Eine merkwürdige Diskussion

In den meisten gesundheitspolitischen Themen sind wir, wenn überhaupt, auf dem Niveau der 1970er Jahre. Das wird zunehmend skurriler.

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, wird aktuell in Österreich darüber diskutiert, ob das Beveridge- oder das Bismarckmodell besser ist.

Beim Bismarckmodell geht es darum, dass Krankenkassen für die Krankenversorgung zuständig sind. Diese Kassen liegen in den Händen von sozialpartnerschaftlichen Sozialversicherungen, die sich ausschließlich aus Beiträgen finanzieren. Im Beveridgemodell sind es demokratisch legitimierte Politiker, die um die Krankenversorgung sorgen müssen und dafür Steuern verwenden.

Wer sich da nicht auskennt, soll sich nicht ärgern, da die Diskussion selbst unter Akademikern obsolet ist; und zwar deswegen, weil es international keine reinen Formen mehr gibt. Alle haben sich beim anderen was abgeschaut und es gibt nur mehr Hybride. Ernsthafte Diskussionen beschäftigen sich heute daher auch nur mit der Frage, welche Mischung wohl die vernünftigste wäre. Aber in Österreich lassen das die mächtigen Sozialpartner nicht zu, und sprechen – wissend oder, was schlimmer wäre, unwissend – weiter von der reinen Lehre!

Von einem reinen Bismarckmodell zu sprechen ist aber schon deswegen obsolet, weil die Krankenversorgung hierzulande sich ausschließlich mit der kurativen Behandlung beschäftigt und andere Bereiche längst „ausgegliedert“ wurden. So haben sich die Kassen 1976 aus der Pflege zurückgezogen, aus der stationären Versorgung 1985, aus den Spitalsambulanzen 1995, die Rehabilitation gehört der Pensionsversicherung, die Prävention Bund und Ländern.

Noch merkwürdiger wird die Argumentation der reinen Lehre, wenn man genau schaut. Denn dann kann man feststellen, dass die Kassen längst nicht mehr beitragfinanziert sind. Natürlich sind Beiträge die wichtigste Einnahmequelle, aber bei weitem nicht ausschließlich.

In Summe nahmen die Kassen 2007 12,8 Mrd. Euro ein. Davon entfielen nur 10,7 Mrd. auf Beiträge. Neben e-Card- und Rezeptgebühren u.ä. stammte mit 1,1 Mrd. Euro der Großteil der Differenz aus Steuermitteln. Doch ist das nicht alles, denn auch in den Beiträgen steckt eine ganze Menge Steuergeld. Hier waren mit 1,3 Mrd. Euro der größte Brocken die Hebesätze (eine Art steuerfinanzierter virtueller Arbeitgeberbeitrag für Pensionisten, die ja keinen Arbeitgeber mehr haben). Insgesamt stammten fast 3 Mrd. Euro der Einnahmen aus Steuern und gerade einmal 9 Mrd. Euro sind wirklich „reine Beiträge“.

Wenn man nun betrachtet, dass die öffentlichen Ausgaben in unserem Gesundheitssystem 20 Mrd. Euro ausmachen, dann ist also nicht einmal mehr die Hälfte beitragsfinanziert. Von einem „reinen Bismarckmodell“ ist längst nichts mehr übrig. Und das unsere Kassenbeiträge verglichen mit Deutschland, in dem Bismarck noch viel „sauberer“ gelebt wird, halb so hoch sind, wird damit auch verständlich.

Weil aber die Entscheidungsträger bei der reinen Lehre bleiben wollen (hauptsächlich um die eigene Macht zu erhalten), ist es unmöglich, dass zwischen dem steuerfinanzierten und dem beitragsfinanzierten Teil ein gemeinsamer Weg gefunden wird. Die damit verbundenen Schnittstellenprobleme führen zwar, neben echten Qualitätsproblemen, zu enormen Mehrkosten, aber solange diese Lücke durch Selbstbehalte gefüllt und der Mythos des besten Systems aufrecht erhalten werden kann, wird es den Mächtigen kaum nötig scheinen, über ihren Schatten zu springen und sich auf ein „neues“ System zu einigen – oder wenigstens einmal ehrlich darüber zu diskutieren.

Dieser Artikel wurde im Jänner 2009 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Gesundheitsziele

Eine zielorientierte Politik im Gesundheitswesen wäre wünschenswert – und wird es auch bleiben, da sich keiner an unerreichten Zielen stößt.

Es ist simpel. Wer etwas erreichen will, der setzt sich Ziele. Normale Menschen, die ziellos herumirren und trotzdem Vollgas geben – die Wilden auf ihren Maschinen – sind gesellschaftlich nicht gerade anerkannt.

Ziele haben den (un)angenehmen Effekt, dass man sowohl Effektvität (also den Grad der Zielerreichung) als auch Effizienz (wie viel hat es gekostet, das Ziel zu erreichen) messen kann. Im Gesundheitswesen gibt es seit längerem Gesundheitsziele. Sie sind ein international verbreitetes Instrument, um Gesundheitspolitik zielgenauer und überprüfbarer zu machen. Aber genau das dürfte – oberflächlich betrachtet – bei uns politisch nicht gewünscht sein

1989 hat Österreich mit fast allen anderen WHO-Mitgliedstaaten folgende Ziele für Diabetiker vereinbart und „versprochen“, sie bis 1994 zu erreichen: (1) Verminderung neuer diabetesbedingter Erblindungen um ein Drittel oder mehr. (2) Verringerung neu auftretenden terminalen Nierenversagens wegen Diabetes um mindestens ein Drittel. (3) Senkung der Zahl von Amputationen aufgrund diabetesbedingter Gangrän um mindestens die Hälfte. (4) Verminderung der Morbidität und Mortalität bei koronarer Herzerkrankung von Diabetikern mittels intensiver Programme zur Verringerung der Risikofaktoren. (5) Normaler Schwangerschaftsverlauf bei Frauen mit Diabetes

Das klingt doch ganz gut. Umso erstaunlicher ist, dass man hierzulande Anfang des 21. Jahrhunderts folgende Zielformulierung findet: Bis zum Jahr 2010 sollte die Häufigkeit von Diabetesfolgen, wie Amputationen, Blindheit, Nierenversagen, Schwangerschaftskomplikationen und andere Gesundheitsstörungen um 15 Prozent gegenüber dem Jahr 2000 reduziert werden.

Einmal abgesehen davon, dass die „neuen“ Ziele weit unter denen liegen, die bereits vereinbart waren, ist es doch erstaunlich, dass sich niemand daran stößt, dass fixierte Ziele nicht erreicht wurden und einfach neue aufgestellt werden. Nun, muss man zugeben, dass nicht einmal die Hälfte der WHO-Staaten ernsthafte Maßnahmen gesetzt hat, die Ziele wirklich zu erreichen. Aber es ist halt schon ärgerlich, wenn man hierzulande zum Schein so tut, als ob Ziele ernst genommen werden und dann doch einfach ignoriert.

Es gibt zwei wesentliche Gründe, warum Österreich mit „Gesundheitszielen“ Probleme hat.

Auf der einen Seite ist es der steigende Populismus. Wenn man Gesundheitsziele definiert, dann impliziert es, dass man offenbar Verbesserungen erreichen kann. Wer gerne vom besten Gesundheitssystem redet, hat damit Probleme. Zudem bedeutet das Aufstellen von real erreichbaren Zielen („allen alles auf allerhöchstem Niveau“ zu bieten, ist kein Ziel, sondern naives Wunschdenken), Priorisierungen vornehmen zu müssen. Man kann nicht alles gleichzeitig angehen! Aber eine Priorisierung wird immer Wählerstimmern kosten, weil halt nicht alle die oberste Priorität erhalten werden.

Auf der anderen Seite ist es die Verteilung der Kompetenzen. Denn wer ist verantwortlich für die Erreichung von Zielen? Solange keine klare Kompetenzverteilung – die eine echte Gesundheitsreform verlangte – existiert, wird man Ziele zwar formulieren, aber nicht erreichen können. Denn nur wenn es klare Verantwortlichkeiten (nicht nur Zuständigkeiten) gibt, kann ein zielorientierter Prozess auch zum Ziel führen.

Und so bleiben wir lieber bei dem Spiel: Vollgas (die pro Kopfausgaben sind nach Luxemburg die zweithöchsten in der EU), egal wohin!

Dieser Artikel wurde im Jänner 2009 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Turnusärzte – das neue Proletariat

An der Misere der Turnusärzte ist die Ärztekammer weder ursächlich noch alleine Schuld. Eine Klarstellung und Abbitte.

Werte p.t. Leser! Mein letztes Rezept hat einen falschen Eindruck erweckt.

Die prekäre Situation der Turnusärzte und die schlechte Ausbildung derselben sind keinesfalls nur durch die Ärztekammer verursacht. Ganz im Gegenteil bemühen sich viele Funktionäre darum, die Situation zu verbessern. Alleine, sie tun es nicht mit der Inbrunst, die sie an den Tag legen, wenn es darum geht, Kassenverträge zu „retten“.

Zudem muss erwähnt werden, dass die größte Schwäche beim Versuch die Situation zu verbessern, die Turnusärzte selbst sind. Denn statt aktiv zu sein, oder wenigstens die Bemühungen der Kammer mit Ehrlichkeit zu unterstützen, ziehen sie sich zurück. Statt Missstände anzukreiden, leben sie lieber unter den gegebenen Bedingungen und kuschen; ganz nach dem Motto – „Hauptsache ich habe eine Stelle!“ Turnusärzte sind ein trauriges Beispiel fehlender Zivilcourage.

Doch zu den Fakten. Normalerweise sollen Turnusärzte zu Hausärzten ausgebildet werden. Sieht man von den wenigen in Spitälern fix angestellten Allgemeinmedizinern (AM) ab, ist und bleibt das Berufsbild der niedergelassene Hausarzt.

Pro Jahr werden ca. 1000 AM fertig ausgebildet. Demgegenüber gibt es aber nur 4000 Hausärzte. Der jährliche „Ersatzbedarf“, demographische Veränderungen eingerechnet, beträgt nicht einmal 300. Die übrigen 700 AM müssen sich was anderes suchen. Und nur so nebenbei gibt es bereits etwa 5000 fertige AM, die keine Arbeit haben und sich mit irgendwelchen Vertretungsjobs über Wasser halten.

Weil man also einen Riesenüberschuss an AM hat (im Gegensatz zu Fachärzten, die immer größere Mangelware werden), ist es seit vielen Jahren Usus, dass man vor einer Facharztausbildung einen abgeschlossenen Turnus braucht. Das verlängert vollkommen unnötig die Ausbildungszeit (wir haben die europaweit längste!). Meist wird argumentiert, dass angehende Fachärzte mit abgeschlossenem Turnus mit mehr Eigenverantwortung einsetzbar sind – gerade so als ob Ärzte, die schneller mit der Ausbildung fertig sind, nicht einsetzbar wären! – real geht es aber nur darum, länger „billige“ Auszubildende zu haben.

Und so kommen wir zum Kern. Denn wer profitiert von dieser Situation?

Es ist ja mittlerweile Allgemeinwissen, dass wir zu viele Spitäler haben, von denen keines geschlossen werden darf. Spitäler sind an 365 Tagen pro Jahr, 24 Stunden pro Tag offen zu halten und brauchen daher eine Unmenge an Ärzten. Schon längst können sich Länder und Gemeinden diese nicht mehr leisten und haben nach „billigen“ Alternativen gesucht – und gefunden. Turnusärzte sind, gerechnet auf den Stundenlohn, billiger als Krankenschwestern, haben einen befristeten Vertrag, müssen also nicht einmal gekündigt werden, wenn man neue und billige Kräfte will, sind in Hülle und Fülle vorhanden und damit jederzeit superleicht ersetzbar und – da ja Ärzte – umfassend einsetzbar. So betrachtet, nimmt es nicht Wunder, dass Turnusärzte nur als Systemerhalter nötig sind. Ihre Ausbildung ist vollkommen egal! Und weil sie diese selbst nicht einfordern, und weil die Unterstützung durch die eigenen Standesvertretung schwach ist, werden sie zum Spielball jener Interessengruppen, die Spitäler um jeden Preis halten wollen: Länder, Gemeinden und nicht zu letzt die vielen Primarärzte, die um ihre vielleicht unnötigen Abteilungen – und den damit verbundenen einträglichen Jobs – fürchten. Alles auf Kosten der nächsten Arztgeneration!

Dieser Artikel wurde im Jänner 2009 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.