Ethikdiskussionen werden wieder modern – und bleiben traditionell ungelöst.
Werte p.t. Leser! Erlauben Sie mir ausnahmsweise einen rein theoretischen Aspekt des Gesundheitssystems zu betrachten, bei dem es sich um die Frage dreht: Ist der einzelne mehr Wert als das Ganze oder ist das Ganze wichtiger als der einzelne?
Die Wertegemeinschaft Europa ist aus vagabundierenden Völkern entstanden, die sich niederließen und Nationen bildeten. Die Gesellschaft war militärisch. Eine militärische Gesellschaft kennt zwei wesentliche Ausprägungen: die Uniformierung, die eine Kollektivierung ist, und die strenge Hierarchie der Befehlskette.
Dass diese militärischen Wertvorstellungen noch immer existieren, kann man leicht erkennen. Staatoberhäupter verneigen sich vor nationalen Fahnen, die wie Feldzeichen von Soldaten gehalten werden. Im Wahlkampf werden die Parteisoldaten gestählt. Rededuelle finden statt und Strategien werden geschmiedet. All das zeigt, wie weit wir von einer zivilen Gesellschaft entfernt sind, und wie tief die alten Völker in unseren Knochen stecken. Solange die Völker wanderten, waren dieses Werte wichtig. Konnte man doch so die Sicherheit aller erhöhen, auch wenn man dazu die Freiheit des einzelnen einschränken musste.
Durch die Sesshaftwerdung und die Möglichkeit, „bauliche“ Sicherheitsmaßnahmen (Burgen und Stadtmauern) zu ergreifen, wurde die Bedeutung der Befehlskette und der Kollektivierung geringer. Die Fürsten und Herzöge brauchten für ihre Entscheidungen, sollten sie nicht nach Willkür aussehen, höhere Rechtfertigungen – und diese suchte man in Gott (Gottesgnadentum).
In den letzten tausend Jahren verbreitete sich das Christentum und brachte christliche Wertvorstellungen ein. Diese sind jedoch alles andere als kollektivistisch oder hierarchisch. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst ist eine individuelle Forderung. Und da jeder sein Leben als Geschenk Gottes betrachten muss, ist sein Wert direkt an Gott gebunden und damit „unbezahlbar“. Der einzelne kann es nicht verkaufen und hat darauf zu achten, das Beste aus dem Leben zu machen.
Ein solches Gerüst lässt es nicht zu, dass ein Mensch über das Leben des anderen entscheidet – außer (und dieses Argument steht auf sehr dünnen Beinen) ein Vertreter Gottes auf Erden interpretiert den Willen Gottes. Und um diese Vertreterrolle kämpfen seit tausend Jahren Priester und politische Eliten.
So haben wir beide Traditionen. Hier die eine, streng militärisch agierende Elite, von der das Volk erwartet, moralisch richtige Entscheidungen zum Wohle des Ganzen zu treffen und dafür „gehorsam“ (Parteitreue) gelobt. Und dort den Individualismus, der konsequent den einzelnen in die Pflicht nimmt und jeglichen Ungehorsam verlangt, wenn Entscheidungen mit dem Gewissen nicht vereinbart werden können. Dazwischen liegt wohl das weite Feld des Populismus.
Solange Kriege geführt wurden, konnte dieser Widerspruch der Werte unbeachtet bleiben. Doch heute, nach Jahrzehnten des Friedens, taucht er auf und bestimmt jeden Tag stärker das politische Geschehen. Und so schließt sich der Bogen: Wer darf auf welcher Basis sagen, was ein Mensch der Gesellschaft Wert sein muss? Wer darf festlegen, wie viel Freiheit dem einzelnen (z.B. über Steuern) genommen werden darf, um die Gesamtheit zu schützen? Und letztlich auch, wer darf entscheiden, wer welche Gesundheitsversorgung durch wen erhält? Weil wir aber konklusive Wertediskussionen verabscheuen, werden wir wohl keine Antworten finden.
Dieser Artikel wurde im November 2008 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.