Darf man Freiheit und Selbstbestimmung des einen einschränken, wenn man damit das Leben eines anderen vielleicht verlängert?
Es wird für viele verstörend sein, was hier zu lesen ist, denn die öffentliche und propagierte Meinung lässt diese Gedanken nicht zu – wer das tut, riskiert den Tod vieler.
Weiterlesen: Covid-19 – eine verstörende AnsichtHalten wir fest: das Strafrecht kennt Geld- und Freiheitsstrafen, letztere gibt es abgestuft, von Einzelhaft bis Fußfessel. Strafen dienen dazu, die Lebensqualität des verurteilten Täters zu reduzieren und klarzumachen: „Wir wollen dein Verhalten nicht.“ Lebensqualitätseinschränkende Maßnahmen sind auch bei Kindern als Strafe gedacht. Kinder kriegen Hausarrest oder Fernsehverbot. Lebensqualität ist für Lebende ein wichtiges Lebenselement. Deswegen ist sie auch in der Gesundheitsökonomie wesentlich. Und nur, um Diskussionen vorzubeugen: Die Messung ist keine einfache Sache, aber möglich.
Eine Verlängerung des Lebens um jeden Preis (nicht finanziell gemeint) gilt als unethisch, Schaden und Nutzen sind aufzuwiegen. Reduktion der Lebensqualität ist ein Schaden, Lebensverlängerung ein Nutzen. Gerechnet wird in qualitätsadjustierten Lebensjahren – jedes Lebensjahr wird mit einem Qualitätsfaktor multipliziert. Das ermöglicht dann, Lebenslänge und Lebensqualität gemeinsamen zu betrachten.
Das ist für viele verstörend. Deswegen betrachten sie die Lebenslänge als unendlich viel wert und Lebensqualität als unwichtig – alles für die Lebenslänge! Damit ist jegliche Maßnahme gerechtfertigt, die dazu führt, dass auch nur ein einziger Mensch nur eine Minute länger lebt.
Ich halte das gerade jetzt für unethisch, weil es die Opfer, die die Gesellschaft aktuell erbringt (Freiheitseinschränkungen und finanzielle Nachteile – also „Strafen“) als selbstverständlich nimmt. Und mehr noch, weil ein moralisches Diskussionsverbot existiert, wird noch nicht einmal das Ziel der Lebensverlängerung klar formuliert, denn vermutlich wäre eine Rechnung über „gewonnene Lebensjahre“ bei möglichen Covid-Patienten noch nicht einmal positiv – denn wie die aktuelle „Übersterblichkeitsstatistik“ zeigt, ist die Hälfte auf Nicht-Covid-Tote zurückzuführen. Haben wir da Lebenslänge bei den einen geopfert, um das Leben anderer zu verlängern?
Aber um dieser „lästigen“ Diskussion zu entgehen, wird lieber eine Gefühlsdiskussion geführt. Das ist der mit Abstand leichteste Weg. Er braucht keine Zahlen, keine Daten und erlaubt es, die Mehrheit hinter sich zu scharen: Jeder Schaden ist schicksalhaft hinzunehmen, niemand opfert etwas, alle retten Leben.
Alleine, es ist nicht so! Die verzweifelten Menschen in den Pflegeheimen, deren Lebensinhalt die regelmäßigen Besuche der Angehörigen waren und deren Lebensfreude darin bestand, mit dem Personal zu reden, werden das anders sehen. Ebenso jene Kinder, die jetzt von ihren Eltern verprügelt werden, weil die Spannungen durch Quarantäne und Arbeitslosigkeit so hoch sind, und deren Leben die nächsten Jahrzehnte davon geprägt sein wird. Die Lebensqualität von Millionen wurde erheblich reduziert, und das ist den gewonnenen qualitätsadjustierten Lebensjahren gegenüberzustellen. Auch wenn das verstörend klingt.
„Wiener Zeitung“ vom 23.04.2020