COVID19 – Testen, Testen, Testen heißt Daten, Daten, Daten!

(Lesezeit 8 Min.) Ich bin kein Epidemiologe, deswegen halte ich mich aus der Diskussion raus. Epidemiologie ist in der Versorgungswissenschaft sowas wie die theoretische Physik in der Naturwissenschaft.

Die Aufgabe der Epidemiologen ist leicht zu verstehen. Sie fragen sich, wer hat welche Krankheit, seit wann, woher und mit welchem Verlauf und welchem Ergebnis für seine Gesundheit?

Doch um das zu beantworten, müssen komplizierte und am Ende komplexe Modell gerechnet werden, die aus vielen Parameter bestehen. Diese Parameter sind so zu wählen, dass für jeden eine plausible Annahme getroffen werden kann, weil meistens harte Daten fehlen, und erst später experimentell bestätigt werden können. Und während man für viele Krankheiten Jahre Zeit hat, viele Experimente machen und so Modelle immer nachziehen kann, ist das bei einer Pandemie durch einen neuartigen Erreger, die sich explosionsartig ausbreitet, schlicht nicht möglich – dann ist Können angesagt.

Wären alle möglichen Daten in IST-Zeit zugänglich, wäre die Aufgabe der Epidemiologen leicht – doch das ist nie der Fall. Also müssen sie zuerst Krankheitsmodelle entwerfen, die sich aus Risikofaktoren zusammensetzen und messbar sind. Und die müssen sie dann mit sozioökonomischen, kulturellen und demographischen Daten verknüpfen. Die Schwierigkeit besteht darin, das alles so zusammenzubringen, dass selbst widersprüchliche Annahmen ein schlüssiges Bild ergeben.

Im Fall von COVID19 wissen Epidemiologen wenigstens schon mal ein paar Risikofaktoren, die den Verlauf bestimmen: Alter, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, COPD, Hypertonie, Krebserkrankung, Einnahme von immunsuppressiven Medikamenten, Body-Mass-Index, Geschlecht, Raucherstatus. Wie wichtig die alle zueinander und miteinander sind, das ist noch nicht so klar. Wie Infektiös das Virus ist, da herrscht auch noch Unsicherheit. Auch die Zeit von der Ansteckung bis zu ersten Symptomen (sofern die überhaupt auftreten, da es auch die stille Feiung gibt), und der zeitliche Verlauf, ist noch unklar. Welche Übertragungswege bestehen, ist auch noch nicht restlos geklärt, vor allem, wie lange das Virus auf Oberflächen überlebt und so über den direkten Mensch zu Mensch-Kontakt hinaus verteilt werden kann. Welche sozioökonomischen Faktoren mitbestimmend sind (denken wir an die Urlauber in Ischgl), da suchen sie noch.

Und wenn einmal das alles so plausibel wie möglich geschätzt ist, darf nicht vergessen werden, dass jedes Modell maßgeblich von der regionalen Kultur bestimmt wird! Ein Modell das in China passt, muss nicht in Österreich passen – etwa, weil bei uns die Wohnungen größer und die Zahl der Bewohner geringer ist, oder weil wir nicht frisches Fleisch auf Bauernmärkten kaufen, oder weil die durchschnittliche Niederschlagsmenge im Februar geringer ist, oder weil wir mehr Autos haben, oder weil wir Hände schütteln, statt uns kontaktlos voreinander zu verbeugen! All diese Parameter können in Modellen wichtig sein – und weil das alleine schon im ersten Bezirk in Wien anders ist als im Mostviertel, müssen die Modelle so parametrisiert werden, dass sie eben solche Unterschiede zulassen. Deswegen müssen oft „alte“, regionale Modelle vergangener Epidemien herangezogen werden, um Anpassungen vornehmen zu können.

Und nicht selten kommt es eben zu Widersprüchen und/oder Rückkoppelungen in den Parametern – und das macht aus kompliziert komplex!

Diese Modelle müssen die Vergangenheit der Krankheitsausbreitung darstellen – und erst wenn das klappt, sind die Modell so stabil, dass damit Prognosen möglich werden. Und wenn diese Modelle so modelliert sein sollen, dass von Ihnen auch präventive Maßnahmen abgeleitet werden können (also Masken oder nicht, Schulen offen oder nicht …), dann müssen die Parameter zudem so gewählt werden, dass sie beeinflussbar sind. Und um dann den Erfolg oder Misserfolg von solchen Maßnahmen beobachten zu können, müssen Indikatoren definiert werden, die das messen können. Zudem müssen diese Indikatoren so sicher und leicht erhebbar sein, dass sie nicht zu einer zusätzlichen Dokumentationsbelastung für ein in der Regel ohnehin überfordertes Gesundheitspersonal werden – nicht weil Epidemiologen Mitleid hätten, nein, wenn der, der Daten sammeln soll, das mit Widerwillen tut, sind die Daten schlecht!.

Und all das bedeutet in der Praxis aus extrem wenigen und unsichern Daten, mit ausgefuchsten statistischen Methoden, extrem viel und akkurat herauszulesen – und deswegen sind eben Epidemiologen so selten wie theoretische Physiker in der Naturwissenschaft! Ich bin in diesem Zusammenhang höchsten Ingenieur.

Aber klar ist, selbst die besten Epidemiologen brauchen so viele Daten wie möglich. Deswegen ruft die WHO laut „TESTEN, TESTEN, TESTEN“. Denn, je weniger Daten, desto weniger Parameter, desto unsicherer die Vorhersagen, und je schlechter die Daten, desto schlechter die Vorhersagen. Testen heißt Daten sammeln! Es geht dabei nur darum, die Krankheit epidemiologisch zu verstehen, nicht um die Zahl der Infizierten herauszufinden.

Warum brauchen wir diese Modelle in dieser Pandemie?

Wenn wir die Strategie verfolgen, so wenige Neuinfektionen wie möglich zu erreichen, dann brauchen wir keine Modelle, sondern einfach nur extrem scharfe Isolationsvorschriften. Wenn jeder zu Hause sitzt und keiner sich dem nächsten auf weniger als zwei Meter nähert, dann wird die Ansteckungsgefahr soweit reduziert, dass niemand irgendwas rechnen muss. Nur darf dann halt eine Mutter Ihr Baby nicht wickeln, einem Herzinfakrtpatienten ruft dann eine Ärztin von 2m Entfernung zu „wird schon wieder“, und der Wundmanager gibt übers Megaphon Anleitung, wie man sich selbst eine Kompression anlegt.

Dass wir bei COVID 19 eine Strategie verfolgen müssen. liegt daran, dass alles was wir bisher wissen, darauf hindeutet, dass relativ wenige (3%), aber absolut sehr viele Menschen (geschätzt werden es am Ende etwa 130.000 gewesen sein) im Verlauf von COVID19 eine so schwere Lungenentzündung haben, dass sie von selbst zu schwach sind, um zu atmen. Und die einzige, bisher bekannte Therapie dieses Verlaufs ist die Beatmung durch Maschinen. So lange, bis das Immunsystem des Körpers genug Viren getötet hat, dass die Entzündung abklingt. Oder eben der Patient stirbt, weil sein Immunsystem dafür zu schwach ist.

Der Limitierende Faktor bei der Versorgung von COVID19-Patienten ist daher die Infrastruktur, die diese Behandlung ermöglicht – Beatmungsgeräte! Je mehr desto besser! Doch das Problem ist, jedes Gesundheitssystem hat so viele dieser Geräte, wie es für „normale“ Spitzenzeiten braucht. Aber normal ist halt jetzt nichts. Und wir haben aktuell etwa 900 dieser Geräte für COVID19 Patienten, die ein Patient etwa 5 Tage braucht! Also müssen wir, wenn wir nicht mehr Geräte bereitstellen können, die geschätzten 130.000 Patienten auf zwei Jahre, oder bist eine andere Behandlungsmöglichkeit (Impfung, Medizin) besteht, verteilen – Flatten the Curve!

Flatten the Curve! Aber wie flach will das unsere Regierung und warum?

Epidemiologen wissen eben bereits, dass in einer Durchschnittspopulation etwa 3% der aktiv kranken COVID19-Patienten eine künstliche Beatmung brauchen. Das Problem dieser Aussage ist, dass es keine „Definition“ der Durchschnittspopulation gibt. Wie alt ist die, wie chronisch krank, wie dick, wie viele rauchen? Das ist bei weitem noch nicht klar, also arbeiten alle daran, herauszufinden, wer genau zu den 3% gehört. Je genauer wir das sagen können, desto genauer kennen wir die „Risikogruppen“ und damit die Personen die man durch die Strategie schützen muss, damit sie nicht alle auf einmal krank werden.

Anfangs hat unsere Regierung eine gute Figur gemacht. Wenigstens auf der Kommunikationsebene. Und ich ging davon aus, dass nach außen eben Ruhe erzeugt wird, und im Hintergrund Epidemiologen arbeiten, um herauszufinden, mit welcher Strategie wir welche Personen schützen können.

Es gab dann so einige Punkte, an denen ich begann, an der Regierung zu zweifeln.

Der wichtigste war wohl, als dieser Datensalat am 26.3.2020 bekannt wurde. Offenbar haben wir es noch nicht einmal geschafft, und schaffen es bis heute nicht, aktuelle Zahlen für zwei Prävalenzen zu haben: Hospitalisierung und Intensivbehandlung. Das ist schon sehr erschütternd. Denn wenn wir noch nicht einmal zwei so einfach Daten wenigstens stundenaktuell hinkriegen, sondern gerade einmal recht und schlecht alle 24 Stunden, dann haben die Epidemiologen praktisch nichts in der Hand, außer Daten aus der Literatur. Und offenbar wurde und wird bei keinem COVID-Test irgendein epidemiologisch relevanter Wert erhoben, ja noch nicht einmal bei den hospitalisierten oder beatmeten Patienten.

Dann wurde in der PK am 26.3. das Prognosemodell gezeigt – ein paar Grafen, keine Daten. Hochgradige Intransparenz! Und das Modell selbst? Bereits 4 Tage nach der Präsentation liegt die Zahl der Intensivpatienten 25% über der Prognose. Das ist die Folge fehlender Daten – weil eben nicht erhoben wird, wer wann erkrankt, und wie sein Verlauf ist! Es ist aber wichtig, herauszufinden, an welchem Tag der Krankheit eine Hospitalisierung und eine Beatmung nötig wird!

Auffällig war auch, dass die Regierung, offenbar mangels erhobener Daten, einem einfachen Weg folgte. Die Länder haben gemeldet, sie können 900 Beatmungsgeräte für COVID19 Patienten freispielen. Die Literatur sagt, dass etwa 3% der Infizierten (mit Symptomen und positiv getestet) ein Beatmungsgerät brauchen.

Wenn 900 Geräte da sind, und 3% der Kranken ein Gerät brauchen, dann dürfen also nicht mehr als 30.000 krank sein (so verkündet auf der PK). Weil die Krankheitsdauer mit 14 Tage angenommen wird, dürfen daher nicht mehr als 2143 Neuerkrankungen täglich stattfinden, damit alle, die ein Beatmungsgerät brauchen, auch eines kriegen.

Das ist echt noch keine Epidemiologie – das ist bis hierher eine einfache Schlussrechnung! Das hat mich schon sehr skeptisch gemacht, weil ich das, ohne Epidemiologe zu sein, so leicht nachrechnen konnte.

Warum auch immer, die Transparenz ist ja trotz Krise immer noch österreichisch, wurde politisch festgelegt, dass nur 10.000 bis 15.000 aktiv krank sein sollen (ich denke, dahinter stecken so föderale Frage wie – das niederösterreichische Beatmungsgerät nur den Niederösterreichern! Also muss sich die Zahl an der niedrigsten verfügbaren ländlichen Ausstattung orientieren), womit die Zahl der Neuerkrankungen auf 715  bis 1.000 limitiert wurde. Und diese Zahl war dann die „heilige Kuh“ – das war das anzustrebende Ziel, dem alle Maßnahmen dienen müssen. Wir flachen die Kurve also soweit ab, dass nicht mehr als 1.000 Neuerkrankungen auftreten – als globale Zahl, gemessen an den positiven Tests – keine weitere Konkretisierung!

An diesem Punkt war ich schon sehr sauer. Denn was heißt das, wenn alles getan werden muss, dass diese Zahl so niedrig bleibt.

Eine kleine Kopfrechnung: um eine natürliche Herdenimmunität (bis wir eine andere Therapie oder Impfung haben, die einzige Chance!) zu erreichen, müssen 4 – 5 Millionen Österreicher COVID19 durchgemacht haben. Sagen wir, wir machen alles, dass es 1.000 Neuinfizierte pro Tag gibt, und erreichen die Herdenimmunität schon bei 4 Millionen Einwohnern, dann müssen wir für die nächsten 11 Jahre so weitermachen. Keine Schulen, keine Unis, keine Arbeiten, die weniger als einen Meter Abstand erfordern, keine Besuche in Altersheimen, keine planbaren Operationen – Lock down für 11 Jahre (133 Monate!)! Ernsthaft? Das ist die Strategie der Regierung? Obwohl klar ist, dass für alle gesunden Menschen unter 50 eine Infektion nicht schlimmer ist, als ein grippaler Infekt?

Ganz glauben konnte ich das noch nicht, oder wollte das nicht! Die haben sicher einen oder mehrere Epidemiologen, die wie wahnsinnige Modelle rechnen, Annahmen überprüfen, schlicht herausfinden, wer diese „3%“ sind (am Ende werden es 1,5% der Gesamtbevölkerung sein, da ja ab 4 Mio. Infizierten und geheilten eine Herdenimmunität auftritt – also etwa 130 Tausend Österreicher), die wir schützen müssen, und wie das am besten geht.

Doch dann kam die PK vom 30.3.!

Dazu gibt es eine Vorgeschichte, wie sich herausstellte. Am 29.3. hat eine Gruppe Mathematiker ein „Expertenpapier“ als offenen Brief an die Regierung und die APA geschickt – und es leider auf orf.at geschafft. Aus versorgungswissenschaftlicher Sicht ist es ein unsäglich schlechtes Papier. Was echte Epidemiologen dazu sagen, möchte ich gar nicht wissen. Doch das ist im Grund unwichtig – wichtig ist nur die politische Reaktion!

Angeblich gibt es ja – und ich habe immer auf ihn gehofft – einen Krisenstab, in dem eben die gescheiten Köpfe (=Epidemiologen) sitzen und die Regierung beraten. Und auf Basis dieser Beratung dachte ich, hat die Regierung, wie alle anderen auch, etwa die Wortwahl „Abflachung der Kurve“, „prozentueller Zuwachs bei den Infektionen“ und „Verdoppelungsraten“ verwendet. Leicht verständlich für jeden – etwas sehr wichtiges in der Krisenkommunikation.

Und dann die PK! plötzlich referiert die Regierung über den R0-Wert. Ich war völlig von den Socken! Keine andere Regierung verwendet diesen Wert, weil er kompliziert ist. Wie wenig sogar der „gut beratene“ Kanzler von diese R0-Wert versteht, hat er dann gleich in einem ZIB-Interview (Min 4:15) bewiesen, als er meinte, der Wert liegt aktuell bei etwa 2 und er wäre mal bei 4 gewesen! Und das ist halt völlig falsch, weil der Basisreproduktionsfaktor R0 bei COVID19 bei 2,8-3,3 liegt und NICHT veränderbar ist. (also nie 4 gewesen sein konnte)

[nachträgl.Anm.: Einige, die sich mit R0 auskennen, haben mich darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Passus so klingt, als ob R0 eine virusbezogene Konstante wäre. Das ist NICHT richtig und war von mir auch nicht so gemeint – R0 hängt maßgeblich von der Umgebung ab – nur wenn Menschen da und nahe genug sind, dass ich sie anstecken kann, kann der R0 über 0 liegen! R0 ist kein tivial ausrechenbarer Wert]- und soweit ich das beobachte dürfte für Europa, obwohl wir Händeschütteln der R0 niedriger sein als in China (da kommt der obige Wert her), weil vielleicht die Anzahl der Bewohner pro Wohnung wichtiger ist, als Händeschütteln – oder aus sonst einem Grund! Epidemiologen könnten hier Auskunft geben!]

Wenn, dann ist Rt ein von R0 unterschiedlicher Wert, der eben dann auch den Erfolg von Massnahmen zu einem bestimmten Zeitpunk (t) zeigt. Also, warum plötzlich dieser Wert? Und dann habe ich mich an dieses „Expertenpapier“ erinnert, da steht „Oberlehrerhaft“

Für eine Epidemie ist die alles entscheidende Größe der Replikationsfaktor R0.  [….] Wenn es nicht gelingt, rasch den Faktor R0 unter den Wert von 1 zu drücken, sind in Österreich zehntausende zusätzliche Tote und ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu erwarten.

Keine Empfehlung des Krisenstabes, nein ein Zuruf von außen, der von „Experten“ stammt, die RO noch nicht einmal richtig verwenden können – nicht sehr vertrauensbildend.

Und als ob das nicht reichte, dann noch die Ankündigung der Maskenpflicht im Supermarkt. Woher kommt die?

Am 26.3.hat auf orf.at ein anderer Mathematiker (dessen Modell übrigens ganz anders aussieht als das der obigen Mathematiker) gemeint. „Was wir in Österreich unbedingt brauchen, ist eine Maskenpflicht. Vor allem in Supermärkten, dort stecken sich die Leute an“. Seiner Meinung soll eine Maskenpflicht die Infektionen um 75% bis 90% reduzieren (so zumindest zitiert das ein Journalist auf Twitter) – Da wird eine Empfehlung eines Mathematikers, der offenbar kein Epidemiologe ist und die Krankheit nicht versteht, praktisch wortwörtlich übernommen und vom Kanzler so umgesetzt! Ohne irgendeinen Beleg, ein Modell, eine Ahnung und epidemiologisch sicher falsch.

An dem Punkt bin ich gerade! Es ist 1:30 am 31.3 Und die Regierung, die offenbar planlos agiert, macht mir Angst!

Pflegkräftemangel -Mythos

(Lesezeit 10 Min) Die Meldung kam für alle überraschend. Laut den ersten offiziellen Daten des Pflegeregisters, sind 141.096 Personen in einem Gesundheits- und Krankenpflegeberuf ausgebildet. Dazu zählen Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflege, Pflegefachassistenz und Pflegeassistenz. Diese Zahl ist erstaunlich hoch, und passt gar nicht in das Bild, das die Politik seit Jahren zeichnet.

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Die größte Strukturreform der Zweiten Republik

(Lesezeit 20 Minuten) Eine ausführliche Würdigung einer als Strukturreform getarnten Türschildreform, die einen billig schmeckenden parteipolitischen Nachgeschmack hinterlässt

„Das österreichische Gesundheitswesen zeigt das Bild beachtlicher Verschiedenheit durch unterschiedlichste Träger, wodurch eine überregionale Zusammenarbeit zugunsten von „Eigeninteressen“ behindert wird. […] Die Existenz so vieler Träger ist nicht geeignet, die Entwicklung eines rationellen, aufeinander abgestimmten und reibungslos funktionierenden Systems zu fördern. […] Zwischen intramuralem und extramuralem Bereich besteht eine scharfe Trennlinie. Es existieren Zweigleisigkeiten in der Arbeit von Spitälern und Ärzten in der Praxis.  […] Es gibt die steigende Tendenz der praktizierenden Ärzte, ihre Patienten in ein Spital einzuweisen – diese Tendenz wird unter anderem durch das Honorierungssystem gefördert. […] Die Vorsorge für die ärztliche Betreuung alter Menschen und chronisch Erkrankter ist im Allgemeinen unzulänglich.“

Und:

„Trotz verschiedenster Bemühungen um eine verstärkte Koordinierung und Angleichung der Interessen mussten wir feststellen, dass das österreichische Gesundheitssystem aufgrund seiner vielschichtigen Verwaltungsstruktur und dualen Finanzierung komplex und fragmentiert ist. […] Besonders die Aufteilung der Finanzierung von intra- und extramuralen Leistungen zwischen den Bundesländern und Sozialversicherungen kann die Betreuungskontinuität beeinträchtigen und zu Kostenverschiebungen führen.  Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass zurzeit die Gesundheitsergebnisse innerhalb der Bevölkerung schlechter und die Gesamtkosten höher ausfallen, als dies in einem koordinierten System der Fall wäre.“

Zwischen diesen beiden Aussagen liegen fast 50 Jahre. Die erste stammt vom Regionalbüro für Europa der WHO ( „Besprechung des Spitalswesen in Österreich mit Empfehlung für künftige Entwicklungen“ Oktober 1969), die andere aus der „Effizienzanalyse des österreichischen Sozialversicherungs- und Gesundheitssystems“ der London School of Economics and Political Science (LSE 2017)

Was kritisieren diese beiden Studien? Unser System

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Aktuelle Entwicklungen im österreichischen Pflegesystem

Abschaffung des Pflege-Regresses ist kein Reformschritt zu einem vernünftigen Pflegesystem. Dieses müsste Pflegevermeidung, nicht Pflegeversorgung anstreben.

Litt bis vor einigen Jahrzehnten der typische Patient des Gesundheitssystems an einer akuten und heilbaren Krankheit, leidet er heute an chronischen Krankheiten und altersentsprechenden Einschränkungen der Gesundheit – Aus der Sicht des Patienten verschwimmen die Grenzen zwischen Pflege- und Gesundheitssystem.

Die Erkenntnis, dass die Progression der Pflegebedürftigkeit nicht nur die Lebensqualität reduziert, sondern auch mit einer verstärkten Inanspruchnahme des Gesundheitssystems einhergeht, es jedoch Möglichkeiten gibt, die Progression der Pflegebedürftigkeit zu verlangsamen, führt dazu, dass  praktisch alle Regierung in Europa Anstrengungen unternehmen, die Pflege in das Gesundheitssystem zu integrieren. Der Weg dazu ist eine „moderne“ Definition der Pflege (aktivierende statt kompensatorische Pflege), die als Teil des Gesundheitssystems gedacht, also in das System integriert wird.

Österreich jedoch reagiert auf diese Entwicklung kaum, und hat mit der Abschaffung des Pflegeregresses sogar Schritte unternommen, die in die Gegenrichtung zeigen.

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Literaturservice: LSE-Studie und zugehörige Presseunterlagen

Zur ohnehin politisch schon sehr eingeklemmte Studie (hier in Englisch ), hat der Autor der Studie, Minister Stöger einen 12 Seiten langen Brief zur Studie übermittelt, der doch eine ganz andere Sprache spricht, als die Presseunterlagen.

Besonders beachtenswert ist – neben den nicht neuen Darstellungen der Schwächen und den „bemerkenswerten“ Fakten (trotz Innhomogenität kriegen alle was sie brauchen; trotz enormer Spitalshäufigkeit sind die Ausgaben niedrig) – vor allem die Modell-Variante 4, die hier als Reform vorgeschlagen wird. Sie ist im Grunde keine Reform, sondern es kann alles bleiben wie es ist, sofern bestimmte Rahmenbedingungen hergestellt (klingt eben nach – was muß sich ändern, damit alles beliben kann wie es ist) werden. Es ist die einzige Variante, die in diesem Brief näher beleuchtet wird, gerade so, als ob die LSE fürchtet, dass diese (mMn „wünsch-dir-was)Variante von der Politik derart präferiert wird, dass sie behauptet: „es sei eh jetzt schon alles bestens, und die LSE bestätigt das auch“

Und wie zu erwarten war (wobei ich sicher bin, dass bereits im Vorfeld heftig darüber geredet wurde – vielleicht auch deswegen der lange Brief) entscheidet sich die Politik sofort für Variante 4 und will diese gleich umsetzen – allerdings, und das zeigen die Presseunterlagen – nicht im Sinne der Studie: kein Wort von einer Reform des Risikostrukturausgleichs ALLER Kassen, kein Wort vom Herauslösen der Spitalsambulanzen, um sie im Kassensystem zu integrieren, kein Wort von eine Leistungsharmonisierung aller Leistungen aller Kassen (nur „nicht-ärztliche“ Leistungen sollen harmonisert werden, also keine Veränderung im Gesamtvertragssystem. Deswegen kostet die Harmonisierung auch nur wenig – eine echte würde 1,2 Mrd.€ kosten, die vorgeschlagene ein paar hundert Millionen)

Die Variante 4, wenn sie im Sinne des Briefes umgesetzt werden sollte, wäre mit Abstand die komplexeste und langwierigste. Und weil ich eben glaube, dass es den Politikern eigentlich nicht um eine wirkliche Reform geht, wird diese Variante gewählt und dann versanden – wie endlos viele Reformen davor.

 

Eine endgültige Bewertung kann ich aber erst nach den 1.400 Seiten vornehmen – und auch erst dann, wenn sie online ist!

 

 

Der Patient steht im Mittelpunkt und dort allen im Weg

2007 habe ich ein Buch geschrieben, weil die Probleme der Pflegeversorgung massiv waren – und da in den letzten 10 Jahren nichts passiert ist, werden die Probleme immer größer und das Kaschieren immer schwerer und teurer.

Hier das Vorwort aus dem Jahr 2007

Auslöser dieses Buch zu schreiben, war die Diskussion um die Pflegeversorgung in Österreich. Eine solche Diskussion wäre zu rechtfertigen, wenn in Österreich das Gesundheitssystem privatisiert wäre. Wahrscheinlich würde die Diskussion auch stimmen, wenn wir mit den Ausgaben für das Gesundheitssystem irgendwo an letzter oder vorletzter Stelle in der OECD lägen. Eventuell wäre diese Diskussion auch gerechtfertig, wenn man sie vor 20 Jahren geführt hätte. Heute und in einem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem, das zu den teuersten der Welt gehört und sich selbst gerne als das beste bezeichnet, ist diese Diskussion jedoch unwürdig.
Der Grund, warum es überhaupt zu einer solchen Diskussion kommen musste, hängt stark mit der Unwilligkeit zusammen, im Gesundheitsbereich substantielle Reformen umzusetzen. Jeder, der irgendwie irgendetwas im Gesundheitssystem zu reden hat, verteidigt sein Revier – und das seit immerhin 50 Jahren sehr erfolgreich. Es ist also nicht verwunderlich, dass wir in Österreich Strukturen haben, die wie aus einer anderen Zeit anmuten. Da sich jedoch die Welt weiterdreht und die demographischen und medizinischen Entwicklungen auch vor Österreich nicht halt machen, egal wie sehr sich das manche wünschten, sind diese Strukturen mittlerweile anachronistisch geworden.
„Wie sehr“ uns der alte Mensch am Herzen liegt, sieht man alleine schon daran, dass das Fachgebiet der geriatrischen Medizin gar nicht existiert, gerade einmal ein Fortbildungsdiplom der Ärztekammer gibt es dafür. Googelt man nach den Begriffen „geriatrische Rehabilitation“, erhält man 214 000 deutschsprachige Einträge – aus Österreich stammen 308. Ein „Geriatrieplan“ in Analogie zu Kinderversorgungsplänen oder Strukturplänen gibt es eigentlich nicht. Und wenn, dann ist das meist nicht mehr als eine Auflistung von Pflegeheimen und Absichtserklärungen. Eine den Prozessen entsprechende und bedarfsgerecht abgestufte Versorgung gibt es demnach in der Pflege genauso wenig wie in der ambulanten ärztlichen Versorgung.
Was es allerdings sehr wohl gibt, ist die Verdrängung der Patienten in andere Versorgungsstrukturen, wie dem Krankenhaus. Aus gesamtwirtschaftlicher Betrachtung ist das jedoch Irrsinn, da ein Krankenhaus vermutlich mindestens doppelt so teuer und fachlich falsch qualifiziert ist, als die eigentlich benötigte und bedarfsgerechte Struktur. Anders ausgedrückt, könnte man, wenn man sich auf eine große Reform einigt, für das gleiche Geld doppelt so viele pflegebedürftige Personen betreuen! Und wenn man dann auch noch vernünftige Konzepte für die Pflegeversorgung (insbesondere abgestufte Modelle) entwickelt, dann sind es vermutlich drei oder vier Mal so viele – ohne dass der Patient was zahlen müsste. Und wenn man die Kuration endlich gemeinsam mit dem Pflegebereich abstimmen würde, dann könnte man sich sämtliche Selbstbehalte in der Pflege überhaupt sparen und die Pflege solidarisch finanzieren – ohne Beiträge erhöhen zu müssen.
In der Pflege besteht ein noch größerer Reformbedarf als in der Kuration. Es fehlen geeignete Definitionen, die die Leistungen der öffentlichen Hand von Privatleistungen klar trennen, die Abstufung der Angebote ist nicht am Bedarf der pflegebedürftigen Personen ausgerichtet, die Abstimmung des Leistungsgeschehens mit angrenzenden Bereichen fehlt komplett.

 

Und hier das ganze Buch als PDF

GESUNDE ZUKUNFT  

ÖSTERREICHS GESUNDHEITSVERSORGUNG NEU
Diskussionsgrundlage zur Entwicklung neuer Strategien im Gesundheitswesen

 

Lesezeit 3,5 Stunden – es ist sehr leicht zu lesen! darauf bin ich heute noch stolz

Totgeburt des PHC-Gesetzes? Ein Erfolg für wen?

(Lesezeit 14 Minuten) Einigermassen verwirrend sind die Aussagen der Ärztekammer, bzw. dessen Kurienobmann Dr. Steinhart, zum nun in Begutachtung gegangenen Primärversorgungsgesetz (PVG) . Angeblich wurde es wesentlich verbessert und ein Verhandlungserfolg erzielt, weil „Patienten nicht plötzlich ihren Vertrauensarzt verlieren und Ärzten die Standort- und Planungssicherheit erhalten bleibt.

Ganz so aber kann das nicht sein, denn die als Erfolg verkauften Tatsachen, wie der Erhalt des Gesamtvertrags oder die Bevorzugung von Kassenärzten vor Ambulatorien waren bereits im ursprünglichen Entwurf.

Warum also eine Verbesserung?

Wirklich geändert haben sich drei Dinge – und die sind in Kombination meines Erachtens als Misserfolg zu werten, wenn es darum geht eine Stärkung der Hausärzte erreichen zu wollen. Wenn es darum geht, aus dem Entwurf eine Totgeburt zu machen, dann allerdings war es ein Erfolg.

Weiterlesen „Totgeburt des PHC-Gesetzes? Ein Erfolg für wen?“

Wie es dazu kam, dass die EU wegen der Arbeitszeit drohte

 

(Lesezeit 4 Min) 2014 drohte die EU Österreich mit hohen Strafzahlungen wegen Nicht-Umsetzung der EU-Arbeitszeitregelung. Doch ist die EU von selbst aktiv geworden?

NEIN, das tut sie grundsätzlich nicht – jemand muss sich beschweren.

Viele Fraktionen, die jetzt bei der Ärztekammerwahl antreten und so tun, als ob sie es gewesen wären, die die Sitaution der Spitalsärzte verbessert haben, schmücken sich mit fremden Federn! Die meisten der Fraktionen haben trotz Wissen um die illegale Arbeitssituation[i] jahrelang nichts unternommen, mehr noch, bis 2012 wurde das System durch die Ärztekammer OÖ sogar verteidigt und als Erfolg verkauft, wenn das Einkommen v.a. der Jungärzte an Nachtdiensten und Wochenenddienst hängt.

Die Beschwerde kam also nicht von den Institutionen, die eigentlich für Arbeitnehmerschutz und Interessensvertretung zuständig sind, sondern von zwei Privatpersonen:

Dr. Marina Hönigschmid und Dr. Ernest Pichlbauer

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Das PHC-Gesetz und seine Feinde

(Lesezeit 4 Min) Obwohl niemand den Entwurf zum Primärversorgungsgesetz 2017 (PVG) gekannt hat, war klar, er ist böse. Deswegen mobilisiert die Niedergelassenen-Kurie gleich und ruft einen Krisengipfel ein!

Und da wird auch nicht mit Drohgebärden gespart:

„So könnte z.B. Ihr bestehender Kassenvertrag sehr einfach gekündigt werden, wenn etwa in Ihrer Region eine PVE gegründet wird.“

Oder es „würde außerdem die Tür für private Investoren, staatliche Institutionen oder auch Krankenkassen, sich an Primärversorgungseinrichtungen zu beteiligen, weit aufgestoßen.“

„Die dort bezahlten Honorare sollen zukünftig auch nicht mehr Bestandteil des Gesamtvertrages sein. Die Folge wäre wohl massives Tarif-Dumping“

Überhaupt würden Ärzte „zu abhängigen Gesundheitsdienstleistern“ und reinen „Normunterworfenen“ degradiert

Dass alles „ist ein Mix aus ehemaliger DDR und US-amerikanischer Profitprivatisierung. Dieses US-DDR-Modell ist eine von privaten Konzernen und/oder der öffentlichen Hand geführte Miniambulanz, anonym und nicht unbedingt mit den engagiertesten oder mit gut bezahlten MitarbeiterInnen besetzt.“

Jedes irgendwie populistische und angstmachende Klischee wird bemüht, egal wie absurd oder gelogen!

Denn was steht wirklich im Entwurf?

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