Die Akademisierung der Gesundheitsberufe

   Oder: „Für was brauchen wir das? Das hat es ja noch nie gegeben.“

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   Wir schreiben das Jahr 1900: Der Garnisonsarzt aus dem örtlichen und seit Jahrhunderten bestehenden Spital geht ins fußläufige Lokal am Braunauer Stadtplatz. Er ist eigentlich Militärarzt, aber das Spital wurde nun an einen Orden übergeben, und so ist er jetzt Chirurg. Das liegt in der Familie, seit sein Urgroßvater an der Chirurgenschule in München ausgebildet wurde, waren alle Chirurgen, wobei allerdings erst sein Großvater dafür studierte.

   Im Lokal trifft er, wie erwartet, seinen langjährigen Freund, einen gestandenen Landarzt. Und als das zweite Bier getrunken ward, fragt der Chirurg, ob es denn wirklich nötig sei, dass Landärzte Matura und Studium brauchen. Er versteht nicht genau warum. Der Landarzt pflichtet ihm bei. Diese Akademisierung der Landärzte sei völlig unnötig. Er habe für seinen Job sowas noch nie gebraucht. (Landärzte waren damals angelernt!)

   Zeitsprung: Im Jahr 1970 schließt ein Landarzt seine Ordination, um sich mit einem Freund im Stadtcafé zu treffen. Früher war das ein Bierlokal, in dem sein Ururgroßvater schon saß. Der war auch schon Landarzt, hat das aber nicht studiert. Und als die beiden nach dem Verlängerten auf Cola-Rot umstiegen, fragt der Landarzt seinen Freund, ob es denn wirklich nötig sei, dass Zahnärzte Matura und Studium brauchen. Er versteht nicht genau warum. Sein Freund, der Dentist, versteht diese Akademisierung der Zahnheilkunde auch nicht. Er habe für seinen Job sowas noch nie gebraucht.

   Zeitsprung: Im Jahr 2025 setzt sich die Urururgroßenkelin des Garnisonsarztes neben ihren Mann, einen Dr.med.univ., ins Auto. Sie wollen alte Freunde treffen. Da in den 1990ern die beiden Familien herausgezogen sind, trifft man sich nun regelmäßig in der Pommerschen Schlosstaverne. Ihren Mann lernte sie kennen, als er den Turnus im Braunauer Spital machte. Danach wurde er Gemeindearzt mit allen Kassen, sie blieb im Spital und ist nun Oberschwester. Bei den Freunden, die sie treffen, handelt es sich um die Familie des eingesessenen Zahnarztes, der wegen einer Rechtsänderung nun sogar zwei Doktortitel trägt. Anders als sein Vater – der hatte nicht einmal studiert. Und wie Sie alle da so sitzen, der Hauptgang abserviert und die dritte Flasche Zweigelt zum Atmen geöffnet wird, stellt der Zahnarzt die Frage, ob es denn wirklich nötig sei, dass Krankenschwestern Matura und Studium brauchen.

Nach kurzem Stöhnen erklärt die Oberschwester, diese Akademisierung der Pflege sei völlig sinnlos. Sowas habe sie in ihrem Job noch nie gebraucht. Ihr Mann pflichtet ihr bei.   

Als alle in ihren Autos heimfahren, sicher zu betrunken für normale Bürger, aber für die regionale Prominenz noch völlig im Rahmen, erhalten beide Anrufe der Kinder: Der Sohn des Zahnarztes hat gerade die letzte Prüfung seines Masters in Advanced Nursing Practice geschafft. Die Tochter des Landarztes schickt vorab per WhatsApp den letzten Schein für ihre Ausbildung zur Fachärztin für Orthopädie und Traumatologie. Jetzt heißt es lernen für die Facharztprüfung, und sie will wissen, ob sie für einen Monat wieder zu Hause einziehen kann.

„Wiener Zeitung“ vom 30.03.2023 

Equip4Ordi und die Unschuld der Kammerpolitiker

Sicher ist, dass es in einer der Wiener Ärztekammer zugeordneten Firma, der ÄrzteEinkaufs-Service -Equip4Ordi GmbH, einen begründeten Verdacht von Malversationen gibt.

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Sicher ist auch, dass der jetzige Ärztekammerpräsident von Wien und Österreich, Johannes Steinhart, nicht als Beschuldigter geführt wird. Ebenfalls sicher ist, dass das Präsidium der Österreichischen Ärztekammer ausrückt, um für alle die Unschuldsvermutung zu reklamieren, und der Präsident höchstpersönlich verlautet, dass eine nicht näher genannte Gruppe eine angebliche Malversation in einer aus der Ärztekammer ausgelagerten GmbH für eine gezielte Intrige gegen ihn nutze.

Die ausgelagerte GmbH hat er bei der Gründung noch so angepriesen: „Wir bieten damit Kolleginnen und Kollegen für ihre Ordinationen eine benutzerfreundliche, einfache und professionelle Plattform, über die sie rasch und zu günstigen Preisen ihren gesamten Ordinationsbedarf abdecken können.

“ Das „Wir“ ist schon ein Hinweis auf eine Identifikation des damaligen obersten Vertreters der niedergelassenen Ärzte und jetzigen Präsidenten mit dieser Firma. Doch wofür braucht eine Pflichtvertretung so eine Firma? Ist es Aufgabe der Kammer, in den freien Markt einzugreifen? Ging sie davon aus, dass sie besser Preise verhandeln kann, weil sie auf einer Monopolmacht sitzt?

Warum auch immer, die Kammer ist für diese Firma nach außen aufgetreten. Doch wem gehört diese? Sie gehört nicht direkt der Kammer, und es ist auch nichts Ausgelagertes, weil es eben keine Aufgabe der Kammer ist, Händler zu sein. Es ist eine Verschachtelung diverser GmbHs, die am Ende eben auch die inkriminierte GmbH besitzt und an deren Anfang die Ärztekammer für Wien steht.

Kein vertrauenerweckendes Modell. Das sollte politisch Verantwortlichen schon auffallen, wenn sie denn Planstatt Marktwirtschaft probieren. Aber wer schmiedet da eigentlich eine persönliche Intrige?

Da gibt es den Investigativjournalisten Ashwien Sankholkar von „Dossier.at“. Dieser deckt regelmäßig Merkwürdigkeiten in der Ärztekammer auf. Etwa den mittlerweile wieder vergessenen 327,5-Millionen-Euro-Deal samt gewaltiger Provisionen rund um den Wiener Grabenhof. Und wenn ein Whistleblower dorthin Unterlagen schickt, die eine Straftat aufdecken könnten, ist das keine Intrige, selbst wenn es ohne hehre Absicht geschieht.

Wie also kann jemand das als Intrige gegen die eigene Person empfinden? Denknotwendig doch nur, wenn in der Kammer jeder etwas zu verbergen hat und es ein Agreement gibt, dass alle den Mund halten. Der moralische Standard ist also: Jeder deckt den anderen bei seinen Straftaten? Wenn das so wäre, dann träfe es jene, die seit Jahrzehnten in führenden Positionen sind und vom Wohlfahrtsfondsskandal der 2000er Jahre über Gerüchte, wie Koalitionen und Stimmen gekauft werden, um die eigenen Positionen zu festigen, bis zu den Wahlbetrugsvorwürfen im vorigen Jahr alles politisch überlebt haben, hart und persönlich.

Aber wenn das wirklich wahr sein sollte, dann hat dieses Kammerverhalten einfach die Grenzen erreicht, an der Korruption eben aufbricht. Das ist nichts Persönliches

„Wiener Zeitung“ vom 23.02.2023

Die kognitive Dissonanz in der Gesundheitspolitik

   Gesundreden, Ausreden und den Schwarzen Peter weiterschieben, bis man selbst an die eigene Fiktion glaubt – oder österreichische Gesundheitspolitik.

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   Vorige Woche gab es im ORF-„Report“ zwei Berichte zu Gesundheitssystemen: erst aus Österreich, dann aus England.

   Ersterer titelte „Notfall Gesundheitssystem“ zweiterer „Britischer Kollaps“. Ersterer zeigte eine lange Warteschlange vor einem Kassenaugenarzt, zweiterer eine Frau, die sich Zähne selbst zog, weil sie keinen Zahnarzttermin bekam. Beide zeigten also irgendwie das Gleiche und sollten eigentlich auch das Gleiche illustrieren.

   Auskenner wissen, dass genau genommen Ersteres ein Beispiel, Zweiteres eine Anekdote ist – aber sei’s d’rum. Wesentlich ist eher die politische Reaktion von Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne), der zu beiden Berichten befragt wurde. In Österreich sieht er eine angespannte Situation, und wenn er es nicht schafft, alle an einen Tisch zu holen, droht, dass nicht mehr „E-Card statt Scheckkarte“ gilt und unser gutes Gesundheitssystem an die Wand fährt. Für England weiß er, dass der Kollaps die Folge der Privatisierung sei, von der wir weit entfernt seien.

   Beeindruckend, diese kognitive Dissonanz. Die Warteschlange hier ist weit entfernt von den fehlenden Terminen dort. Und noch mehr, die E-Card hier und die Scheckkarte dort macht den Unterschied.

   Scheckkarte? Etwas, das praktisch keiner unter 50 Jahren kennt, wer schreibt noch Schecks aus? Aber die Zielgruppe ist ja eher 65 plus. Der Sager „E-Card statt Scheckkarte“ ist übrigens plagiiert, auch wenn das Original aus den frühen 2010er Jahren moderner war und eine Kreditkarte nannte. Notabene wurde auch der An-die Wand-Sager plagiiert. Der stammt von Hans-Jörg Schelling, der ihn 2010 als Hauptverbandschef zur Einstimmung des damaligen „Reformvorhabens“ in den Ring warf.

   Wie dem auch sei, wenn Scheckkarte für Privatausgaben steht, sind die bei uns höher als in England. Wenn also irgendwo die Scheckkarte nötiger ist, dann eher bei uns als dort. Bei uns hat fast jeder zweite Erwachsene eine Privatkrankenversicherung, dort nur jeder zehnte.

   Wenn diese Aussagen nicht auf Einbildung zurückgeführt werden können, die das Ergebnis des dauernden Gesundredens, der Ausredens und des Weiterschiebens des Schwarzen Peters ist, müssen die Aussagen als Lüge aufgefasst werden.

   Aber auch das ist belanglos. Sicher ist nur, dass es Österreichs Gesundheitssystem geschafft hat, sich Jahrzehnte aus jedem Reformansatz herauszuwinden. Die Folge ist eine enorme Ineffektivität. Denn obwohl wir so ziemlich die meisten Arztkontakte und Spitalsaufnahmen haben, erzeugt unser System viel zu wenig Gesundheit – was dazu führt, dass die Älteren viel mehr Medizin, Pflege und Betreuung brauchen als in den meisten anderen Ländern. Wenn jetzt die Babyboomer in das Alter kommen, in dem aus Wehwehchen Wehs werden, und die gleiche Inanspruchnahme wie die heutigen „Alten“ brauchen, dann wird es krachen.

   Andere Länder bereiten sich seit Jahrzehnten auf diese Entwicklung vor, und von dort wissen wir, dass es wenigstens ein Jahrzehnt braucht, bis Reformen greifen; doch das ist für die Babyboomer dann zu spät. Also wird es wohl anders werden – mit noch mehr „nicht vorhandener“ Privatmedizin und noch größerer kognitiver Dissonanz.

„Wiener Zeitung“ vom 26.01.2023

Jetzt aber alle an einen Tisch!

Vorsicht, Sarkasmus – mit deutlichen Zügen verdrossener Gemütsstimmung.

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   Trotz verschiedenster Bemühungen um eine verstärkte Koordinierung und Angleichung der Interessen mussten wir feststellen, dass das österreichische Gesundheitssystem aufgrund seiner vielschichtigen Verwaltungsstruktur und dualen Finanzierung komplex und fragmentiert ist.

   Besonders die Aufteilung der Finanzierung von intra- und extramuralen Leistungen zwischen den Bundesländern und Sozialversicherungen kann die Betreuungskontinuität beeinträchtigen und zu Kostenverschiebungen führen. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass zurzeit die Gesundheitsergebnisse innerhalb der Bevölkerung schlechter und die Gesamtkosten höher ausfallen, als dies in einem koordinierten System der Fall wäre.

   So die Worte einer Studie des Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2018. Was waren diese Bemühungen? Da gab es den Kooperationsbereich, der um 2000 eingeführt wurde. Er wurde in den Reformpool umgewandelt, in dem jeder (Länder und Krankenkassen) 1 Prozent seines Umsatzes einspielen sollte, um gemeinsame Projekte zu realisieren. Dazu wurden Landesgesundheits-Plattformen und die Bundesgesundheits-Agentur geschaffen, die, einem gesetzlichen Auftrag aus den 1990ern folgend, eine gemeinsame Sichtweise für das gesamte Gesundheitssystem schaffen sollte.

   Diese waren ebenso erfolglos wie die Reformpool-Projekte. Also musste was Neues her. Eifrig wurde reformiert und das Zielsteuerungs-Gesetz aus der Taufe gehoben – gut verwaltet von Landes-Zielsteuerungskommissionen und der darüber schwebenden Bundeszielsteuerungskommission, in der alle (Länder und Krankenkassen) gemeinsam das System anhand von konkreten Zielen steuern sollten. Hehre Ziele wurden in Verträgen festgelegt, und es gab ÖSGs, RSGs, LAP, ÜRVP, DIAG, LEICON und PVEs.

   Aber offenbar wurde dabei etwas Wesentliches vergessen: Die Partner saßen nicht an einem Tisch.

   Zwar dürfte es bis 2007, solange war ich dabei, einen gemeinsamen, immer sehr großen Tisch gegeben haben, aber danach eben immer seltener. Anders wäre der neueste Vorschlag von Gesundheitsminister Johannes Rauch kaum zu verstehen, wenn er meint, dass er „alle Player“ an einen Tisch bringen will.

   Wer hätte gedacht, dass es so simpel sein kann! Einfach diesen vielen Gremien einen Tisch sponsern – und schon halten sich alle an Gesetze und Verträge. Klar könnten einige meinen, dass das Ministerium als Aufsichtsbehörde auch mittels transparenter Berichterstattung, wie seit 20 Jahren gesetzlich vorgesehen, einfach offenlegt, wie wenig sich „alle Player“ an eigene Gesetze und Verträge halten, und das dann auch kommunizieren. Aber die verstehen Politik nicht.

   2023 kommt einmal der Tisch, oder auch zehn Tische. Um 2035 werden dann Stühle angeschafft. So gegen 2050 wird es so weit sein: „Alle Player“ haben eine gemeinsame Sicht des Gesundheitssystems entwickelt, es wird aus 15 Krankenkassen, einer AUVA, 9 Ländern und 10 Ärztekammer bestehen, die über 34 Säulen finanziert werden. Die Säulen werden ohne Murren vom Bund „gefüllt“ – der das Geld in Plantagen auf eigenem Grund zieht.

„Wiener Zeitung“ vom 29.12.2022   

Die Notfallambulanz ist für Notfälle da – eigentlich

   Ein ganz normaler Vormittag in einem ganz normalen Spital.

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   Die Notfallambulanz eines großen Spitals an einem Vormittag unter der Woche: Eine Ärztin (!) kommt mit ihrer Mutter, die seit mehreren Monaten (!) offensichtlich in einem Prozess des Absinkens in die Demenz ist. Sie meint, die Mutter „zittere“ immer so, wenn sie was vergesse oder Dinge verlege. Das gehöre einmal angesehen. „Ich bin eh vom Fach.“ Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall.

   Eine stark übergewichtige Frau, klagt, seit Wochen (!) „nix mehr essen zu können“. Sie habe das Gefühl, nicht mehr gut schlucken zu können. Das sei nicht normal. Was könne das denn sein? Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall.

   Ein Mann mit einer einige Tage (!) alten Einweisung vom Hausarzt in die Notfallambulanz sagt auf die Frage, warum er nicht sofort gekommen sei, wenn es ihm denn so schlecht gehe (auf dem Einweisungsschein steht etwas Bedrohliches – wohl eine Übertreibung des niedergelassenen Arztes, um den Patienten loszuwerden): „Über das Wochenende und den Zwickeltag tut ihr ja sowieso nix!“ Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall – dafür eine Beleidigung.

   Eine Frau kommt sitzend mit der Rettung (!), weil ihr Ellenbogen seit Tagen (!) wehtut. Mit der Tasche in der Hand auf beiden Beinen (gesund) sucht sie sich im Warteraum den besten Platz (mit Blick zum Fernseher). Zu den Untersuchungen will sie mit dem Transportdienst herumgefahren werden. Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall.

   Ein alter Mann mit schwerer Demenz kommt mit Gattin, die ihn daheim versorgt. Der Frau ist mehr oder weniger bewusst, dass für sie die Versorgung kaum noch zu schaffen ist, vor allem nicht die Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr. (Noch) kein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall – dafür eine Sozialaufnahme.

   Ein Mann mit einer Einweisung vom Hausarzt in die Notfallambulanz kommt wegen Knieschmerzen. Das Knie zeigt keinerlei Entzündungszeichen. Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall.

   Dann kommt ein Mann mit Hautausschlag am Rumpf: „Den hab ich schon lange!“ – „Wieso gehen Sie nicht zum Hautarzt?“ – „Da bekomme ich den Termin im Jänner!“ „Haben Sie überhaupt angerufen und gesagt, dass es dringend ist und sie auch Wartezeiten in Kauf nehmen?“ Er sei jetzt da, und überhaupt, was bilden wir uns überhaupt ein, solche Fragen zu stellen? Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, also definitiv kein Notfall – dafür aber eine weitere Beleidigung.

   Dazwischen kommen zwei Rettungen mit echten Akutfällen, die nur schwer im niedergelassenen Bereich behandelt hätten werden können – naja, eigentlich nicht, weil ein Fall ein Kreislaufkollaps (ohne Ohnmacht) bei einem Mann ist, der an diesem Tag als Verkäufer begonnen hat – das viele Stehen halten nicht alle gleich von Anfang an aus. Dann ist der Vormittag vorbei – und alle die dort gearbeitet haben, fragen sich: Was genau macht eine Notfallambulanz eigentlich aus?

   Und nein, das ist keine dichterische Freiheit, sondern ein Report.

„Wiener Zeitung“ vom 24.11.2022  

Ein Facharzt für Allgemein- und Familienmedizin

  Die Rolle der „Hausärzte“ im Gesundheitswesen ist bis heute schwammig.

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   Warum die Einführung eines Facharztes für Allgemein- und Familienmedizin eine Weiterentwicklung des Gesundheitswesens sein könnte, versteht kaum jemand – sie könnte es aber tatsächlich sein. Aktuell ist der Allgemeinmediziner ein völlig undefiniertes Wesen – überspitzt formuliert, darf er praktisch alles. Das kommt aus der Nachkriegszeit, als Österreich viele Ärzte hatte. Im Krieg waren viele gebraucht und quasi am Fließband ausgebildet worden. Nach dem Krieg gab es daher einen Überschuss.

   Was aber damals wie heute ein Problem war, war die flächendeckende Versorgung mit Fachärzten. Und so hat man den „Hausärzten“ eben alles erlaubt. Sie hatten Röntgengeräte, führten Geburten und Abtreibungen durch, operierten in Vollnarkose etc. Mit dem „Dr. der gesamten Heilkunde“ oder eleganter „Dr. medicinae universae“ war praktisch das Recht verbunden, so gut wie alles zu tun.

   Spätestens ab den 1970ern, als Forschung und Spezialisierung zunahmen, war das eigentlich obsolet. Aber eben nur eigentlich. Denn wir ändern nur ungern etwas. Der „Dr.med.univ.“ ist daher auch heute noch ein undefinierter „Alleskönner“ und „Allesmacher“ ohne klares Profil oder klare Rolle im Gesundheitswesen. Und so darf es nicht verwundern, dass sich die meisten mit Homöopathie, Ästhetischer Chirurgie, TCM und was sonst noch verdingen. Ein Blick auf die Leistungsangebote der „Hausärzte“ zeigt das deutlich. Und nur so nebenbei: Es gibt davon etwa 14.000, aber nur 4.000 davon haben einen Kassenvertrag – 10.000 wollen keinen, weil das System nicht weiß, was es von ihnen will, und es besser ist, sein eigenes Ding zu machen.

   Was auf der Strecke blieb, war die Entwicklung einer modernen Gesundheitsversorgung. Und um nun eine solche zu ermöglichen, wäre ein Schritt, die Ausbildung, Kompetenz und Rolle der „Hausärzte“ im Gesundheitswesen zu definieren. Eine Facharztausbildung macht das möglich – auf den ersten Blick – und nur auf den ersten.

   Denn wenn wir uns anhören, was der „neue“ Facharzt für Allgemein-und Familienmedizin alles machen soll (das Aufgabengebiet umfasst die primäre Gesundheitsversorgung, insbesondere die ganzheitliche, kontinuierliche und koordinative medizinische Betreuung; beinhaltet ist die Gesundheitsförderung, Krankheitserkennung und Krankenbehandlung einschließlich der Einleitung von Rehabilitations-und Mobilisationsmaßnahmen aller Personen, unabhängig von Alter, Geschlecht und Art der Erkrankung, unter Berücksichtigung des Umfelds der Person, der Familie, der Gemeinschaft und deren Kultur), wird sofort klar, dass dafür eine Verfassungsänderung nötig wäre. Ja, eine Verfassungsänderung, weil praktisch für jede einzelne Aufgabe im System jemand anderer zuständig ist. Die Fragmentierung des Systems lässt nicht zu, dass so ein Facharzt seine Aufgaben erledigt. Das weiß der Gesundheitsminister natürlich – und alle anderen, die das so beschlossen haben, wissen es auch.

   Wagen wir einen zweiten Blick, erkennen wir: Mit dieser Reform wird die verpflichtende Ausbildungszeit der Jungärzte im Spital wie auch in der Lehrpraxis länger. Und weil Lehrjahre keine Herrenjahre sind, wird am Ende also nur die billige Arbeitskraft junger Ärzte mehr. Das ist sicher keine Weiterentwicklung, aber trotzdem ein tolles Ziel für Politiker

„Wiener Zeitung“ vom 27.10.2022 

Kritik wird einfach abgeblockt

   Die Gräben im Gesundheitssystem sind unüberbrückbar.

   Seit 15 Jahren missioniere ich in Österreich. Seit gefühlt tausenden Jahren predige ich vor allem zwei Dinge:

   Beendet die Sprachverwirrung!

   Seid selbstkritisch.

   Recht viele Anhänger konnte ich nicht gewinnen, vor allem nicht bei den Entscheidungsträgern innerhalb der vielen Organisationen, die alle als Vetomächte auf- und Klientelinteressen ver-treten.

Deswegen soll ich mich eigentlich nicht ärgern, wenn ich wieder einmal so etwas lesen muss: „Wir schaffen es einfach nicht, unser Versorgungssystem als Ganzes zu denken. Wir haben im niedergelassenen Bereich eine ineffiziente Versorgung, folglich landen viel zu viele Fälle unnötigerweise im Spital“, erklärte jüngst ein Public- Health-Experte.

Die Ärztekammer reagierte so: „Wir weisen Ihre pauschale Behauptung, dass die Versorgung im niedergelassenen Bereich ineffizient wäre, auf das Schärfste zurück; diese Aussage zieht die niedergelassene Ärzteschaft in Misskredit. Gerade die niedergelassenen Ärzt:innen versorgen sehr effizient, jedoch gibt es ineffiziente Versorgungsstrukturen, welche systembedingt sind und dringend reformiert werden müssen. Nur durch den täglichen persönlichen Einsatz der niedergelassenen Ärzteschaft mit ihren Ordinationsteams wird verhindert, dass die Spitäler nicht noch mehr aus allen Nähten platzen.“

   Die Aussage, dass der niedergelassene Bereich ineffizient versorgt, ist nun einmal evidenzbasiert und sagt nichts über die Arbeit der niedergelassenen Ärzte aus. Effektive Versorgung bedeutet, „den richtigen Patienten zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle“ einer Behandlung zuzuführen. Die Arbeit des Arztes ist die Behandlung. Wenn die Versorgung als wenig effektiv bezeichnet wird, dann heißt das nur, dass – gemessen an den dafür üblichen Parametern (allgemeine und krankheitsspezifische Spitalshäufigkeit, die europaweit spitze ist) – die Patienten zu selten am richtigen Ort behandelt werden. Und weil wir viele niedergelassene Ärzte haben (die Dichte aller niedergelassenen Ärzte ist, bei Berücksichtigung aller Schwierigkeiten des Vergleichs, europaweit ebenfalls spitze), ist der Bereich eben ineffizient – daran kann man nicht rütteln. Egal, wie effizient die einzelnen Ärzte auch behandeln mögen.

Wenn man sich jedoch der Begriffsverwirrung hingibt und Behandlung mit Versorgung synonym verwendet, wird aus einer richtigen Analyse plötzlich ein persönlicher Vorwurf. Und statt dieser Begriffsverwirrung Einhalt zu gebieten, kommt der Reflex der Ärztekammer, die sich pauschal schützend vor die Ärzte stellt.

   Es mag sein, dass die Ärzte effizient behandeln – darüber haben wir keine gesicherte Information, weil die Ärztekammer seit Jahrzehnten jegliche vergleichbare Dokumentation der Leistung der Ärzte ablehnt, etwa die Codierung der Krankheiten der behandelten Patienten nach einem einheitlichen Standard oder die Bereinigung der Leistungskataloge nach sinnvollen Grundsätzen. Damit ist die Behauptung der „effizienten Behandlung“ einfach nur eine Behauptung – und ändert nichts daran, dass die Versorgung nachweislich schlecht ist.

Doch wie soll sich etwas ändern, wenn Kritik, dass wir es nicht schaffen, das „Versorgungssystem als Ganzes“ zu betrachten, sofort aufs Schärfste zurückgewiesen wird?

„Wiener Zeitung“ vom 29.09.2022 

Wahlärzte und Ärztemangel

   Wir bilden immer mehr Mediziner aus – aber sie fehlen uns trotzdem.

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   Seit wenigstens 25 Jahren versuchen Experten vergeblich zu erklären, dass es auch hierzulande nötig ist, sich ernsthafte Gedanken über den Bedarf an Ärzten zu machen. Stattdessen wird über Wahlärzte gefeilscht. Diese – in Europa einzigartige – Spezies, die im öffentlichen Gesundheitssystem arbeitet, ohne richtig dazuzugehören, ist eine tolle Verhandlungsmasse: Wie soll man deren Versorgungswirksamkeit bewerten? Immerhin ist ein Viertel aller Ärzte dieser Spezies zuordenbar. Und je nachdem, wie wichtig oder unwichtig sie für die Versorgung angenommen wird, umso mehr (je nach Sichtweise Ärzte, Universitätsplätze, Kassenstellen, Ausbildungsstellen, immer aber Geld) braucht man.

   Die Ärztekammer ist der Meinung, alle Wahlärzte seien notwendig, und hat in einer eigenen etwa 15 Jahre alten Studie, deren Prognosezeitraum jetzt erreicht wird, gemeint, in Zukunft wäre pro 180 Einwohner ein Arzt nötig. Das haben wir fast erreicht – allerdings ohne den Mangel zu beheben. Ärztemangel und Unterversorgung wären nur abwendbar, wenn wir sofort 100 Ärzte mehr pro Jahr ausbilden, und das haben wir getan. Die Zahl der Ärzte steigt und steigt (auf das 1,3-Fache des EU-Schnitts), aber der Mangel bleibt. Der eigentliche Hintergrund dürfte sein, dass das Ärztepensionssystem (Wohlfahrtsfonds) pleitegeht, wenn nicht immer frische Zahler ins Pflichtsystem gespült werden.

   Und da kommen die Länder mit dem Wunsch nach Studienplätzen. Dank der Vorgabe des „Ärztemangels“ hat es Linz geschafft, eine MedUni zu kriegen – neue Universitäten in diversen Bundesländern, die neben Prestige auch frisches Geld aus Wien versprechen, sind sehr beliebt. Diese Uni – und die seitdem neu entstandenen Privatunis – konnten die Absolventenzahl auf das 1,6-Fache des EU-Schnitts heben, aber den Mangel nicht ausgleichen – die Zahl der Absolventen steigt und steigt, der Mangel bleibt.

   Und nun kommen die Kassen. Diese sind verpflichtet, jedem Versicherten ausreichend Kassenärzte zur Verfügung zu stellen. Wenn wirklich die Wahlärzte für die Versorgung nötig sind, dann müsste die Zahl der Kassenverträge seit langem und in Zukunft noch deutlicher steigen. Tut sie aber nicht. Seit 1995 bleibt die Zahl gleich. Die Kassen gehen davon aus, dass Wahlärzte nicht oder in nur sehr geringem Umfang nötig sind, und setzen deren Versorgungswirksamkeit mit wenigen Prozent eines Kassenarztes an. Sie sind also eine Art Luxus-Überschuss. Ein paar „Versorgungswirksame“ sollten zu einem Kassenvertrag verpflichtet werden, und der Rest sei abzuschaffen. So etwas konterkariert das Mangel-Narrativ. Und irritiert gleich noch mehr: nämlich die Ärztekammer.

   Die sitzt im Dilemma: Einerseits sollen die Kassenkuchenstücke nicht durch mehr Kassenärzte kleiner werden, andererseits braucht es eben mehr Ärzte für das Ärztepensionssystem – logischer und altbekannter Schluss, den alle lieben: Es braucht mehr Geld. Und so verhandeln die staatlichen Interessengruppen um die Wahlärzte, denn dort ist der Hebel, wie man jede gewünschte Zahl errechnen kann. Es waren und werden diese Wahlärzte sein, die, unabhängig von der Realität, genauso bewertet werden, dass möglichst alle Interessen befriedet werden.   

Ach ja, falls Ihnen, werte Leser, das bekannt vorkommt – abgesehen von ein paar Kleinigkeiten stand das so schon vor elf Jahren an dieser Stelle.

„Wiener Zeitung“ vom 25.08.2022  

Mit Bauchgefühl gegen Fakten

   Auch im Gesundheitssystem gilt: Was zählt, ist das Narrativ.

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   Letzthin gab es in der „Presse“ ein beeindruckendes Interview mit dem Kassenobmann und turnusmäßigen ÖGK-Verwaltungsvorsitzenden Andreas Huss. Thema waren dessen Ausritte gegen das Wahlarztsystem, das er, verkürzt dargestellt, für unnötig und unsolidarisch hält, da Wahlärzte Personen seien, die sich auf Kosten der Steuerzahler ausbilden ließen, um dann in Hobby-Ordinationen wohlhabende Privatpatienten zu versorgen – und zwar zu einem „erheblichen Teil“ nicht mit evidenzbasierter Medizin, sondern esoterischen oder ästhetischen Leistungen.

   Das Beeindruckende an diesem Interview war weniger die darin geäußerte Meinung, sondern die Daten, die Huss’ Meinung „objektiv“ richtig machen sollten. Egal, ob diese belastbar sind oder sogar widerlegt werden können, diese Daten bleiben gültig, und der Interviewer, der sich redlich bemühte, sie konkreter zu hinterfragen, ja sogar zu widerlegen, wurde mit Stehsätzen abgespeist.

   Das Wissen ob der esoterischen und kosmetischen Ausrichtung der Wahlhausärzte hat der Obmann, weil er sich 50 bis 70 Honorare angeschaut hat. Das ist eine Stichprobe von allerhöchstens 0,001 Prozent, und auch nur, wenn eine zweite Aussage zutrifft, nämlich, dass die meisten Wahlarzt-Honorarnoten eingereicht würden – woher er das weiß, das weiß er selbst nicht. Aber weil es niemand weiß, kann er es behaupten. Sicher ist, dass Wahlärzte kaum versorgungsrelevant sind, weil ein „erheblicher Teil“ keine evidenzbasierte Medizin betreibt.

   Im Kassensystem dürfte das anders sein – obwohl eine simple Suche nach Kassenärzten mit Homepage zeigt, wie weit verbreitet etwa Esoterik bei Salzburger Kassenärzten ist (Salzburg deswegen, weil Huss viele Jahre Obmann der dortigen GKK war und „seine“ Kassenärzte kennen sollte). Aber natürlich nicht nur dort, wie ein Blick in das Leistungsspektrum der obersten Allgemeinmediziner, also der Spitze des Referats für Primärversorgung in der österreichischen Ärztekammer, zeigt. Da reiht sich eben ein orthomolekular tätiger Kassenhausarzt an eine Vampir-Lifting-Kassenhausärztinnen. Egal, das Narrativ muss halten: Wahlärzte sind versorgungsunwirksame Esoteriker, Kassenärzte hingegen versorgungswirksame Schulmediziner.

   Und das geht so nicht, weil ganze 55 Prozent des Kassenpersonals nur für die Wahlarztabrechnungen eingesetzt werden, die aber gewiss lediglich 6 Prozent aller Kassenleistungen erbringen. 3.500 Kassenangestellte also, die sich ausschließlich mit den Abrechnungen der Wahlärzte beschäftigen? Das würde ja bedeuten, dass die Aufarbeitung einer Wahlarztrechnung eine Stunde dauert, während die einer Kassenarztrechnung mit drei Minuten zu Buche schlägt. Beides ist unrealistisch. Bedenkt man, dass der Personalstand der Kassen in der Abrechnung seit vielen Jahren etwa gleich ist, die Einführung der elektronischen Abrechnung vor 20 Jahren kaum Auswirkung auf den Personalstand hatte und sich die Zahl der Wahlärzte seither verdoppelt hat, dann passt halt echt nichts zusammen.

   Aber darum ging es auch nicht – Ziel war es, eine tief ideologisch oder populistisch Meinung zu vertreten, dazu irgendwelche Zahlen zu nennen, die ein Journalist einfach hinnehmen muss, auch wenn es alternative Fakten sind. Was zählt, ist das Narrativ.

„Wiener Zeitung“ vom 28.07.2022                            

Die ewige Gesundheits- und Pflegereform

   Gesetze sind dazu da, sie zu befolgen oder zu übertreten – oder, wenn man sie selbst macht, sie einfach zu ignorieren.

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   Wer falsch parkt, kriegt einen Strafzettel – man hat ein Gesetz übertreten. Das ist normal, für die meisten jedenfalls.

   Gehen wir zurück ins Jahr 2000, das in der Gesundheitspolitik ein besonderes war. Nach 20 Jahre dauerndem Dahinwursteln haben sich die hohen Politiker der Länder und des Bundes geeinigt, die Gesundheitsplanung komplett neu zu gestaltet. Das hat der EU-Beitritt so nach sich gezogen, nicht der politische Wille.

   Bis dahin gab es den „Österreichischen Krankenanstalten-Plan“ (Ökap). Darin enthalten waren alle Krankenhäuser mit einer fixierten Anzahl an Betten. Diese wurde kleinerenteils wissenschaftlich errechnet, größerenteils politisch verhandelt. Ziel des Ökap wäre es gewesen, die stationäre Spitalsversorgung – und ausschließlich diese – in einen vernünftigen Rahmen zu bringen. Nun gut, an den Ökap hat sich niemand gehalten. Jedes Bundesland, ja beinahe jedes einzelne Krankenhaus, hat gemacht, was es wollte. Und wenn etwas nicht Ökap-konform war, haben Politiker halt fallweise den Ökap umgeschrieben. Einmal wurde der Ökap sogar evaluiert. Das Ergebnis war so desaströs, dass man sich hinter verschlossenen Türen geeinigt hat, einfach so zu tun, als ob es diese Evaluierung gar nicht gegeben hätte.

   Aber ab 2000 wurde alles anders. Ein entscheidender Paradigmenwechsel in der Gesundheitsplanung wurde eingeleitet: Die herkömmliche Planung wurde durch eine gemeinsame, einheitliche, bedarfsorientierte Leistungsangebotsplanung abgelöst. Die Planung sollte die stationäre und die ambulante Versorgung, die Rehabilitation und sogar die Pflege umfassen. Geplant werden sollten nun nicht mehr die Spitalsbetten, sondern vom Patienten ausgehend jene Leistungen, die Patienten brauchen, und zwar dort, wo sie sie brauchen. Die Leistungen selbst sollten nur erbracht werden dürfen, wenn man dafür Qualitätskriterien erfüllen konnte. Somit sollte die Planung erstmals das gesamte Gesundheitswesen quantitativ und qualitativ umfassen (wie schon 1969 von der WHO gefordert).

   Unzählige Arbeitsgruppen später wurde der „Österreichische Strukturplan Gesundheit“ (ÖSG) mit großem Pomp beschlossen und als großer Wurf verkauft. Jedes Bundesland hat in seinen Landesgesetzen festgelegt, dass der ÖSG geltendes Recht ist.

   Heute, 2022, schaut man nach, was denn umgesetzt wurde. Und siehe da: kaum etwas. Obwohl gesetzlich anders vorgeschrieben, ist die „Planung“ chaotisch; Länder machen weiter in den Spitäler willkürliche Bettenplanung, Kassen und Ärztekammern verwalten weiter autistisch die Kassenarztstellen, die Reha geht an der Hand des Dachverbandes zielsicher an der Realität vorbei, und die Pflege ist weiterhin ein völlig ungelöstes Problem von irgendwem. Und die gesetzlich geforderten Qualitätskriterien wurden zu unverbindlichen Empfehlungen degradiert.

   Alles wird völlig faktenbefreit, dafür hochemotional diskutiert, etwa der Ärzte- und Pflegemangel, und alle Probleme, die seit nachweislich 53 Jahren bestehen, werden gepflegt und gehegt, deren Lösung in Gesetze gegossen – und diese dann geflissentlich ignoriert. Das wird ewig so weitergehen, denn einen Strafzettel für diese Gesetzesübertretungen wird es nie geben.

„Wiener Zeitung“ vom 23.06.2022