Mit den Apps steht eine Revolution bevor. Das Sammeln lebensnaher Daten wird Langzeittherapien besser machen – aber eine Umstellung verlangen.
Weiterlesen: Die App-MedizinIm Mittelalter gab es im Grunde nur eine Möglichkeit, medizinisches Wissen zu den Patienten zu bringen. Studenten mussten an eine Universität, an der Vorlesungen gehalten wurden. In der Regel aus Büchern, die uralt waren. Nachdem man das Wissen dieser Bücher auf die „Festplatten“ der Studenten überspielt hat, konnten diese, quasi als ärztlicher Datenspeicher, in die Regionen geschickt werden, um Menschen zu heilen. Eine Weiterentwicklung fand, wenn überhaupt nur sehr langsam statt. Erst der Buchdruck (und die Aufklärung) ermöglichte es, Datenspeicher, in Form von Büchern zu verwenden. Ärzte schrieben Bücher über ihre Beobachtungen und Erfahrungen, die dann überall hin verkauft werden konnten und anderen, weit entfernten Ärzten, die Möglichkeit gab, sich nicht nur auf die „eigenen Daten“ zu verlassen, sondern auch andere in das eigene Handeln einfließen zu lassen. Und obwohl die Zahl der Lehrbücher stark stieg, blieben die darin enthaltenen Daten doch zu „zentral“ – die Autoren, allesamt Koryphäen und viele davon sehr eitel, bildeten eine Elite, die sich weniger durch experimentell erzeugten Wissenszuwachs als durch hartnäckig vertretene Lehrmeinungen auszeichnete. Der Wiener Arzt Semmelweis konnte das sehr gut spüren; nach ihm wurde sogar der Semmelweis-Reflex benannt – die ablehnende und feindselige Reaktion der wissenschaftlichen Elite auf Neuerungen, die der Lehrmeinung widersprechen. Lehrbuchmedizin wurde bis ins 20. Jahrhundert betrieben. Erst dann setzten sich zunehmend neuere, schnellere und eher dem Experiment denn einem klingenden Namen verschriebene Datenträger durch – die Fachzeitschriften.
Statt persönlicher Erfahrungen und Beobachtungen wurden Daten in experimentellen Studien gewonnen. Anfangs mühsam, revolutionierten die Computer diese Vorgangsweise. Die Zahl solcher Studien wuchs beinah ins Unermessliche (jährlich werden tausende solcher Studien durchgeführt). Doch auch diese durch experimentelle Studien getriebene, evidenzbasierte Medizin war noch immer in der täglichen Praxis gehandicapt – selbst die riesige Zahl der Studien konnte die Realität nur unzureichend abbilden, einfach, weil das Leben eben nicht unter „experimentellen Rahmenbedingungen“ abläuft. Daher rücken Beobachtungsstudien in den Blick der Medizin. Doch die haben einen Nachteil. Um valide Aussagen zu treffen, braucht man große Patientengruppen. Und das Sammeln solcher Daten ist praktisch sehr schwer. Und genau an diesem Punkt tritt nun die Entwicklung der medizinischen Apps auf. Sie ermöglichen es, riesige Datenmengen von vielen Patienten weltweit in Echtzeit zu sammeln, zu analysieren, und unmittelbar mit den Daten des einzelnen Patienten zu vergleichen. Die Wissenschaft rückt praktisch an das Individuum heran, das selbst zum Datenspeicher wird und auf den die Therapie genau angepasst werden kann – ohne Zeitverlust, ohne Übersetzungsverlust.
Und ganz klar, der Semmelweis-Reflex wurde bereits ausgelöst. Doch, genauso, wie sich die Händehygiene durchgesetzt hat, wird es die App-Medizin auch. Und in nicht allzu ferner Zukunft werden Ärzte chronisch kranken Patienten eine App verschreiben – und das wird ganz normal sein.
„Wiener Zeitung“ Nr. 231 vom 27.11.2014