Wer im 10. Stock aus dem Fenster springt, kann auf Höhe des 3. Stocks behaupten: Es ist eh nichts passiert.
Weiterlesen: Kognitive Dissonanz und VerdrängungÜblicherweise ist die kognitive Dissonanz ein unangenehmes Gefühl, das dann auftritt, wenn das, was man erlebt, im Gegensatz zu dem steht, was man erwartet. Das kann natürlich damit zusammenhängen, dass man eine sichere Erwartung hat, die absurd ist. Wer meint, er könne einen Ball in den Weltraum schießen, sollte erkennen, dass seine Meinung schlicht falsch ist, und keine kognitive Dissonanz entwickeln beziehungsweise dieses eben dadurch lösen, dass er die Gravitation anerkennt und damit seine Erwartungen anpasst. In vielen Fällen sollten die Selbstreflexion der eigenen Meinung und die Anpassung derselben an die Realität zur Lösung beitragen können.
Anders ist es, wenn man sich mit dem österreichischen Gesundheitssystem beschäftigt. Wer sich hier mit realen Daten und Fakten beschäftigt und dann die Aussagen und Maßnahmen der Entscheidungsträger beobachtet, wird die kognitive Dissonanz nicht los.
Wenn etwa der Ärztemangel verkündet wird, obwohl wir pro Einwohner mehr Ärzte haben als jedes andere EU-Land, und die Forderung nach mehr Studienplätzen erhoben wird, auch wenn wir 60 Prozent mehr Absolventen haben als im EU-Schnitt – dann passt was nicht zusammen. Oder wenn Intensivbetten überfüllt sind, obwohl wir doppelt so viele Betten haben wie die meisten in der EU. Oder wenn Wartezeiten auf orthopädische Operationen länger sind als in Großbritannien, obwohl wir die meisten Orthopädiestationen pro Einwohner haben – dann passt was nicht zusammen. Oder wenn es keine Termine bei Kassenurologen gibt, obwohl wir doppelt so viele haben wie Deutschland. Oder wenn versprochen wird, dass im öffentlichen System alle alles auf allerhöchstem Niveau, immer und überall und kostenlos kriegen, aber Kinder unterversorgt sind – dann passt was nicht zusammen. Oder auch allgemeiner, wenn jahrzehntelang ständig davon gesprochen wird, dass wir das beste Gesundheitssystem der Welt haben, um das uns alle beneiden, aber niemand auf der Welt auch nur versucht, unsere zersplitterte Kompetenzlage nachzuahmen, ganz im Gegenteil. Oder wenn festgehalten wird, dass in unserem System die E-Card reicht und keiner die Kreditkarte braucht, obwohl wir seit vielen Jahren zu den Ländern zählen, die hohe Zuzahlungen und viele Zusatzversicherte haben – dann passt was nicht zusammen.
Jede faktenfreie Behauptung und jede faktenfreie Maßnahme, denn von denen gibt es dank politischem Aktionismus ebenfalls unendliche viele, führt bei denen, die sich mit Daten und Fakten beschäftigen, zu einer kognitiven Dissonanz.
Die Frage ist: Warum funktioniert das alles im Politikgeschäft eigentlich? Es müssten ja doch irgendwie alle diese kognitive Dissonanz spüren. Ja, eigentlich schon – wenn da nicht die Geschichtenerzähler wären, die dem, der den Ball tritt, einreden, er solle nach dem Tritt sofort die Augen schließen, und ihm dann mit der Inbrunst der Überzeugung erklären, der Ball sei tatsächlich im Weltraum gelandet. Ja, auch so lässt sich eine kognitive Dissonanz lösen – mit realitätsverweigernder Verdrängung.
„Wiener Zeitung“ vom 25.05.2023