Missverständnisse: Versorgung≠ Behandlung – Anekdote ≠ Statistik

(Lesezeit 2 Min) Grundlos fühlen sich Ärzte oft beleidigt: ein weiterer Versuch Missverständnisse rund um System-, Versorgungs- und Behandlungseben (Makro- Meso- Mirkoebene) aufzuklären.

Versorgung beschäftigt sich nicht mit einzelnen Patienten, das tut die Behandlung. Versorgung beschäftigt sich mit Patienten- oder Bevölkerungsgruppen. Erstere sind dadurch charakterisiert, dass die Patienten eine gleiche Krankheit oder das gleiche Risikoprofil haben, zweitere dadurch, dass sie Einwohner einer definierten Region, der Versorgungsregion, sind. Die Systemebene schwebt noch höher, und beschäftigt sich mit der Situation aller ihr zugerechneten Versorgungsregionen.

Damit ist klar, Ärzte beschäftigen sich mit Patienten, Versorgungswissenschafter mit Zahlen – und ein Systemwissenschafter überhaupt nur mehr mit der Beschreibung der Phänomenen, die das komplexe Zusammenspiel in der Versorgung hervorbringt.

Wenn Ärzte, anhand der Erfahrung mit den ihnen bekannten Patienten (die immer nur eine winzige Menge aller Patienten sein können), über Versorgung sprechen, nennt man das, ohne despektierlich zu sein, anekdotische Evidenz, wenn Versorgungswissenschafter anhand von Kennzahlen über Versorgung sprechen, nennt man das deskriptive Statistik. Und die Beschreibungen, die Systemwissenschafter anfertigen Systemanalyse.

Wenn ein Versorgungswissenschafter feststellt, dass nur die Hälfte der Diabetiker Medikamente erhält, und die Zahl der Spitalsaufenthalte von Diabetikern deutlich über internationalem Schnitt liegt;

 

oder, dass nur 10% der Patienten mit behandlungswürdiger COPD Medikamente einnimmt und weit über internationalem Schnitt im Spital behandelt werden,

 

stellt er fest, dass die Versorgung schlecht ist. Er kritisiert damit die Versorgung, eventuell das System, nicht aber die Behandlung.

Ärzte, die diese Patienten behandeln, fühlen sich oft dadurch beleidigt – denn, so vermuten sie, hier wird ihre Arbeit „schlecht“ gemacht. Doch Versorgung und Behandlung sind eben zwei verschiedene Dinge; eine Analogie:

Ein Autofahrer hat den Verkehr für die nächsten 100 Meter gut im Blick. Nach hinten ist der Blick viel schlechter, steht doch nur eine kleine Spiegelfläche zur Verfügung, die man nicht einmal konzentriert beobachten kann. Fragt man einen Autofahrer, wie die Verkehrslage ist, wird er diese für 100 Meter nach vorne und 10 nach hinten einschätzen können. Aber darüber hinaus?

Steht der Autofahrer im Stau, dann ist es für ihn, ohne auszusteigen und nachzuschauen, praktisch schon nicht mehr entscheidbar ob der beobachtete Stau nur durch eine Ampel entsteht, oder weil ein substanzielles Hindernis vorliegt. Wenn er sehr oft an der gleichen Stelle steht, dann kann er vermuten, was wahrscheinlicher ist, mehr nicht.

Um die Verkehrslage in größerem Umkreis richtig einzuschätzen, braucht der Autofahrer Verkehrsbeobachter, die in Hubschraubern von oben daraufschauen, oder vor Computern sitzen und Verkehrsdaten auswerten.

Diese Beobachter sind Beschreiber einer Verkehrslage, keine Kritiker der Autofahrer. Wenn es staut, betrifft die Verkehrsmeldung den Stau, nicht die darin verwickelten Autofahrer, und schon gar nicht deren Fahrkünste – es geht nur um den Stau, dessen Dimension und die daraus resultierende Verkehrsbehinderung in der Region.

 

Und wenn die Verkehrssituation in einem sehr großen Gebiet beobachtet werden soll, reicht dafür nicht einmal der Hubschrauber, dann helfen nur noch Computer, die Verkehrsdaten auswerten – und dann sind sogar kleine, regionale Staus nicht mehr das Thema, sondern nur mehr deren Summe und die Auswirkung auf die „Groß-Verkehrslage“.

Wenn nun eine „Verkehrsmeldung“ das Gesundheitswesen betrifft, kommt es zu einem merkwürdigen Phänomen. Plötzlich reagieren die „Autofahrer‘ verschnupft: wie will man den Verkehr beurteilen, wenn man nicht selbst im Auto sitzt, und überhaupt, eine Frechheit zu sagen, dass es eine Stau gibt – denn, die Autofahrer sind die besten der Welt, und der Stau eine Erfindung von Ökonomen. Es muss endlich Schluss sein mit dem Autofahrer-Bashing.

 

Und wenn ich mich dann anlässlich eines Vortrages oder eines Artikels solchen Aussagen ausgesetzt sehe, dann tu ich mir echt schwer – denn wie soll ich darauf reagieren? So tun, als ob es keinen Stau gibt?