Eine Studie, die keine oder alle Schlüsse zulässt

630.000 Euro für 1400 Sei­ten, davon 930 in ge­sund­heits­öko­no­mi­schem Fa­cheng­lisch, die un­über­setzt blie­ben.

Wei­ter­le­sen: Eine Stu­die, die keine oder alle Schlüs­se zu­lässt

   Leich­te Kost ist die Stu­die nicht. Die Rede ist von einer Stu­die der Lon­don School of Eco­no­mics (LSE) im Auf­trag des So­zi­al­mi­nis­te­ri­ums, die    eine Hand­lungs­an­lei­tung zur Re­form der So­zi­al­ver­si­che­rung geben soll­te.

Nach der Lek­tü­re ei­ni­ger hun­dert Sei­ten stellt sich das Werk als Zu­sam­men­fas­sung be­kann­ter Lehr­mei­nun­gen und Theo­ri­en ohne ei­ge­ne Be­rech­nun­gen dar – also ein Lehr­buch. Eine Stu­die, die hel­fen soll Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, ist es nicht – nicht nur wegen des Um­fangs. Selbst dort, wo es Vor­schlä­ge gibt, bleibt es eine Auf­zäh­lung von dem, was die Lehre der Ge­sund­heits­sys­tem­for­schung an­zu­bie­ten hat. Eine Be­wer­tung der Vor­schlä­ge fehlt, womit be­lie­big ge­wählt wer­den kann. Und so ver­wun­dert es nicht, dass sich alle auf das so­ge­nann­te „Mo­dell 4“ stür­zen, das alles so bei­be­hält, wie es ist, und nur durch mehr Ri­si­ko­struk­tur­aus­gleich und bes­se­re Ko­or­di­na­ti­on durch ge­mein­sa­me Ser­vice­zen­tren er­gänzt.

Nun, in der Stu­die (Ka­pi­tel 4, Seite 131 ff) klingt das an­ders.

   Da wird klar, wie mäch­tig diese ge­mein­sa­men „Ser­vice­zen­tren“ sein müss­ten; sie über­näh­men alle we­sent­li­chen Auf­ga­ben aller Kran­ken­kas­sen, wie etwa die Ver­hand­lun­gen mit den Ärz­te­kam­mern. Es wäre daher eine Art vir­tu­el­le Kas­sen­fu­si­on. Zudem müss­ten alle Kas­sen all ihr Geld (nicht nur zwei Pro­zent) in einen Topf wer­fen, von dem dann, je nach Krank­heits­ri­si­ko der Ver­si­cher­ten, mehr oder we­ni­ger zu­rück­fließt. Und weil es keine weit­rei­chen­den Ge­set­zes­än­de­run­gen geben darf (so die Prä­mis­se des Mo­dells 4), muss alles frei­wil­lig sein.

Da aber, wie zu lesen, er­heb­li­che Rechts­ri­si­ken blie­ben, etwa, dass die Be­am­ten­ver­si­che­rung aus ver­fas­sungs­recht­li­chen Grün­den bei so einem Ri­si­ko­struk­tur­aus­gleich nicht mit­ma­chen könn­te, schlägt man Mi­ni­schrit­te vor, an deren Ende die der­zei­ti­ge Ver­fas­sung um­gan­gen wer­den kann. Damit das funk­tio­niert, soll der Staat mit Steu­er­geld in den Ri­si­ko­aus­gleich ein­stei­gen, frei­lich ohne mehr Mit­spra­che­recht in der Selbst­ver­wal­tung zu er­hal­ten.

Nach Schät­zun­gen würde das etwa 1,2 Mil­li­ar­den Euro aus­ma­chen, die in hö­he­re Arzt­ho­no­ra­re (eine Stei­ge­rung um ein Drit­tel zu heute) flie­ßen müss­ten. Das ist schwie­ri­ger um­zu­set­zen als eine Ver­fas­sungs­än­de­rung, die in den Mo­del­len 1 bis 3 not­wen­dig wäre. Aber das macht nichts, kaum je­mand kann so gut Eng­lisch, dass er ge­sund­heits­öko­no­mi­sche Fach­li­te­ra­tur lesen kann. Und weil die­ses Werk so dick und un­über­sicht­lich ist, wer­den selbst die, die es könn­ten, nicht mo­na­te­lang dar­über brü­ten. Die, die es tun, wer­den es tun, um her­aus­zu­le­sen, was für die ei­ge­ne In­sti­tu­ti­on passt. Und weil nie­mand nach­le­sen kann/will/wird, kom­men die damit lo­cker durch.

Und so hören wir, dass „die LSE-Stu­die der be­ste­hen­den Struk­tur der So­zi­al­ver­si­che­run­gen ein sehr gutes Zeug­nis aus­ge­stellt hat“, auch wenn dort steht, dass „davon aus­ge­gan­gen wer­den muss, dass zur­zeit die Ge­sund­heits­er­geb­nis­se in­ner­halb der Be­völ­ke­rung schlech­ter und die Ge­samt­kos­ten höher aus­fal­len, als dies in einem ko­or­di­nier­ten Sys­tem der Fall wäre“.

   P.S.: Er­schre­ckend ist die Feh­ler­quo­te. Bei einer mo­na­te­lan­gen Ver­zö­ge­rung und einem Preis von etwa 500 Euro pro Seite könn­te man ein Lek­to­rat er­war­ten – oder wurde noch ganz schnell um­ge­schrie­ben?

„Wie­ner Zei­tung“ Nr. 169 vom 31.08.2017