Kognitive Dissonanz und Verdrängung

   Wer im 10. Stock aus dem Fenster springt, kann auf Höhe des 3. Stocks behaupten: Es ist eh nichts passiert.

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   Üblicherweise ist die kognitive Dissonanz ein unangenehmes Gefühl, das dann auftritt, wenn das, was man erlebt, im Gegensatz zu dem steht, was man erwartet. Das kann natürlich damit zusammenhängen, dass man eine sichere Erwartung hat, die absurd ist. Wer meint, er könne einen Ball in den Weltraum schießen, sollte erkennen, dass seine Meinung schlicht falsch ist, und keine kognitive Dissonanz entwickeln beziehungsweise dieses eben dadurch lösen, dass er die Gravitation anerkennt und damit seine Erwartungen anpasst. In vielen Fällen sollten die Selbstreflexion der eigenen Meinung und die Anpassung derselben an die Realität zur Lösung beitragen können.

   Anders ist es, wenn man sich mit dem österreichischen Gesundheitssystem beschäftigt. Wer sich hier mit realen Daten und Fakten beschäftigt und dann die Aussagen und Maßnahmen der Entscheidungsträger beobachtet, wird die kognitive Dissonanz nicht los.

Wenn etwa der Ärztemangel verkündet wird, obwohl wir pro Einwohner mehr Ärzte haben als jedes andere EU-Land, und die Forderung nach mehr Studienplätzen erhoben wird, auch wenn wir 60 Prozent mehr Absolventen haben als im EU-Schnitt – dann passt was nicht zusammen. Oder wenn Intensivbetten überfüllt sind, obwohl wir doppelt so viele Betten haben wie die meisten in der EU. Oder wenn Wartezeiten auf orthopädische Operationen länger sind als in Großbritannien, obwohl wir die meisten Orthopädiestationen pro Einwohner haben – dann passt was nicht zusammen. Oder wenn es keine Termine bei Kassenurologen gibt, obwohl wir doppelt so viele haben wie Deutschland. Oder wenn versprochen wird, dass im öffentlichen System alle alles auf allerhöchstem Niveau, immer und überall und kostenlos kriegen, aber Kinder unterversorgt sind – dann passt was nicht zusammen. Oder auch allgemeiner, wenn jahrzehntelang ständig davon gesprochen wird, dass wir das beste Gesundheitssystem der Welt haben, um das uns alle beneiden, aber niemand auf der Welt auch nur versucht, unsere zersplitterte Kompetenzlage nachzuahmen, ganz im Gegenteil. Oder wenn festgehalten wird, dass in unserem System die E-Card reicht und keiner die Kreditkarte braucht, obwohl wir seit vielen Jahren zu den Ländern zählen, die hohe Zuzahlungen und viele Zusatzversicherte haben – dann passt was nicht zusammen.

   Jede faktenfreie Behauptung und jede faktenfreie Maßnahme, denn von denen gibt es dank politischem Aktionismus ebenfalls unendliche viele, führt bei denen, die sich mit Daten und Fakten beschäftigen, zu einer kognitiven Dissonanz.

Die Frage ist: Warum funktioniert das alles im Politikgeschäft eigentlich? Es müssten ja doch irgendwie alle diese kognitive Dissonanz spüren. Ja, eigentlich schon – wenn da nicht die Geschichtenerzähler wären, die dem, der den Ball tritt, einreden, er solle nach dem Tritt sofort die Augen schließen, und ihm dann mit der Inbrunst der Überzeugung erklären, der Ball sei tatsächlich im Weltraum gelandet. Ja, auch so lässt sich eine kognitive Dissonanz lösen – mit realitätsverweigernder Verdrängung.

„Wiener Zeitung“ vom 25.05.2023  

Der plötzliche und nicht behebbare Ärztemangel

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   Wir werden das Problem nie wieder los – einfach, weil es politisch so probat ist.

   Halten wir fest: Etwa 10.000 österreichische Maturanten melden sich pro Jahr für den Medizinaufnahmetest „MedAt“ an, rund 7.500 nehmen tatsächlich teil. Zur Orientierung: Es gibt 20.000 AHS-Maturanten. Kann es sein, dass 7.500 Maturanten dafür brennen, Ärzte zu werden? Selbst in den stärksten Jahren bei freiem Zugang gab es selten mehr als 3.000 Studienanfänger. Warum soll ein Test Berufungen erhöhen?

   Die Zahl der Absolventen hat sich übrigens kaum verändert. Der „MedAt“-Tet hat die Drop-out-Quote gesenkt – sonst nichts. Seither haben mehrere Privatunis eröffnet. Und so ist die Zahl aller Anfänger mit mehr als 2.500 höher als zu Zeiten der Ärzteschwemme. Ab etwa 2025 werden wir jährlich mehr als 2.000 Absolventen haben – ein historischer Höchstwert, der 60 Prozent über dem EU-Schnitt liegt.

   Weil eine Medizinerausbildung mit etwa 400.000 Euro Steuergeld sehr teuer ist, wurden zwischen 1995 und 2010 regelmäßig Ärztebedarfsstudien erstellt. Jede hat deutlich weniger Ärzte als bedarfsnotwendig ausgewiesen, als es real Ärzte gab, also einen Ärzteüberschuss belegt – die Zeit der Ärzteschwemme.

   In den frühen 2000ern wurde gewarnt, wenn die Ausbildungskapazitäten nicht begrenzt würden, werde es tausende arbeitslose Ärzte geben. Damals ging man davon aus, dass es neben dem öffentlichen System, das ja verspricht, dass alle alles auf allerhöchstem Niveau bekommen, und zwar immer, überall und gratis, kein Parallelsystem geben könne. Eine Wahlarztversorgung wie heute schien absurd und keinesfalls erstrebenswert.

   Die Ärztekammer war damals die wichtigste Stimme, die vor der Ärzteschwemme warnte: Es sei zynisch, und man müsse nun endlich der laufenden Illusionszerstörung der Jugend ein Ende setzen. Es war die Zeit der taxifahrenden Jungärzte. Doch kammerintern beschäftigte man sich um 2005 mit einer anderen Frage: der Finanzierbarkeit der Wohlfahrtsfonds. Diese Pflichtzusatzpensionsfonds der Ärzte waren damals noch rein umlagefinanziert. Versicherungsmathematische Studien hielten fest, dass entweder Pensionen gekürzt oder Einnahmen erhöht werden müssten. Pensionskürzungen kamen nicht in Frage, die einzige Chance auf höhere Einnahme bestand und besteht aber nur darin, dass immer mehr Ärzte einzahlen.

   Um 2005/2006 kippten die Argumente der Ärztekammer von der Ärzteschwemme in den Ärztemangel – plötzlich und ansatzlos. Die Argumente, die 2014 zur Gründung der MedUni in Linz führten, nutzten diese versicherungsmathematischen Studien, interpretierten aber einen drohenden Ärztemangel hinein; mit Erfolg. Doch hat die zusätzliche Uni die Diskussion über den Ärztemangel beendet? Nein!

Noch merkwürdiger ist, dass die Ziele, die in diesen versicherungsmathematischen Studien genannt werden – also wie viele Ärzte zur Finanzierung der Wohlfahrtsfonds benötigt werden – übertroffen werden (2020: 48.000 vs. 45.000), doch auch das ohne Auswirkung auf den postulierten Ärztemangel.    Heute arbeiten rechnerisch um 50 Prozent mehr Ärzte am Patienten als im EU-Schnitt. Weil aber wesentliche Player politisch vom Ärztemangel gut leben, wird er uns erhalten bleiben.

„Wiener Zeitung“ vom 27.04.2023                            

Die Akademisierung der Gesundheitsberufe

   Oder: „Für was brauchen wir das? Das hat es ja noch nie gegeben.“

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   Wir schreiben das Jahr 1900: Der Garnisonsarzt aus dem örtlichen und seit Jahrhunderten bestehenden Spital geht ins fußläufige Lokal am Braunauer Stadtplatz. Er ist eigentlich Militärarzt, aber das Spital wurde nun an einen Orden übergeben, und so ist er jetzt Chirurg. Das liegt in der Familie, seit sein Urgroßvater an der Chirurgenschule in München ausgebildet wurde, waren alle Chirurgen, wobei allerdings erst sein Großvater dafür studierte.

   Im Lokal trifft er, wie erwartet, seinen langjährigen Freund, einen gestandenen Landarzt. Und als das zweite Bier getrunken ward, fragt der Chirurg, ob es denn wirklich nötig sei, dass Landärzte Matura und Studium brauchen. Er versteht nicht genau warum. Der Landarzt pflichtet ihm bei. Diese Akademisierung der Landärzte sei völlig unnötig. Er habe für seinen Job sowas noch nie gebraucht. (Landärzte waren damals angelernt!)

   Zeitsprung: Im Jahr 1970 schließt ein Landarzt seine Ordination, um sich mit einem Freund im Stadtcafé zu treffen. Früher war das ein Bierlokal, in dem sein Ururgroßvater schon saß. Der war auch schon Landarzt, hat das aber nicht studiert. Und als die beiden nach dem Verlängerten auf Cola-Rot umstiegen, fragt der Landarzt seinen Freund, ob es denn wirklich nötig sei, dass Zahnärzte Matura und Studium brauchen. Er versteht nicht genau warum. Sein Freund, der Dentist, versteht diese Akademisierung der Zahnheilkunde auch nicht. Er habe für seinen Job sowas noch nie gebraucht.

   Zeitsprung: Im Jahr 2025 setzt sich die Urururgroßenkelin des Garnisonsarztes neben ihren Mann, einen Dr.med.univ., ins Auto. Sie wollen alte Freunde treffen. Da in den 1990ern die beiden Familien herausgezogen sind, trifft man sich nun regelmäßig in der Pommerschen Schlosstaverne. Ihren Mann lernte sie kennen, als er den Turnus im Braunauer Spital machte. Danach wurde er Gemeindearzt mit allen Kassen, sie blieb im Spital und ist nun Oberschwester. Bei den Freunden, die sie treffen, handelt es sich um die Familie des eingesessenen Zahnarztes, der wegen einer Rechtsänderung nun sogar zwei Doktortitel trägt. Anders als sein Vater – der hatte nicht einmal studiert. Und wie Sie alle da so sitzen, der Hauptgang abserviert und die dritte Flasche Zweigelt zum Atmen geöffnet wird, stellt der Zahnarzt die Frage, ob es denn wirklich nötig sei, dass Krankenschwestern Matura und Studium brauchen.

Nach kurzem Stöhnen erklärt die Oberschwester, diese Akademisierung der Pflege sei völlig sinnlos. Sowas habe sie in ihrem Job noch nie gebraucht. Ihr Mann pflichtet ihr bei.   

Als alle in ihren Autos heimfahren, sicher zu betrunken für normale Bürger, aber für die regionale Prominenz noch völlig im Rahmen, erhalten beide Anrufe der Kinder: Der Sohn des Zahnarztes hat gerade die letzte Prüfung seines Masters in Advanced Nursing Practice geschafft. Die Tochter des Landarztes schickt vorab per WhatsApp den letzten Schein für ihre Ausbildung zur Fachärztin für Orthopädie und Traumatologie. Jetzt heißt es lernen für die Facharztprüfung, und sie will wissen, ob sie für einen Monat wieder zu Hause einziehen kann.

„Wiener Zeitung“ vom 30.03.2023 

Equip4Ordi und die Unschuld der Kammerpolitiker

Sicher ist, dass es in einer der Wiener Ärztekammer zugeordneten Firma, der ÄrzteEinkaufs-Service -Equip4Ordi GmbH, einen begründeten Verdacht von Malversationen gibt.

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Sicher ist auch, dass der jetzige Ärztekammerpräsident von Wien und Österreich, Johannes Steinhart, nicht als Beschuldigter geführt wird. Ebenfalls sicher ist, dass das Präsidium der Österreichischen Ärztekammer ausrückt, um für alle die Unschuldsvermutung zu reklamieren, und der Präsident höchstpersönlich verlautet, dass eine nicht näher genannte Gruppe eine angebliche Malversation in einer aus der Ärztekammer ausgelagerten GmbH für eine gezielte Intrige gegen ihn nutze.

Die ausgelagerte GmbH hat er bei der Gründung noch so angepriesen: „Wir bieten damit Kolleginnen und Kollegen für ihre Ordinationen eine benutzerfreundliche, einfache und professionelle Plattform, über die sie rasch und zu günstigen Preisen ihren gesamten Ordinationsbedarf abdecken können.

“ Das „Wir“ ist schon ein Hinweis auf eine Identifikation des damaligen obersten Vertreters der niedergelassenen Ärzte und jetzigen Präsidenten mit dieser Firma. Doch wofür braucht eine Pflichtvertretung so eine Firma? Ist es Aufgabe der Kammer, in den freien Markt einzugreifen? Ging sie davon aus, dass sie besser Preise verhandeln kann, weil sie auf einer Monopolmacht sitzt?

Warum auch immer, die Kammer ist für diese Firma nach außen aufgetreten. Doch wem gehört diese? Sie gehört nicht direkt der Kammer, und es ist auch nichts Ausgelagertes, weil es eben keine Aufgabe der Kammer ist, Händler zu sein. Es ist eine Verschachtelung diverser GmbHs, die am Ende eben auch die inkriminierte GmbH besitzt und an deren Anfang die Ärztekammer für Wien steht.

Kein vertrauenerweckendes Modell. Das sollte politisch Verantwortlichen schon auffallen, wenn sie denn Planstatt Marktwirtschaft probieren. Aber wer schmiedet da eigentlich eine persönliche Intrige?

Da gibt es den Investigativjournalisten Ashwien Sankholkar von „Dossier.at“. Dieser deckt regelmäßig Merkwürdigkeiten in der Ärztekammer auf. Etwa den mittlerweile wieder vergessenen 327,5-Millionen-Euro-Deal samt gewaltiger Provisionen rund um den Wiener Grabenhof. Und wenn ein Whistleblower dorthin Unterlagen schickt, die eine Straftat aufdecken könnten, ist das keine Intrige, selbst wenn es ohne hehre Absicht geschieht.

Wie also kann jemand das als Intrige gegen die eigene Person empfinden? Denknotwendig doch nur, wenn in der Kammer jeder etwas zu verbergen hat und es ein Agreement gibt, dass alle den Mund halten. Der moralische Standard ist also: Jeder deckt den anderen bei seinen Straftaten? Wenn das so wäre, dann träfe es jene, die seit Jahrzehnten in führenden Positionen sind und vom Wohlfahrtsfondsskandal der 2000er Jahre über Gerüchte, wie Koalitionen und Stimmen gekauft werden, um die eigenen Positionen zu festigen, bis zu den Wahlbetrugsvorwürfen im vorigen Jahr alles politisch überlebt haben, hart und persönlich.

Aber wenn das wirklich wahr sein sollte, dann hat dieses Kammerverhalten einfach die Grenzen erreicht, an der Korruption eben aufbricht. Das ist nichts Persönliches

„Wiener Zeitung“ vom 23.02.2023

Die kognitive Dissonanz in der Gesundheitspolitik

   Gesundreden, Ausreden und den Schwarzen Peter weiterschieben, bis man selbst an die eigene Fiktion glaubt – oder österreichische Gesundheitspolitik.

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   Vorige Woche gab es im ORF-„Report“ zwei Berichte zu Gesundheitssystemen: erst aus Österreich, dann aus England.

   Ersterer titelte „Notfall Gesundheitssystem“ zweiterer „Britischer Kollaps“. Ersterer zeigte eine lange Warteschlange vor einem Kassenaugenarzt, zweiterer eine Frau, die sich Zähne selbst zog, weil sie keinen Zahnarzttermin bekam. Beide zeigten also irgendwie das Gleiche und sollten eigentlich auch das Gleiche illustrieren.

   Auskenner wissen, dass genau genommen Ersteres ein Beispiel, Zweiteres eine Anekdote ist – aber sei’s d’rum. Wesentlich ist eher die politische Reaktion von Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne), der zu beiden Berichten befragt wurde. In Österreich sieht er eine angespannte Situation, und wenn er es nicht schafft, alle an einen Tisch zu holen, droht, dass nicht mehr „E-Card statt Scheckkarte“ gilt und unser gutes Gesundheitssystem an die Wand fährt. Für England weiß er, dass der Kollaps die Folge der Privatisierung sei, von der wir weit entfernt seien.

   Beeindruckend, diese kognitive Dissonanz. Die Warteschlange hier ist weit entfernt von den fehlenden Terminen dort. Und noch mehr, die E-Card hier und die Scheckkarte dort macht den Unterschied.

   Scheckkarte? Etwas, das praktisch keiner unter 50 Jahren kennt, wer schreibt noch Schecks aus? Aber die Zielgruppe ist ja eher 65 plus. Der Sager „E-Card statt Scheckkarte“ ist übrigens plagiiert, auch wenn das Original aus den frühen 2010er Jahren moderner war und eine Kreditkarte nannte. Notabene wurde auch der An-die Wand-Sager plagiiert. Der stammt von Hans-Jörg Schelling, der ihn 2010 als Hauptverbandschef zur Einstimmung des damaligen „Reformvorhabens“ in den Ring warf.

   Wie dem auch sei, wenn Scheckkarte für Privatausgaben steht, sind die bei uns höher als in England. Wenn also irgendwo die Scheckkarte nötiger ist, dann eher bei uns als dort. Bei uns hat fast jeder zweite Erwachsene eine Privatkrankenversicherung, dort nur jeder zehnte.

   Wenn diese Aussagen nicht auf Einbildung zurückgeführt werden können, die das Ergebnis des dauernden Gesundredens, der Ausredens und des Weiterschiebens des Schwarzen Peters ist, müssen die Aussagen als Lüge aufgefasst werden.

   Aber auch das ist belanglos. Sicher ist nur, dass es Österreichs Gesundheitssystem geschafft hat, sich Jahrzehnte aus jedem Reformansatz herauszuwinden. Die Folge ist eine enorme Ineffektivität. Denn obwohl wir so ziemlich die meisten Arztkontakte und Spitalsaufnahmen haben, erzeugt unser System viel zu wenig Gesundheit – was dazu führt, dass die Älteren viel mehr Medizin, Pflege und Betreuung brauchen als in den meisten anderen Ländern. Wenn jetzt die Babyboomer in das Alter kommen, in dem aus Wehwehchen Wehs werden, und die gleiche Inanspruchnahme wie die heutigen „Alten“ brauchen, dann wird es krachen.

   Andere Länder bereiten sich seit Jahrzehnten auf diese Entwicklung vor, und von dort wissen wir, dass es wenigstens ein Jahrzehnt braucht, bis Reformen greifen; doch das ist für die Babyboomer dann zu spät. Also wird es wohl anders werden – mit noch mehr „nicht vorhandener“ Privatmedizin und noch größerer kognitiver Dissonanz.

„Wiener Zeitung“ vom 26.01.2023

Jetzt aber alle an einen Tisch!

Vorsicht, Sarkasmus – mit deutlichen Zügen verdrossener Gemütsstimmung.

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   Trotz verschiedenster Bemühungen um eine verstärkte Koordinierung und Angleichung der Interessen mussten wir feststellen, dass das österreichische Gesundheitssystem aufgrund seiner vielschichtigen Verwaltungsstruktur und dualen Finanzierung komplex und fragmentiert ist.

   Besonders die Aufteilung der Finanzierung von intra- und extramuralen Leistungen zwischen den Bundesländern und Sozialversicherungen kann die Betreuungskontinuität beeinträchtigen und zu Kostenverschiebungen führen. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass zurzeit die Gesundheitsergebnisse innerhalb der Bevölkerung schlechter und die Gesamtkosten höher ausfallen, als dies in einem koordinierten System der Fall wäre.

   So die Worte einer Studie des Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2018. Was waren diese Bemühungen? Da gab es den Kooperationsbereich, der um 2000 eingeführt wurde. Er wurde in den Reformpool umgewandelt, in dem jeder (Länder und Krankenkassen) 1 Prozent seines Umsatzes einspielen sollte, um gemeinsame Projekte zu realisieren. Dazu wurden Landesgesundheits-Plattformen und die Bundesgesundheits-Agentur geschaffen, die, einem gesetzlichen Auftrag aus den 1990ern folgend, eine gemeinsame Sichtweise für das gesamte Gesundheitssystem schaffen sollte.

   Diese waren ebenso erfolglos wie die Reformpool-Projekte. Also musste was Neues her. Eifrig wurde reformiert und das Zielsteuerungs-Gesetz aus der Taufe gehoben – gut verwaltet von Landes-Zielsteuerungskommissionen und der darüber schwebenden Bundeszielsteuerungskommission, in der alle (Länder und Krankenkassen) gemeinsam das System anhand von konkreten Zielen steuern sollten. Hehre Ziele wurden in Verträgen festgelegt, und es gab ÖSGs, RSGs, LAP, ÜRVP, DIAG, LEICON und PVEs.

   Aber offenbar wurde dabei etwas Wesentliches vergessen: Die Partner saßen nicht an einem Tisch.

   Zwar dürfte es bis 2007, solange war ich dabei, einen gemeinsamen, immer sehr großen Tisch gegeben haben, aber danach eben immer seltener. Anders wäre der neueste Vorschlag von Gesundheitsminister Johannes Rauch kaum zu verstehen, wenn er meint, dass er „alle Player“ an einen Tisch bringen will.

   Wer hätte gedacht, dass es so simpel sein kann! Einfach diesen vielen Gremien einen Tisch sponsern – und schon halten sich alle an Gesetze und Verträge. Klar könnten einige meinen, dass das Ministerium als Aufsichtsbehörde auch mittels transparenter Berichterstattung, wie seit 20 Jahren gesetzlich vorgesehen, einfach offenlegt, wie wenig sich „alle Player“ an eigene Gesetze und Verträge halten, und das dann auch kommunizieren. Aber die verstehen Politik nicht.

   2023 kommt einmal der Tisch, oder auch zehn Tische. Um 2035 werden dann Stühle angeschafft. So gegen 2050 wird es so weit sein: „Alle Player“ haben eine gemeinsame Sicht des Gesundheitssystems entwickelt, es wird aus 15 Krankenkassen, einer AUVA, 9 Ländern und 10 Ärztekammer bestehen, die über 34 Säulen finanziert werden. Die Säulen werden ohne Murren vom Bund „gefüllt“ – der das Geld in Plantagen auf eigenem Grund zieht.

„Wiener Zeitung“ vom 29.12.2022   

Die Notfallambulanz ist für Notfälle da – eigentlich

   Ein ganz normaler Vormittag in einem ganz normalen Spital.

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   Die Notfallambulanz eines großen Spitals an einem Vormittag unter der Woche: Eine Ärztin (!) kommt mit ihrer Mutter, die seit mehreren Monaten (!) offensichtlich in einem Prozess des Absinkens in die Demenz ist. Sie meint, die Mutter „zittere“ immer so, wenn sie was vergesse oder Dinge verlege. Das gehöre einmal angesehen. „Ich bin eh vom Fach.“ Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall.

   Eine stark übergewichtige Frau, klagt, seit Wochen (!) „nix mehr essen zu können“. Sie habe das Gefühl, nicht mehr gut schlucken zu können. Das sei nicht normal. Was könne das denn sein? Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall.

   Ein Mann mit einer einige Tage (!) alten Einweisung vom Hausarzt in die Notfallambulanz sagt auf die Frage, warum er nicht sofort gekommen sei, wenn es ihm denn so schlecht gehe (auf dem Einweisungsschein steht etwas Bedrohliches – wohl eine Übertreibung des niedergelassenen Arztes, um den Patienten loszuwerden): „Über das Wochenende und den Zwickeltag tut ihr ja sowieso nix!“ Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall – dafür eine Beleidigung.

   Eine Frau kommt sitzend mit der Rettung (!), weil ihr Ellenbogen seit Tagen (!) wehtut. Mit der Tasche in der Hand auf beiden Beinen (gesund) sucht sie sich im Warteraum den besten Platz (mit Blick zum Fernseher). Zu den Untersuchungen will sie mit dem Transportdienst herumgefahren werden. Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall.

   Ein alter Mann mit schwerer Demenz kommt mit Gattin, die ihn daheim versorgt. Der Frau ist mehr oder weniger bewusst, dass für sie die Versorgung kaum noch zu schaffen ist, vor allem nicht die Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr. (Noch) kein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall – dafür eine Sozialaufnahme.

   Ein Mann mit einer Einweisung vom Hausarzt in die Notfallambulanz kommt wegen Knieschmerzen. Das Knie zeigt keinerlei Entzündungszeichen. Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall.

   Dann kommt ein Mann mit Hautausschlag am Rumpf: „Den hab ich schon lange!“ – „Wieso gehen Sie nicht zum Hautarzt?“ – „Da bekomme ich den Termin im Jänner!“ „Haben Sie überhaupt angerufen und gesagt, dass es dringend ist und sie auch Wartezeiten in Kauf nehmen?“ Er sei jetzt da, und überhaupt, was bilden wir uns überhaupt ein, solche Fragen zu stellen? Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, also definitiv kein Notfall – dafür aber eine weitere Beleidigung.

   Dazwischen kommen zwei Rettungen mit echten Akutfällen, die nur schwer im niedergelassenen Bereich behandelt hätten werden können – naja, eigentlich nicht, weil ein Fall ein Kreislaufkollaps (ohne Ohnmacht) bei einem Mann ist, der an diesem Tag als Verkäufer begonnen hat – das viele Stehen halten nicht alle gleich von Anfang an aus. Dann ist der Vormittag vorbei – und alle die dort gearbeitet haben, fragen sich: Was genau macht eine Notfallambulanz eigentlich aus?

   Und nein, das ist keine dichterische Freiheit, sondern ein Report.

„Wiener Zeitung“ vom 24.11.2022  

Ein Facharzt für Allgemein- und Familienmedizin

  Die Rolle der „Hausärzte“ im Gesundheitswesen ist bis heute schwammig.

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   Warum die Einführung eines Facharztes für Allgemein- und Familienmedizin eine Weiterentwicklung des Gesundheitswesens sein könnte, versteht kaum jemand – sie könnte es aber tatsächlich sein. Aktuell ist der Allgemeinmediziner ein völlig undefiniertes Wesen – überspitzt formuliert, darf er praktisch alles. Das kommt aus der Nachkriegszeit, als Österreich viele Ärzte hatte. Im Krieg waren viele gebraucht und quasi am Fließband ausgebildet worden. Nach dem Krieg gab es daher einen Überschuss.

   Was aber damals wie heute ein Problem war, war die flächendeckende Versorgung mit Fachärzten. Und so hat man den „Hausärzten“ eben alles erlaubt. Sie hatten Röntgengeräte, führten Geburten und Abtreibungen durch, operierten in Vollnarkose etc. Mit dem „Dr. der gesamten Heilkunde“ oder eleganter „Dr. medicinae universae“ war praktisch das Recht verbunden, so gut wie alles zu tun.

   Spätestens ab den 1970ern, als Forschung und Spezialisierung zunahmen, war das eigentlich obsolet. Aber eben nur eigentlich. Denn wir ändern nur ungern etwas. Der „Dr.med.univ.“ ist daher auch heute noch ein undefinierter „Alleskönner“ und „Allesmacher“ ohne klares Profil oder klare Rolle im Gesundheitswesen. Und so darf es nicht verwundern, dass sich die meisten mit Homöopathie, Ästhetischer Chirurgie, TCM und was sonst noch verdingen. Ein Blick auf die Leistungsangebote der „Hausärzte“ zeigt das deutlich. Und nur so nebenbei: Es gibt davon etwa 14.000, aber nur 4.000 davon haben einen Kassenvertrag – 10.000 wollen keinen, weil das System nicht weiß, was es von ihnen will, und es besser ist, sein eigenes Ding zu machen.

   Was auf der Strecke blieb, war die Entwicklung einer modernen Gesundheitsversorgung. Und um nun eine solche zu ermöglichen, wäre ein Schritt, die Ausbildung, Kompetenz und Rolle der „Hausärzte“ im Gesundheitswesen zu definieren. Eine Facharztausbildung macht das möglich – auf den ersten Blick – und nur auf den ersten.

   Denn wenn wir uns anhören, was der „neue“ Facharzt für Allgemein-und Familienmedizin alles machen soll (das Aufgabengebiet umfasst die primäre Gesundheitsversorgung, insbesondere die ganzheitliche, kontinuierliche und koordinative medizinische Betreuung; beinhaltet ist die Gesundheitsförderung, Krankheitserkennung und Krankenbehandlung einschließlich der Einleitung von Rehabilitations-und Mobilisationsmaßnahmen aller Personen, unabhängig von Alter, Geschlecht und Art der Erkrankung, unter Berücksichtigung des Umfelds der Person, der Familie, der Gemeinschaft und deren Kultur), wird sofort klar, dass dafür eine Verfassungsänderung nötig wäre. Ja, eine Verfassungsänderung, weil praktisch für jede einzelne Aufgabe im System jemand anderer zuständig ist. Die Fragmentierung des Systems lässt nicht zu, dass so ein Facharzt seine Aufgaben erledigt. Das weiß der Gesundheitsminister natürlich – und alle anderen, die das so beschlossen haben, wissen es auch.

   Wagen wir einen zweiten Blick, erkennen wir: Mit dieser Reform wird die verpflichtende Ausbildungszeit der Jungärzte im Spital wie auch in der Lehrpraxis länger. Und weil Lehrjahre keine Herrenjahre sind, wird am Ende also nur die billige Arbeitskraft junger Ärzte mehr. Das ist sicher keine Weiterentwicklung, aber trotzdem ein tolles Ziel für Politiker

„Wiener Zeitung“ vom 27.10.2022 

Kritik wird einfach abgeblockt

   Die Gräben im Gesundheitssystem sind unüberbrückbar.

   Seit 15 Jahren missioniere ich in Österreich. Seit gefühlt tausenden Jahren predige ich vor allem zwei Dinge:

   Beendet die Sprachverwirrung!

   Seid selbstkritisch.

   Recht viele Anhänger konnte ich nicht gewinnen, vor allem nicht bei den Entscheidungsträgern innerhalb der vielen Organisationen, die alle als Vetomächte auf- und Klientelinteressen ver-treten.

Deswegen soll ich mich eigentlich nicht ärgern, wenn ich wieder einmal so etwas lesen muss: „Wir schaffen es einfach nicht, unser Versorgungssystem als Ganzes zu denken. Wir haben im niedergelassenen Bereich eine ineffiziente Versorgung, folglich landen viel zu viele Fälle unnötigerweise im Spital“, erklärte jüngst ein Public- Health-Experte.

Die Ärztekammer reagierte so: „Wir weisen Ihre pauschale Behauptung, dass die Versorgung im niedergelassenen Bereich ineffizient wäre, auf das Schärfste zurück; diese Aussage zieht die niedergelassene Ärzteschaft in Misskredit. Gerade die niedergelassenen Ärzt:innen versorgen sehr effizient, jedoch gibt es ineffiziente Versorgungsstrukturen, welche systembedingt sind und dringend reformiert werden müssen. Nur durch den täglichen persönlichen Einsatz der niedergelassenen Ärzteschaft mit ihren Ordinationsteams wird verhindert, dass die Spitäler nicht noch mehr aus allen Nähten platzen.“

   Die Aussage, dass der niedergelassene Bereich ineffizient versorgt, ist nun einmal evidenzbasiert und sagt nichts über die Arbeit der niedergelassenen Ärzte aus. Effektive Versorgung bedeutet, „den richtigen Patienten zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle“ einer Behandlung zuzuführen. Die Arbeit des Arztes ist die Behandlung. Wenn die Versorgung als wenig effektiv bezeichnet wird, dann heißt das nur, dass – gemessen an den dafür üblichen Parametern (allgemeine und krankheitsspezifische Spitalshäufigkeit, die europaweit spitze ist) – die Patienten zu selten am richtigen Ort behandelt werden. Und weil wir viele niedergelassene Ärzte haben (die Dichte aller niedergelassenen Ärzte ist, bei Berücksichtigung aller Schwierigkeiten des Vergleichs, europaweit ebenfalls spitze), ist der Bereich eben ineffizient – daran kann man nicht rütteln. Egal, wie effizient die einzelnen Ärzte auch behandeln mögen.

Wenn man sich jedoch der Begriffsverwirrung hingibt und Behandlung mit Versorgung synonym verwendet, wird aus einer richtigen Analyse plötzlich ein persönlicher Vorwurf. Und statt dieser Begriffsverwirrung Einhalt zu gebieten, kommt der Reflex der Ärztekammer, die sich pauschal schützend vor die Ärzte stellt.

   Es mag sein, dass die Ärzte effizient behandeln – darüber haben wir keine gesicherte Information, weil die Ärztekammer seit Jahrzehnten jegliche vergleichbare Dokumentation der Leistung der Ärzte ablehnt, etwa die Codierung der Krankheiten der behandelten Patienten nach einem einheitlichen Standard oder die Bereinigung der Leistungskataloge nach sinnvollen Grundsätzen. Damit ist die Behauptung der „effizienten Behandlung“ einfach nur eine Behauptung – und ändert nichts daran, dass die Versorgung nachweislich schlecht ist.

Doch wie soll sich etwas ändern, wenn Kritik, dass wir es nicht schaffen, das „Versorgungssystem als Ganzes“ zu betrachten, sofort aufs Schärfste zurückgewiesen wird?

„Wiener Zeitung“ vom 29.09.2022 

Wahlärzte und Ärztemangel

   Wir bilden immer mehr Mediziner aus – aber sie fehlen uns trotzdem.

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   Seit wenigstens 25 Jahren versuchen Experten vergeblich zu erklären, dass es auch hierzulande nötig ist, sich ernsthafte Gedanken über den Bedarf an Ärzten zu machen. Stattdessen wird über Wahlärzte gefeilscht. Diese – in Europa einzigartige – Spezies, die im öffentlichen Gesundheitssystem arbeitet, ohne richtig dazuzugehören, ist eine tolle Verhandlungsmasse: Wie soll man deren Versorgungswirksamkeit bewerten? Immerhin ist ein Viertel aller Ärzte dieser Spezies zuordenbar. Und je nachdem, wie wichtig oder unwichtig sie für die Versorgung angenommen wird, umso mehr (je nach Sichtweise Ärzte, Universitätsplätze, Kassenstellen, Ausbildungsstellen, immer aber Geld) braucht man.

   Die Ärztekammer ist der Meinung, alle Wahlärzte seien notwendig, und hat in einer eigenen etwa 15 Jahre alten Studie, deren Prognosezeitraum jetzt erreicht wird, gemeint, in Zukunft wäre pro 180 Einwohner ein Arzt nötig. Das haben wir fast erreicht – allerdings ohne den Mangel zu beheben. Ärztemangel und Unterversorgung wären nur abwendbar, wenn wir sofort 100 Ärzte mehr pro Jahr ausbilden, und das haben wir getan. Die Zahl der Ärzte steigt und steigt (auf das 1,3-Fache des EU-Schnitts), aber der Mangel bleibt. Der eigentliche Hintergrund dürfte sein, dass das Ärztepensionssystem (Wohlfahrtsfonds) pleitegeht, wenn nicht immer frische Zahler ins Pflichtsystem gespült werden.

   Und da kommen die Länder mit dem Wunsch nach Studienplätzen. Dank der Vorgabe des „Ärztemangels“ hat es Linz geschafft, eine MedUni zu kriegen – neue Universitäten in diversen Bundesländern, die neben Prestige auch frisches Geld aus Wien versprechen, sind sehr beliebt. Diese Uni – und die seitdem neu entstandenen Privatunis – konnten die Absolventenzahl auf das 1,6-Fache des EU-Schnitts heben, aber den Mangel nicht ausgleichen – die Zahl der Absolventen steigt und steigt, der Mangel bleibt.

   Und nun kommen die Kassen. Diese sind verpflichtet, jedem Versicherten ausreichend Kassenärzte zur Verfügung zu stellen. Wenn wirklich die Wahlärzte für die Versorgung nötig sind, dann müsste die Zahl der Kassenverträge seit langem und in Zukunft noch deutlicher steigen. Tut sie aber nicht. Seit 1995 bleibt die Zahl gleich. Die Kassen gehen davon aus, dass Wahlärzte nicht oder in nur sehr geringem Umfang nötig sind, und setzen deren Versorgungswirksamkeit mit wenigen Prozent eines Kassenarztes an. Sie sind also eine Art Luxus-Überschuss. Ein paar „Versorgungswirksame“ sollten zu einem Kassenvertrag verpflichtet werden, und der Rest sei abzuschaffen. So etwas konterkariert das Mangel-Narrativ. Und irritiert gleich noch mehr: nämlich die Ärztekammer.

   Die sitzt im Dilemma: Einerseits sollen die Kassenkuchenstücke nicht durch mehr Kassenärzte kleiner werden, andererseits braucht es eben mehr Ärzte für das Ärztepensionssystem – logischer und altbekannter Schluss, den alle lieben: Es braucht mehr Geld. Und so verhandeln die staatlichen Interessengruppen um die Wahlärzte, denn dort ist der Hebel, wie man jede gewünschte Zahl errechnen kann. Es waren und werden diese Wahlärzte sein, die, unabhängig von der Realität, genauso bewertet werden, dass möglichst alle Interessen befriedet werden.   

Ach ja, falls Ihnen, werte Leser, das bekannt vorkommt – abgesehen von ein paar Kleinigkeiten stand das so schon vor elf Jahren an dieser Stelle.

„Wiener Zeitung“ vom 25.08.2022