSG oder den Wirtschaftsbund wählen, weil die sich so toll um das Kassensystem kümmern – und doch, es sind die hier siegenden Fraktionen, die dann „ihre“ Vertreter in „unsere Kasse“ entsenden, gerade so, als ob sie Teil des Pflicht-Kammersystems wäre.

   Es ist ganz offensichtlich, dass „unsere Kasse“ nicht uns gehört, sondern „unseren Kammern“, deren Legitimität nicht ohne Grund seit Jahrzehnten hinterfragt wird.

   Und weil eben in „unserer Kasse“ kein Demokratieprinzip besteht und die Kosten zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bezahlt werden, haben sich „unsere Kammern“ die Macht aufgeteilt. Der Streit, ob die Gewichtung der Macht nach der Zahl der Versicherten oder der Kostenaufteilung erfolgen sollte, wurde nur halbherzig geführt – denn würden die Kämmerer über das Demokratieprinzip in „unserer Kasse“ nachdenken, müssten sie Sozialwahlen einführen, also uns erlauben, direkt mitzubestimmen. Doch keiner hat je ernsthaft darüber nachgedacht, Macht und Einfluss der Kammern zu beschränken.

   Die Kassenfusion folgte diesem Prinzip, aber sie bringt neue Abstimmungswege und deutlich verkleinerten Gremien. Und da die Verkleinerung hauptsächlich zu Lasten der AK-Funktionäre ging, sind diese sauer und klagten vor dem VfGH – angeblich, weil sie sich schützend vorn „uns“ stellen wollten, um eine „feindliche Übernahme“ durch „die Wirtschaft“ zu verhindern.

   Der VfGH hat erkannt, dass es keine bedenklichen Machtverschiebungen gibt, sondern die Regierung nur eine neue Organisation durchgeführt hat. Aber weil AK und ÖGB in Ihren Spitzen de facto nicht unparteiisch sind, ist dieser Spruch eine politische Niederlage, nicht nur einfach eine Klarstellung, wie weit Politik sich in „unsere Kasse“ einmischen darf.

   Und so tritt der eigentliche Konflikt offen zu Tage: der Klassenkampf als institutionalisierte Betriebskultur des Kassensystems. Christoph Klein von der AK meinte wörtlich: „In der ÖGK wird eine Minderheit von 160.000 Unternehmern über eine Mehrheit von 7,2 Millionen Versicherte herrschen.“ Und der ÖGB verlangt von der nächsten Regierung, dass den Arbeitnehmern „ihre Kasse“ wieder zurückgegeben wird.

Wir sollten uns unsere Kasse zurückholen – über Sozialwahlen, und ohne kämmerlichen Klassenkampf.

„Wiener Zeitung“ vom 02.01.2020