Die Akademisierung der Gesundheitsberufe

   Oder: „Für was brau­chen wir das? Das hat es ja noch nie ge­ge­ben.“

Wei­ter­le­sen: Die Aka­de­mi­sie­rung der Ge­sund­heits­be­ru­fe

   Wir schrei­ben das Jahr 1900: Der Gar­ni­sons­arzt aus dem ört­li­chen und seit Jahr­hun­der­ten be­ste­hen­den Spi­tal geht ins fuß­läu­fi­ge Lokal am Brau­nau­er Stadt­platz. Er ist ei­gent­lich Mi­li­tär­arzt, aber das Spi­tal wurde nun an einen Orden über­ge­ben, und so ist er jetzt Chir­urg. Das liegt in der Fa­mi­lie, seit sein Ur­groß­va­ter an der Chir­ur­gen­schu­le in Mün­chen aus­ge­bil­det wurde, waren alle Chir­ur­gen, wobei al­ler­dings erst sein Groß­va­ter dafür stu­dier­te.

   Im Lokal trifft er, wie er­war­tet, sei­nen lang­jäh­ri­gen Freund, einen ge­stan­de­nen Land­arzt. Und als das zwei­te Bier ge­trun­ken ward, fragt der Chir­urg, ob es denn wirk­lich nötig sei, dass Land­ärz­te Ma­tu­ra und Stu­di­um brau­chen. Er ver­steht nicht genau warum. Der Land­arzt pflich­tet ihm bei. Diese Aka­de­mi­sie­rung der Land­ärz­te sei völ­lig un­nö­tig. Er habe für sei­nen Job sowas noch nie ge­braucht. (Land­ärz­te waren da­mals an­ge­lernt!)

   Zeit­sprung: Im Jahr 1970 schließt ein Land­arzt seine Or­di­na­ti­on, um sich mit einem Freund im Stadt­café zu tref­fen. Frü­her war das ein Bier­lo­kal, in dem sein Ur­ur­groß­va­ter schon saß. Der war auch schon Land­arzt, hat das aber nicht stu­diert. Und als die bei­den nach dem Ver­län­ger­ten auf Co­la-Rot um­stie­gen, fragt der Land­arzt sei­nen Freund, ob es denn wirk­lich nötig sei, dass Zahn­ärz­te Ma­tu­ra und Stu­di­um brau­chen. Er ver­steht nicht genau warum. Sein Freund, der Den­tist, ver­steht diese Aka­de­mi­sie­rung der Zahn­heil­kun­de auch nicht. Er habe für sei­nen Job sowas noch nie ge­braucht.

   Zeit­sprung: Im Jahr 2025 setzt sich die Ur­ur­ur­groß­enke­lin des Gar­ni­sons­arz­tes neben ihren Mann, einen Dr.​med.​univ., ins Auto. Sie wol­len alte Freun­de tref­fen. Da in den 1990ern die bei­den Fa­mi­li­en her­aus­ge­zo­gen sind, trifft man sich nun re­gel­mä­ßig in der Pom­mer­schen Schloss­t­aver­ne. Ihren Mann lern­te sie ken­nen, als er den Tur­nus im Brau­nau­er Spi­tal mach­te. Da­nach wurde er Ge­mein­de­arzt mit allen Kas­sen, sie blieb im Spi­tal und ist nun Ober­schwes­ter. Bei den Freun­den, die sie tref­fen, han­delt es sich um die Fa­mi­lie des ein­ge­ses­se­nen Zahn­arz­tes, der wegen einer Rechts­än­de­rung nun sogar zwei Dok­tor­ti­tel trägt. An­ders als sein Vater – der hatte nicht ein­mal stu­diert. Und wie Sie alle da so sit­zen, der Haupt­gang ab­ser­viert und die drit­te Fla­sche Zwei­gelt zum Atmen ge­öff­net wird, stellt der Zahn­arzt die Frage, ob es denn wirk­lich nötig sei, dass Kran­ken­schwes­tern Ma­tu­ra und Stu­di­um brau­chen.

Nach kur­zem Stöh­nen er­klärt die Ober­schwes­ter, diese Aka­de­mi­sie­rung der Pfle­ge sei völ­lig sinn­los. Sowas habe sie in ihrem Job noch nie ge­braucht. Ihr Mann pflich­tet ihr bei.   

Als alle in ihren Autos heim­fah­ren, si­cher zu be­trun­ken für nor­ma­le Bür­ger, aber für die re­gio­na­le Pro­mi­nenz noch völ­lig im Rah­men, er­hal­ten beide An­ru­fe der Kin­der: Der Sohn des Zahn­arz­tes hat ge­ra­de die letz­te Prü­fung sei­nes Mas­ters in Ad­van­ced Nursing Prac­tice ge­schafft. Die Toch­ter des Land­arz­tes schickt vorab per Whats­App den letz­ten Schein für ihre Aus­bil­dung zur Fach­ärz­tin für Or­tho­pä­die und Trau­ma­to­lo­gie. Jetzt heißt es ler­nen für die Fach­arzt­prü­fung, und sie will wis­sen, ob sie für einen Monat wie­der zu Hause ein­zie­hen kann.

„Wie­ner Zei­tung“ vom 30.03.2023