Die kognitive Dissonanz in der Gesundheitspolitik

   Ge­sund­re­den, Aus­re­den und den Schwar­zen Peter wei­ter­schie­ben, bis man selbst an die ei­ge­ne Fik­ti­on glaubt – oder ös­ter­rei­chi­sche Ge­sund­heits­po­li­tik.

Wei­ter­le­sen: Die ko­gni­ti­ve Dis­so­nanz in der Ge­sund­heits­po­li­tik

   Vo­ri­ge Woche gab es im ORF-„Re­port“ zwei Be­rich­te zu Ge­sund­heits­sys­te­men: erst aus Ös­ter­reich, dann aus Eng­land.

   Ers­te­rer ti­tel­te „Not­fall Ge­sund­heits­sys­tem“ zwei­te­rer „Bri­ti­scher Kol­laps“. Ers­te­rer zeig­te eine lange War­te­schlan­ge vor einem Kas­sen­au­gen­arzt, zwei­te­rer eine Frau, die sich Zähne selbst zog, weil sie kei­nen Zahn­arzt­ter­min bekam. Beide zeig­ten also ir­gend­wie das Glei­che und soll­ten ei­gent­lich auch das Glei­che il­lus­trie­ren.

   Aus­ken­ner wis­sen, dass genau ge­nom­men Ers­te­res ein Bei­spiel, Zwei­te­res eine An­ek­do­te ist – aber sei’s d’rum. We­sent­lich ist eher die po­li­ti­sche Re­ak­ti­on von Ge­sund­heits­mi­nis­ter Jo­han­nes Rauch (Grüne), der zu bei­den Be­rich­ten be­fragt wurde. In Ös­ter­reich sieht er eine an­ge­spann­te Si­tua­ti­on, und wenn er es nicht schafft, alle an einen Tisch zu holen, droht, dass nicht mehr „E-Card statt Scheck­kar­te“ gilt und unser gutes Ge­sund­heits­sys­tem an die Wand fährt. Für Eng­land weiß er, dass der Kol­laps die Folge der Pri­va­ti­sie­rung sei, von der wir weit ent­fernt seien.

   Be­ein­dru­ckend, diese ko­gni­ti­ve Dis­so­nanz. Die War­te­schlan­ge hier ist weit ent­fernt von den feh­len­den Ter­mi­nen dort. Und noch mehr, die E-Card hier und die Scheck­kar­te dort macht den Un­ter­schied.

   Scheck­kar­te? Etwas, das prak­tisch kei­ner unter 50 Jah­ren kennt, wer schreibt noch Schecks aus? Aber die Ziel­grup­pe ist ja eher 65 plus. Der Sager „E-Card statt Scheck­kar­te“ ist üb­ri­gens pla­gi­iert, auch wenn das Ori­gi­nal aus den frü­hen 2010er Jah­ren mo­der­ner war und eine Kre­dit­kar­te nann­te. No­ta­be­ne wurde auch der An-die Wand-Sa­ger pla­gi­iert. Der stammt von Hans-Jörg Schel­ling, der ihn 2010 als Haupt­ver­bands­chef zur Ein­stim­mung des da­ma­li­gen „Re­form­vor­ha­bens“ in den Ring warf.

   Wie dem auch sei, wenn Scheck­kar­te für Pri­vat­aus­ga­ben steht, sind die bei uns höher als in Eng­land. Wenn also ir­gend­wo die Scheck­kar­te nö­ti­ger ist, dann eher bei uns als dort. Bei uns hat fast jeder zwei­te Er­wach­se­ne eine Pri­vat­kran­ken­ver­si­che­rung, dort nur jeder zehn­te.

   Wenn diese Aus­sa­gen nicht auf Ein­bil­dung zu­rück­ge­führt wer­den kön­nen, die das Er­geb­nis des dau­ern­den Ge­sund­re­dens, der Aus­re­dens und des Wei­ter­schie­bens des Schwar­zen Pe­ters ist, müs­sen die Aus­sa­gen als Lüge auf­ge­fasst wer­den.

   Aber auch das ist be­lang­los. Si­cher ist nur, dass es Ös­ter­reichs Ge­sund­heits­sys­tem ge­schafft hat, sich Jahr­zehn­te aus jedem Re­form­an­satz her­aus­zu­win­den. Die Folge ist eine enor­me In­ef­fek­ti­vi­tät. Denn ob­wohl wir so ziem­lich die meis­ten Arzt­kon­tak­te und Spi­tals­auf­nah­men haben, er­zeugt unser Sys­tem viel zu wenig Ge­sund­heit – was dazu führt, dass die Äl­te­ren viel mehr Me­di­zin, Pfle­ge und Be­treu­ung brau­chen als in den meis­ten an­de­ren Län­dern. Wenn jetzt die Ba­by­boo­mer in das Alter kom­men, in dem aus Weh­weh­chen Wehs wer­den, und die glei­che In­an­spruch­nah­me wie die heu­ti­gen „Alten“ brau­chen, dann wird es kra­chen.

   An­de­re Län­der be­rei­ten sich seit Jahr­zehn­ten auf diese Ent­wick­lung vor, und von dort wis­sen wir, dass es we­nigs­tens ein Jahr­zehnt braucht, bis Re­for­men grei­fen; doch das ist für die Ba­by­boo­mer dann zu spät. Also wird es wohl an­ders wer­den – mit noch mehr „nicht vor­han­de­ner“ Pri­vat­me­di­zin und noch grö­ße­rer ko­gni­ti­ver Dis­so­nanz.

„Wie­ner Zei­tung“ vom 26.01.2023