(11 Min. Lesezeit) Alle Informationen zu haben, um einen Fall richtig einzuschätzen und die passende Therapie zu finden, das sollte doch außer Streit zu stellen sein. Und trotzdem dauert die ELGA- Diskussion nun schon so viele Jahre. Und irgendwie will sie einfach nicht aufhören – berechtigt? Ich jedenfalls bin hin und her gerissen.
Liebend gerne und seit jeher wird bei ELGA der Datenschutz diskutiert.
Beinah religiös wird seitens der „ARGE Daten“, in Person Hans Zeger, ELGA verteufelt, oft mit völlig falschen Zahlen und Fakten . Die Ärzteschaft wiederum sieht gar das Arztgeheimnis beendet, weil angeblich 120.000 Menschen in ELGA reinschauen können – reine Polemik. Ziel dieser Datenschutzdiskussion ist es ELGA zu verhindern – nicht den Patienten zu schützen. Grund, warum ELGA verhindert werden soll, dass ist seitens der ARGE Daten eben ein religiöser, seitens der Ärztekammer wohl schicht ein machtpolitisch trotziger, anders ist ihr Schwenk seit 2006 (ÖÄZ 21 – 10.11.2006 „Die Akte Elga“) und die vielen Anti-ELGA-Kampagnen nicht zu erklären. Datenschutzrechtlich UND im Sinne des Patienten, ist diese Verhinderungstaktik nicht zu verstehen, alleine schon deswegen, weil durch ELGA der aktuelle Datenschutz verbessert (wo und wie heute überall Patientendaten gespeichert werden wäre ja der eigentliche Skandal), nicht verschlechtert wird. Und diese ewigen „Hacker-Phantasien“ sind doch wohl nur Phantasien, weil ELGA durch die dezentrale Speicherung (vorausgesetzt, die Umsetzung der dezentralen Speicher wird ernst genommen und fällt nicht irgendwann einmal dem „effizienz“-Kriterium zum Opfer), keine Big-Data-Sammlung generiert, für die sich ein Hack lohnt. Sollte trotzdem irgendwer Daten einsehen wollen, dann kann er das heute wohl leichter, als nach der ELGA-Einführung.
Ins gleiche Horn stößt vermutlich auch die Diskussion über ungeklärte Haftungsfragen.
Ganz nach dem Prinzip: was mit Datenschutz nicht verhindert werden kann, verhindert man mit Haftungsfragen. Ob durch ELGA sich in irgendeiner Art das Haftungsrecht ändert ist klar zu beantworten – es ändert sich nicht. ABER, und das ist es wohl, was einigen sauer aufstößt, die Beweisposition des Patienten im Falle einer Klage, ob ein Arzt sorgfältig gehandelt hat oder nicht, wird erheblich gestärkt (s.Aigner und Leisch; „ELGA – die elektronische Gesundheitsakte“; Recht der Medizin (RdM) 2013 (6) sowie S.Perner: Österr. „Ärztliche Nachforschungspflichten und ELGA“; Juristen-Zeitung (ÖJZ) 2013 (23/24))
Dann diese Scheindiskussion über Opt-In statt Opt-Out.
Egal wie man es dreht oder wendet, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung will ELGA – allen Unkenrufen und aggressiven Propagandaaktionen zum Trotz. Also ist aus pragmatischen Gründen das Opt-Out schon die richtige Wahl. Natürlich wäre ein Opt-In schöner – aber wie soll das administriert werden? Denken wir an die Beschwerden, dass das Opt-out schon kompliziert ist und alle nicht technikaffine Menschen völlig überfordert. Wie hätte das wohl bei einem Opt-In für 8 Millionem Menschen ausgesehen? Ein Opt-In-Variante war übrigens Gerüchten zu Folge (Transparenz und Bürgerbeteiligung war nicht gerade ein Ruhmesblatt der endlosen ELGA-Diskussion) angedacht, aber dann hätten eben Ärzte und Spitäler als Einschreibstellen eingesetzt werden müssen, sie hätten die Identität der Patienten überprüfen und jeden einzeln, bei gesteckter E-Card, anmelden müssen. Anders wäre das nicht praktikabel umsetzbar. Aber die Ärztekammer hat das strikt abgelehnt – es koste zu viel Zeit. Und als angedacht wurde das Opt-Out dadurch zu erleichtern, dass es in der Ordination möglich sein soll, scheiterte auch das an der Ärztekammer, die es nicht für möglich hielt, die Identifikation der Patienten zu übernehmen. Und so wurde eben der Weg über die ELGA-GmbH gewählt – ein Weg, der nicht blockiert werden konnte, dafür halt jetzt angegriffen wird.
Eine andere oft gebrachte Kritik ist das angebliche Fehlen eines Patientennutzens, ELGA diene nur der Verwaltung – doch stimmt das?
Alleine die Vermeidung unzuverlässiger Medikamentenanamnesen durch die E-Medikation zeigt schon das Potential. Millionen von spitalsärztlichen Arbeitsstunden – vor allem bei den ohnehin massiv überlasteten Jungärzten – gehen drauf, nur um zu erfragen, welche Medikamente der Patient nimmt. Zeit, die ganz plötzlich frei wird für Dinge, die dem Patienten mehr nützen, als unvollständigen Medikamentenlisten nachzulaufen; und sei es nur, dass der Patient einen ausgeruhten Arzt vor sich hat. Doch mehr zum Nutzen später.
Am Heftigsten wurden die Kosten von ELGA diskutiert – was als solches schon ein Bild auf die Diskutanten wirft.
Niemand scheint zu wissen, wie hoch die Kosten sind oder sein werden. Die Schätzungen liegen je nach politischem Agitator bei den jährlichen Betriebskosten zwischen 30 Mio.€ und 100 Mio.€. und bei den Errichtungskosten zwischen 130 Mio.€ und 420 Mio.€. Das klingt riesenhaft, ist es aber nicht. Selbst wenn man die Kostenaufstellung der heftigsten Gegner der ELGA, die der Wiener Ärztekammer , die einer Detailanalyse nicht standhält und als massiv überzogen zu werten ist, heranzieht, werden die ELGA-Gesamtkosten bei nicht mehr als 0,5% bis 1% der öffentlichen Ausgaben für Gesundheitsversorgung und damit in der statistischen Unschärfe liegen. Daraus eine drohende Rationierung abzuleiten, wie das von den ELGA- Gegnern gerne getan wird, ist Chuzpe.
Und obwohl wir nur von einem Promille-Betrag sprechen, wird ausgerechnet bei ELGA eine Kosten-Nutzen-Relation gefordert, obwohl bei sonstigen öffentlichen Gesundheitsausgaben von jährlich 25.000 Mio.€ praktisch keine Kosten-Nutzen-Fragen gestellt werden – wäre es anders, wir hätten nicht diesen massiv aufgeblähten Krankenhausapparat und diesen ausgehungerten Kassenarzt-Sektor. Und was den Nutzen in der Kosten-Nutzen-Realtion betrifft, erfährt man kaum etwas vom echten Nutzen, meist hört man nur von Einsparungen; gerade so, als ob Einsparungen einen Nutzen darstellten. In einer (der einzigen nationalen?) Untersuchung des Nutzens einer ELGA kam heraus, dass durch die elektronische und vertrauenswürdige Verfügbarkeit von Patienteninformationen bei Patienten mit neuer Krankheitsepisode und „unklarer“1) Vorgeschichte in der Primärversorgungsebene u.a. folgendes erreicht werden kann:
- Reduktion der Labor- und Radiologieanforderungen um 25%
- Reduktion der Überweisungen vom Allgemeinmedziner zu einer fachärztlichen Versorgungsebene (also z.B. in die Spitalsambulanz) um 12%
- Reduktion der Krankenhausaufnahmen um 3,5% bis 5%
Anders ausgedrückt, durch ELGA kann vor allem der Hausarzt besser behandeln und verhindert damit lange Patientenwege. Allein dieser indirekte Patientennutzen (alle versorgungswissenschaftlichen Analysen zeigen, dass Gesundheitssysteme mit einem starken Hausarztsektor mehr und oft bessere Gesundheit „erzeugen“, als jene, die auf Fachärzte und Spitäler setzen) sollte doch reichen, ELGA zu befürworten. Tut es jedoch nicht – und das womöglich zu recht, weil dieser Nutzen immer nur unter den Aspekt der Einsparung diskutiert wird.
Die obigen und ein paar andere Reduktionen können als Geldwert zwischen 200 Mio.€ und 300 Mio.€ / Jahr ausgedrückt werden – und die will man sparen um damit die Kosten für ELGA zu rechtfertigen. Doch kann man die so mir nichts, dir nichts einsparen? Natürlich nicht!
Aufgeschlüsselt, besteht dieses „Einsparungspotential“ aus etwa 130 Mio.€ bis 200 Mio.€ Personal- und 70 Mio.€ bis 100 Mio.€ Sach-Kosten.
Man muss endlich und klar festhalten, bei den Personalkosten, die hinter diesem Geldwert stehen, kann wegen der Zieleinkommenstheorie kein Cent eingespart werden. Alleine der Versuch, diese Ausgaben zu reduzieren würde nur dazu führen, dass Ärzte und Spitäler mehr Fälle generieren werden. So was haben wir schon 1997 mit der Einführung der neuen Spitalsfinanzierung (LKF) zur Genüge feststellen können. Es wäre hier nicht anders. Bleiben Sachkosten: wenn Patienten nicht mehr doppelt und dreifach untersucht werden müssen, fallen die dafür nötigen Sachkosten nicht an. Bei den Sachkosten, ist eine Einsparung aber eben nur möglich, wenn wirklich Fälle vermieden werden, es also nicht zu einer „Fallvermehrung“ kommen muss, um das Zieleinkommen zu erreichen.
Das Einsparungspotential besteht daher im Wesentlichen aus einem echten Geldeinsparpotential für Sachkosten (70 Mio.€ – 100 Mio.€) und einem Zeiteinsparpotential im Wert von 130 Mio.€ bis 200 Mio.€ – und genau an dem Zeiteinsparungspotential liegt es! Was werden wir mit diesem Zeitpotential anfangen? Werden wir die Patienteninformation/Aufklärung verbessern und die Patientenbetreuung intensivieren, werden wir den Hausärzten mehr Zeit geben, sich um ihre Patienten zu sorgen; oder doch nur über Honorarkürzungen Ärzte zwingen mehr Patienten zu behandeln – und damit Fälle nicht zu vermeiden, sondern zu erzeugen?
Es sind drei logische Sätze, die über Erfolg und Misserfolg der ELGA bestimmen werden:
- Wenn wir nur Sparen wollen, dann wird ELGA dem Patienten nicht helfen
- Wenn ELGA dem Patienten nicht hilft, wird es keine Verbesserungen geben
- Wenn es keine Verbesserungen gibt, dann werden wir uns nichts ersparen
Und so wie die Diskussion läuft, bin ich sehr skeptisch, dass der Patientennutzen wichtiger ist, als Macht- oder „pseudo“Sparpolitik.
Denn, während der endlosen, oft inferior geführten Debatte, wurde jedenfalls die Idee von ELGA, durch raschere, orts- und zeitunabhängige Verfügbarkeit medizinischer Informationen die Versorgung von Patienten zu verbessern, immer mehr aus den Augen verloren. Die Diskussion hat sich immer stärker von der Versorgungsebene auf die (politische) Systemebene verlagert.
Die Systemebene dient dazu, die Versorgung entsprechend der politischen Willensbildung zu regeln, bestenfalls zu steuern, also einen Rahmen abzustecken, in dem die Patientenversorgung so funktioniert, wie es der Gesetzgeber wünscht; das System selbst kann aber weder versorgen, noch behandeln. Die Versorgung ihrerseits ist von der eigentlichen Behandlung zu unterscheiden. Während Behandlung bedeutet, dass die richtige Leistung erbracht wird, ist es Aufgabe der Versorgung dafür zu sorgen, dass der richtige Patient zur richtigen Zeit beim richtigen Arzt ist.
Die Unterscheidung zwischen System-, Versorgungs- und Behandlungsebene ist alles andere, als eine semantische Spitzfindigkeit; jede Ebene funktioniert nach eigenen Grundsätzen. Behandlung – Versorgung – System stehen in einem ähnlichen Verhältnis wie Auto –Strasse – Verkehr: alle hängen zusammen, sind in ihrer Funktionsweise aber doch komplett unterschiedlich. Es ist eben nicht möglich, von einem funktionierenden oder nicht funktionierenden Auto auf den Verkehr zu schließen, oder über Verkehrsregeln zu garantieren, dass nirgendwo ein Auto wegen Spritmangel liegen bleibt. Man kann seitens der Verkehrspolitik nur jene Rahmenbedingungen festlegen, die in Autos verpflichtende Tankanzeigen vorsieht und an Strassen die Errichtung von Tankstellen vorschreibt.
Bei ELGA ist es existentiell zu wissen, wohin sie gehört – zur Systemebene ODER zur Versorgungsebene.
Wenn ELGA, so war sie angedacht, und so wurde sie auch (vorerst?) gesetzlich fixiert, zur Versorgungsebene gehört, dann dienen die in ELGA enthalten Informationen dazu, die Behandlung zu ermöglichen und die für die Behandlung nötige, und von einem besonderen Vertrauen getragene, Arzt-Patienten-Beziehung effektiver und zielgerichteter zu gestalten – Ziel der ELGA ist also, dass der richtige Patient schneller beim richtigen Arzt ist. Was ELGA dann NICHT kann, ist die Versorgung zu regeln oder zu kontrollieren, weil sie ja selbst Teil der Versorgung ist. Und schon gar nicht kann ELGA den strukturellen Reformstau beheben – das sind definitiv Aufgaben der Systemebene.
Nichts desto trotz wird ELGA als Instrument der Systemebene gehandelt. Politiker sehen in ELGA ein Instrument, das System transparenter zu machen, Kosten zu sparen und bekannte Systemprobleme (z.B. die hochgradige Fragmentierung der Kompetenzen, zusammenführen der vier, voneinander unabhängigen, ambulante Versorgungssysteme: Kassenordinationen – Kassenambulatorien – Wahlarztordinationen – Spitalsambulanzen) aufzubrechen und zu lösen! Dinge, die die angedachte ELGA eigentlich nicht tun kann oder sollte. ELGA liefert keine Verwaltungsinformationen, sondern Behandlungsinformationen. Alleine schon das Ansinnen, das „S y s t e m“ transparenter zu machen, ist ein absolutes Killer-Argument. Die Arzt-Patienten-Beziehung (Behandlungsebene) soll durch die auf Versorgungsebene ermöglichte Kommunikation transparenter werden – sonst nichts. Ärzte sollen wissen was andere Ärzte mit dem direkt vor ihnen sitzenden Patienten gemacht haben. Was auf der Behandlungsebene passiert geht schlicht nur den Arzt und seinen Patienten an- sonst niemanden, und schon gar nicht irgendwelche Politiker.
Wird ELGA jedoch als Kontroll- und Steuerungsinstrument, also als Instrument der Systemebene, eingesetzt (und leider reicht dafür schon die unspezifische Befürchtung, dass es so sein könnte), ist abzusehen, dass die Informationen, die gespeichert werden, nicht dazu dienen werden, die Versorgung zu verbessern. Die Daten werden zunehmend so eingespeist, dass sie der Kotrolle entsprechen, aber nicht so, dass verschiedene Ärzte entlang einer Patientenkarriere miteinander kommunizieren und arbeiten können. Besonders dort, wo die Kommunikation als „Freitext“ (die meisten Befunde werden als Freitext, samt aller Schwierigkeiten, die durch Rechtschreibung und unterschiedliche Wortwahl entstehen, gespeichert werden), stattfinden wird, werden wir solche Reaktionen beobachten können.
Betrachten wir einen Spitals-Entlassungsbrief, der ja als eines der wenigen Dokumente in ELGA eingespeist werden soll:
Wenn in einem Entlassungsbrief Informationen enthalten sind, die dem nachsorgenden Arzt helfen sollen, dann kann da beispielsweise drinnen stehen, dass auf die oder jene Untersuchung verzichtet wurde, weil sie nach subjektiver Einschätzung des Spezialisten und entsprechender Patientenaufklärung nicht nötig war. Steht so was im Entlassungsbrief, wird sich in seltenen Fällen und im Nachhinein diese Einschätzung als falsch erweisen. Für den betroffenen Patienten ist das sicher unangenehm, aber für die überwiegende Mehrheit der Patienten sind diese praxisrelevanten Informationen ein Segen, weil der nachbehandelnde Arzt eben eine Meinung eines Kollegen vor sich hat, wie sich ihm die Situation des Patienten darstellt – und nicht einfach eine Leistungsaufzählung, was im Spital geschehen ist. Die beiden Ärzte arbeiten so gemeinsam an der „Patientenkarriere“ und nicht jeder für sich – das Ziel von ELGA!
Wenn jedoch ELGA zu Kontrollzwecken herangezogen, wird, dann werden die Informationen anders lauten. Jetzt geht es darum die eigenen Handlungen vor einer übergeordneten Stelle zu rechtfertigen. Als erstes wird sicher NICHT dokumentiert, dass eine Untersuchung NICHT durchgeführt wurde, obwohl das, gemeinsam mit dem Warum, für den nachbehandelnden Arzt eine Zusatzinformation gebracht hätte. Der nachbehandelnden Arzt, nun ohne die Information, wird möglicherweise den Patienten woanders hinschicken, um die Untersuchung doch noch durchführen zu lassen, oder aber er telefoniert (enorm Zeitaufwendig) im Spital nach, warum den diese oder jene Untersuchung unterlassen wurde –eigentlich wollte ELGA aber genau das vermeiden, bzw. beenden.
Mehr noch, es besteht die Gefahr, dass Untersuchungen nur durchgeführt werden, damit der Spitalsarzt forensische Probleme vermeidet – ELGA als Instrument der Systemebene wird also die Absicherungsmedizin und nicht die Versorgung des Patienten fördern. Tritt das ein, wird sich die Zahl der Untersuchungen und damit der Information erhöhen – auch wenn Doppeluntersuchungen vermutlich weniger werden. Und es wird eine völlig unpraktikable und alles andere als zielgerichtete Datenflut, wie von der Ärztekammer ständig aufzeigt, eintreten.
Zudem wird der Text der in ELGA eingespielt werden soll, selbst wohl immer „weicher“ in seiner Formulierung werden. Denn warum soll ein befundender Arzt, durch „gefährliche“, weil vielleicht nicht sichere Aussagen (Einschätzungen) forensische Konsequenzen riskieren.
Denken wir an ein CT-Bild. Dort sieht der Radiologe einen Lungenrundherd, der nach seiner Einschätzung eher eine alte Narbe einer längst abgeheilten Pneumonie ist und eigentlich keiner weiteren Abklärung bedarf, wenn die klinische Situation dazu passt. Ist der Radiologe daran interessiert, die Patientenkarriere mitzugestalten, dann wird er diese Einschätzung genau so abgeben, um dem behandelnden Arzt die Entscheidung zu erleichtern, ob dieser Rundherd rausgeschnitten, oder weiter beobachtet, oder vielleicht sogar ignoriert werden kann, und, er wird mit dieser Einschätzung beim Patienten keine Krebsangst auslösen.
Wird jedoch ELGA zum Kontrollinstrument, wird die Information völlig anders aussehen. Dann wird er schlicht festhalten, dass er einen „Rundherd“ sieht, von dem er nicht sagen kann, ob es eine gutartige oder bösartige Veränderung ist und rät daher eine weitere Abklärung – Der Patient kriegt also eine „Krebs-Diagnose“, denn nichts anderes verstehen Patienten in dem Fall. Der behandelnde Arzt kommt in die Schwierigkeit, dass er, ob vernünftig oder nicht, den Patienten nun zu verschiedenen Fachärzten schicken muss, die eben diese Abklärung vornehmen. Ziemlich wahrscheinlich ist, dass der Tumor operativ entfernt wird, egal ob das die beste Variante für den Patienten ist oder nicht, schließlich kann man diesen „ungeklärten Rundherd“ nicht einfach drinnen lassen. Und um es zu überspitzen – selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient eher an der Operation, als an dem „ungeklärten Rundherd“ stirbt, wird der Rundherd entfernt werden – und das alles geht von der forensisch gut abgesicherten, möglichst entscheidungslosen und weichen Formulierung des Radiologen aus, die eben der System-Kontrolle und nicht der Versorgung gefallen will.
Mit derart weichen oder nur der Absicherung dienenden Befunden, werden die in ELGA enthaltenen Informationen zunehmend praxisirrelevant und die Datenflut kann enorm zunehmen. In weiterer Folge wird die Vertrauenswürdigkeit der Informationen, die ja die Basis für den Nutzen einer ELGA darstellt, immer geringer.
Weiter untergraben wird die Vertrauenswürdigkeit der Informationen, in dem Patienten selektive Opt-Out –Möglichkeiten haben, also sowohl einzelne Befunde, als auch einzelne Medikamente, ja sogar einzelne Ärzte oder Spitäler eigenmächtig entfernen können (einer jener knieweichen Kompromisse, die so gar nicht in das sonst völlig verpflichtende Gesundheitssystem passen). Damit ist klar, dass die Informationen nicht verlässlich vollständig sein müssen und beim behandelnden Arzt ein merkwürdiges Insuffizienzgefühl wecken. Ganz abgesehen von diversen Informationslücken, die gesetzlich fixiert sind. So ist beispielsweise nicht vorgesehen, Labordaten aus den Handlaboren oder aber Laborgemeinschaften niedergelassener Hausärzte einzuspielen. Diese Daten sind aber oftmals jene, die gerade für die Betreuung chronisch Kranker sehr wichtig sind. Denken wir an Diabetiker und den Kontrollwert HbA1c, oder der Verlauf der Leberwerte bei Patienten mit einer chronischen Lebererkrankung, die man oft nur durch die Beobachtung des Verlaufs der Werte überhaupt erkennen kann (z..B.: chronische Hepatitis C ) – Definitiv Informationen, die zwischen allen behandelnden Ärzten und Spitälern weitergegeben werden sollten, aber nach dem derzeitigen ELGA-Entwurf nie elektronisch verfügbar sein werden, weil es nicht vorgesehen ist alle Laborbefunde in ELGA einzuspielen, sondern nur jene, die in einem Spital oder einem, mit einem extra Kassenvertrag versehenen, „Medizinisch-diagnostisches Laboratorium“ erhoben werden.
Warum nur diese eingebunden sind, ist schnell erklärt und liefert ein weiteres Indiz dafür, dass ELGA eigentlich nicht der Versorgungsebene zugerechnet werden soll, sondern der Systemebene.
Den Kassen sind „normale“ Kassenärzte (vor allem die Allgemeinmediziner) schon lange nicht mehr wichtig. Auch die Versorgung durch diese – wie man an der sinkenden Zahl der Vertragspartner erkennen kann – dürfte nicht im Fokus des Interesses stehen. DAS Thema der Kassen sind die „technischen Fächer“ und hier v.a. Radiologie und Labordiagnostik (deswegen sind Pathologiebefunde in ELGA auch nicht vorgesehen). Diese sind ihre eigentlichen Kostentreiber. Und weil es den Kassen ja längst nur mehr darum geht, eine „schwarze Null“ zu schreiben, egal wie die Versorgung der Bevölkerung aussieht (besonders plakativ an der seit Jahrzehnten verschlampten medikamentösen Versorgung von Herzschwächepatienten zu erkennen), liegt der Fokus aller Strategien auf den „technischen Fächern“. Und um in der Radiologie und Labordiagnostik „Doppelbefundungen“ einzusparen, also zu sparen, werden eben nur jene in ELGA eingebunden, deren Kostenentwicklung man unter Kontrolle bringen will. Eine versorgungswissenschafltich begründete Eingrenzung auf diese Anbieter gibt es nicht.
Und um die verschwörungstheoretischen Indizien zu vervollständigen – auch die E-Medikation wird wohl nicht unter dem Aspekt des Patientennutzens (Behandlungsebene) eingeführt; es sind eher rein politische bzw. machtpolitische Interessen.
All das senkt die Praktikabilität und Vertrauenswürdigkeit der ELGA-Informationen in der Behandlungebene – aber an der Vertrauenswürdigkeit hängt der gesamte Nutzen. Wenn es nicht gelingt, die wesentlichen Beteiligen, das sind behandelnde Ärzte und behandelte Patienten gleichsam, davon zu überzeugen, dass ELGA ausschließlich ihnen dient und sonst niemandem, wird ELGA zu einem teuren Datenfriedhof, der am Ende die Versorgung nicht verbessert, sondern verschlechtert. Und damit wird das System intransparenter, Kosten höher und die bekannten Systemprobleme größer.
Das eigentliche Drama an dieser endlosen ELGA-Geschichte ist aber, dass eben trotz mindestens 10 jähriger politischer Diskussion nie wirklich klar und außer Diskussion gestellt wurde, was ELGA eigentlich will. Niemand konnte sich im politischen Diskurs dazu durchringen, entweder ein Korntrollsystem für die Politik oder ein Kommunikationssystem für behandelnde Ärzte zu fordern. Stets war immer beides im Gespräch. Und so kann es nicht verwundern, dass diese 10 Jahre nicht Klärung gebracht haben sondern seit Anfang an, die gleichen Pro- und Contra-Argumente erläutert werden. Politiker aller Couleurs wechselten je nach politischer Großwetterlage zwischen Pro und Contra hin und her, ja sogar die Ärztekammer hat einfach so die Seiten gewechselt. Denn, betrachtet man die Forderungen aus dem Jahr 2006 und die heutige Par Tout- Contra-Stellung, dann ist man doch sehr desillusioniert. Schließlich wurden alle Forderungen der Kammer aus dem Jahr 2006 zur Gänze erfüllt, ohne dass es jemals zu einer Zustimmung kam.
All das deutet darauf hin, dass es seit Anfang an nicht um ELGA ging. Es ist eine Schlacht zwischen zwei (oder mehreren, denn mittlerweile sind auch die Länder aufgesprungen und Systempartner geworden) Machtblöcken, die, jeder für sich, glauben, für die Schutzbefohlenen das Beste zu wissen und das Beste zu wollen. Beide wollen die Patienten gar nicht zu Wort kommen lassen, oder ihnen die Sachlage erklären, um sie gar mitentscheiden zu lassen. Und so darf es nicht verwundern, wenn nach 10 Jahren Diskussion über 80% der Bevölkerung nicht erklären können, was ELGA ist, welche Vorteile und welche Nachteil sie hat– Und man möchte meinen, das ist auch gut so! Gott behüte! Es gilt: Alles für das Volk, nichts durch das Volk.
Aus einer sinnvollen Idee ist ein Kampf entstanden, wer den nur der „Pater“, der gütige Vater, in diesem paternalistischen System sein darf – die Ärztekammer, die Länder oder das Gesundheitsministerium. Es ist ein Kampf, bei dem es nur darum geht, die eigene Position in den Himmel des Absolutismus zu heben – und genau das ist es, was mich heute eher gegen ELGA einstellt.
1)Als Patienten mit unklare Vorgeschichte sind jene anzunehmen, die zwischen zwei Besuchen bei „ihrem Haus-Arzt“ andere Versorgungseinrichtungen aufgesucht haben, z.B. Fachärzte, Krankenhäuser etc., und der Hausarzt darüber keine, unvollständige bzw. nicht sicher vollständige oder unzuverlässige Informationen erhalten hat.