Ohne Krankheiten zum ewigen Leben

Täg­lich er­fah­ren wir, wie wir ge­sün­der leben kön­nen; das ist gut! Aber immer schwingt mit, dass, wenn Krank­hei­ten ver­hin­dert wer­den, ewi­ges Leben winkt; das ist Blöd­sinn!

Herr M. las un­längst, dass die Un­ter­su­chung eines im Blut zir­ku­lie­ren­den An­ti­kör­pers gegen be­stimm­te Pro­te­ine, die in der Pro­sta­ta zu fin­den sind (PSA-Test), die Über­le­bens­wahr­schein­lich­keit um 20 Pro­zent hebt. Herr M. ist Rau­cher, über­ge­wich­tig und 62 Jahre alt. Er geht nächs­tes Jahr in Pen­si­on, und wenn ein ein­fa­cher Test, der noch dazu gra­tis ist, sei­nen Tod gleich um ein Fünf­tel ver­hin­dern kann, dann ist das super. Au­ßer­dem weiß er ja, dass Pro­sta­ta­krebs ein sehr häu­fi­ger Krebs ist. Ir­gend­wo hat er ge­le­sen, dass jeder sechs­te Mann daran er­krankt. Das zu ver­hin­dern ist si­cher keine schlech­te Idee.

Er lässt den Test ma­chen.

Was er al­ler­dings nicht weiß, und ihm auch nie­mand so rich­tig er­klärt, ist, dass er das Ge­le­se­ne kaum rich­tig ver­stan­den hat. Denn so ein PSA-Test ver­län­gert nicht das Leben. Ganz und gar nicht. Die Über­le­bens­wahr­schein­lich­keit wird nicht um 20 Pro­zent er­höht, was pas­siert, ist, dass die Wahr­schein­lich­keit an Pro­sta­ta­krebs zu ster­ben um 20 Pro­zent sinkt. Auch wenn das ganz toll klingt, ist das für ihn ver­mut­lich nicht re­le­vant. Denn, von den 35.156 männ­li­chen Ein­woh­nern die 2008 ge­stor­ben sind, sind ge­ra­de ein­mal 1.187 (3,4 Pro­zent) an Pro­sta­ta-Krebs ge­stor­ben (un­ge­fähr so viele wie sich um­brin­gen). Hät­ten alle einen PSA-Test durch­füh­ren las­sen, dann wären viel­leicht von den 35.156 Ver­stor­be­nen statt 1.187 nur 1.000 an Pro­sta­ta-Krebs ge­stor­ben.

Das heißt aber nicht, dass die an­de­re 187 Män­ner län­ger ge­lebt hät­ten. Denn die Stu­di­en zur Ge­samt­über­le­bens­zeit zei­gen zwi­schen denen, die sich tes­ten las­sen und denen, die das nicht tun, kei­nen Un­ter­schied. Und um es klar aus­zu­drü­cken, für etwa 34.000 Män­ner wäre es je­den­falls un­er­heb­lich ge­we­sen, ob sie den Test ma­chen hät­ten las­sen oder nicht.

Am Ende ist der Tod durch Pro­sta­ta-Krebs un­be­deu­tend – auch wenn es für den ein­zel­nen, der daran stirbt, si­cher ein Drama ist. Sich ge­ne­rell vor ihm zu fürch­ten ist neu­ro­tisch. Und Herr M. wird wahr­schein­li­cher an den Fol­gen sei­nes Le­bens­wan­dels (Über­ge­wicht und Rau­chen) ster­ben, als an sei­ner Pro­sta­ta. Der Test wird sein Leben nicht ver­län­gern, we­nigs­tens nicht nach­weis­lich. Die Angst vor dem Krebs wird aber mit jedem Test (man macht ihn ja re­gel­mä­ßig) stei­gen und wenn das Er­geb­nis kei­nen Krebs nach­weist, ihn in einer nicht rea­len Si­cher­heit wie­gen.

Die Strei­te­rei­en, ob die­ser Test nun sinn­voll ist oder nicht, sind end- und gren­zen­los. Aber darum geht es ja gar nicht. Es geht darum, dass es mitt­ler­wei­le tief in un­se­rem Den­ken ent­hal­ten ist, dass, wenn wir nur alle Krank­hei­ten hei­len, uns ewi­ges Leben winkt. Ich will jetzt nicht zy­nisch klin­gen, aber trotz aller me­di­zi­ni­scher Kunst hat noch nie­mand über­lebt.

Na­tür­lich ist es leicht, von die­ser Stel­le aus zu be­haup­ten, „Fürch­tet euch nicht“, egal was euch ge­sagt wird. Aber es ist so. Jeden Tag er­zäh­len uns Ak­teu­re des Ge­sund­heits­sys­tems, wie krank wir sind und wie wir Hei­lung er­war­ten kön­nen. Und wir glau­ben es nur allzu gerne.

Es wird aber Zeit zu er­ken­nen, dass wir je­den­falls ster­ben müs­sen. Ver­hin­dern wir den Herz­in­farkt, wird uns der Krebs töten, ver­hin­dern wird den auch, dann wird an seine Stel­le viel­leicht de­men­ti­el­les Siech­tum tre­ten. Wie immer wir es dre­hen, wir sind sterb­lich. Ein Ge­sund­heits­sys­tem soll­te uns hel­fen, so­lang wie mög­lich ge­sund und glück­lich zu leben, aber uns ewig auf Erden wan­deln zu las­sen, das ist ab­surd. Daher soll­te diese Idee auch of­fi­zi­ell un­ter­sagt wer­den.

Die­ser Ar­ti­kel wurde im April 2010 in ähn­li­cher Form in der Wie­ner Zei­tung ver­öf­fent­licht.